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Der Rekrut Christian Tuchel war strafweise in das Quartier des Obristen Herrn Berend Ludwig von Glaubitz, eines alten Hagestolzes, befohlen, um dort einmal gründlich die Dielen zu scheuern, während das ganze übrige Regiment dienstfrei hatte, weil es sich am nächsten Morgen zum erstenmal nach dem Dresdener Friedensschlusse vor dem König Friedrich auf dem Paradeplatz stellen sollte.
Da gab es Muße genug, noch schnell nachzusehen, ob das Unter- und Übergewehr, Patronentasche und Koppel spiegelblank geputzt seien, die blaue Montur und die Gamaschen ordentlich vom Staub gereinigt, sich auch wohl eine neue Halsbinde und ein Haarband um zwei Groschen zu kaufen, wobei man doch noch einen Groschen im Sacke behielt, um mit den Kameraden bei einem Krug Ruhiner- oder Gottwitzer-Bier niederzusitzen, zu diskurrieren, zu spielen und zu haselieren.
Nur der Rekrut Tuchel konnte an all der Lustbarkeit nicht teilnehmen. Er war der schlechteste Soldat in seiner Korporalschaft; wenn ihn der Feldweibel von ferne sah, zog er schon die Fuchtel. Und doch fehlte es ihm nicht an gutem Willen; er bemühte sich, alles vortrefflich zu machen, und es schien nur ein finsteres Verhängnis, daß er bei jedem Versuche, sich die Zufriedenheit seiner Vorgesetzten zu erwerben, neuer Strafe verfiel.
Führte er alle Gewehrgriffe haargenau nach der Vorschrift aus, daß er selbst eine Freude daran hatte, so stand gewiß der Kapitän mit der Sekundenuhr da und schrie, die Bewegungen seien viel zu langsam, oder der Feldweibel fuhr ihm mit dem Meßstab zwischen die Beine und bewies, er habe die Spanne nicht richtig genommen.
Und ließ er, wie es seine Art war, den Kopf hängen, hielt die Augen niedergeschlagen, so kam vielleicht gar der Obriste herbeigelaufen und schrie, das erste beim Exerzieren müsse sein, einem Kerl das Ansehen von einem Soldaten beizubringen, daß der Bauer herauskomme, worauf die Fuchtel gleich wieder lossprang.
Christian Tuchel aber war kein Bauer, sondern seines Zeichens ein Schneider; er stammte aus dem Westpreußischen, worauf auch sein Name – zugleich der Name eines kleinen heimatlichen Städtchens – hinwies. Die Kameraden indessen bezogen ihn auf seinen Beruf, was Anlaß zu manchen Hänseleien bot.
Christian Tuchel liebte den Soldatenstand, und er hatte sich anwerben lassen, obgleich er als Handwerksmann vom Militärdienst befreit war. Und es schien wieder seinem besonderen Mißgeschick zuzuschreiben, daß er nur gerade fünf Fuß und acht Zoll maß, weshalb er sich mit einem schlechten Handgeld von vierzig Talern genügen lassen mußte. Wäre er nur um einen kleinen Zoll höher gewesen, oder wäre es ihm, wie anderen Kameraden, in den Sinn gekommen, sich unter dem Meßstab ein Geringes zu recken, so hätte man ihm bare hundert Taler auf die Hand zählen müssen.
Aber auch so kam ihm sein neuer Reichtum überraschend genug; niemals hatte er so viel Geld beisammen gesehen. Es war nämlich dem Rekruten Christian Tuchel vorher als Schneider noch viel schlechter ergangen als jetzt in der Kompagnie; für einen armen Gesellen, der bislang nur dummen Bauern oder einem Landpfarrer das Kleid geflickt hatte und sich keineswegs auf den neuen modischen Schnitt verstand, war in Berlin nicht leicht ein Auskommen zu finden.
Auch seine Herzliebste, die Sophie, die aus der gleichen Gegend kam wie er und bei einem adeligen Fräulein als Zofe in Diensten stand, sich gar selbst wie ein Fräulein trug, mit zierlichen und feinen Manieren, hochfahrend über Gebühr, hatte von ihm nichts wissen mögen, da er noch ein Schneider war.
Doch kaum hatte er eng angepreßt die blaue Montur am Leibe, den breiten Hut vorn und hinten keck aufgeschlagen, mit Borte und Schnalle verziert, da lief sie ihm eifrig nach, mit dem übrigen Weibsvolk um die Wette. Für heute nachmittag hatte sie ihm eine Begegnung zugesagt, da sie selbst sich ihrer Dienste für kurze Zeit ledig sah – ihr Fräulein war zu Verwandten nach Küstrin gefahren –, und so mußte Christian Tuchel sein neues Ungemach doppelt schlimm empfinden. Der Musketier Pleß, mit dem er gemeinsam Quartier hatte, auch mit ihm zusammen Dinkel und Erdbirnen für die Menage einkaufte, hatte es auf sich genommen, Sophien die Absage zu überbringen.
Wehmütig und zerknirscht oblag nun der Rekrut Tuchel seiner Pflicht, rieb die Dielen blank und brachte die Kammern in Ordnung, obwohl ihm dies nicht ausdrücklich geheißen worden. Und da er warten mußte, bis seine Arbeit gehörig begutachtet, sich aber niemand von dem Unterstab noch von den Oberoffiziers blicken ließ, wiederholte er, die Zeit nützend, schnell noch auswendig ein paar Gewehrgriffe: »Pulver auf die Pfanne« oder »Links schwenket das Gewehr zur Ladung« und schließlich »Das Gewehr beim Fuß«, wozu man allein sechs Tempos brauchte, eines schwieriger auszuführen als das andre.
Und als er gerade beim sechsten hielt, mit dem rechten Fuß, so stark er nur konnte, auf den Boden stampfte, die linke Hand geschwinde hinter den Säbel warf und in Gedanken die Kolbe so fest niederstieß, daß der Boden erdröhnte, hörte er seinen Namen rufen.
Erschreckt drehte er sich auf beiden Absätzen nach der Richtung, woher der Schall kam, meinend, nun müsse gleich ein Donnerwetter über ihn niederfahren oder eine Tracht Prügel, wie dies gewöhnlich der Fall war, wenn er einem Vorgesetzten begegnete.
Aber nun vernahm er zum zweitenmal den Ruf, der vom Flur kam, und es hieß nicht etwa böse und drohend »Rekrute Tuchel!«, sondern leis und gar vertraulich »Christian!«, so daß ihm gleich das Herz aufging, denn er wußte: dies war Sophies Stimme.
Sie hatte ihm für einen Dreier Konventbier mitgebracht, stellte die Kanne auf den Küchentisch, zwei Gläser dazu, und konnte sich nicht halten vor Lachen, als sie die Bestürzung Christians sah. Der hatte noch kaum den Mut gefunden, sie zu begrüßen, in Worten nicht und auch nicht wie sonst mit einem zögernden, vorsichtigen Kuß, daß sein dünner, fadenscheiniger Schnurrbart die Lippen kitzelte, sondern stand da wie ein Klotz und stammelte nur: »Um Gottes willen, wenn der Obriste nach Hause kommt!«
Da lachte die Sophie: »Laß Er nur von der Angst, Sein Obriste ist auf Freiersfüßen, hab' ihn vom Fenster aus bei der reichen Witwe gesehen, die meinem Fräulein gegenüber logieret, der kommt nicht so bald heim. Und Sein Feldweibel sitzt im Schodtmannschen Keller,« fuhr sie gleich fort, um jedes Bedenken abzuschneiden. »Das hat der Pleß auskundschaftet.« Dabei lachte sie von neuem, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen.
So faßte Christian Vertrauen, und nun ging's an ein Herzen und Küssen, wobei auch fleißig dem Konventbier zugesprochen wurde, bis sie, hochrot beide, in der Küche beisammen saßen. Denn mit dem Frauenzimmer das Logement des Herrn Obristen zu betreten, wollte Christian nimmer wagen. Aber gerade darauf bestand die Herzliebste nun; sie wolle erfahren,« wie solch ein alter Hagestolz einquartieret sei.
Da blieb dem armen Christian nichts übrig, als sie zu führen, wenn anders er sie nicht allein die Kammern durchstöbern lassen wollte. Er entsann sich genau des Tages, da er selbst zum erstenmal diese Gemächer betreten; sie waren ihm ungeheuer groß vorgekommen, so daß er meinte, des Königs eigener Palast könne auch nicht geräumiger sein. Mit den andren Rekruten seines Regiments war er hergeführt worden, um zu den Fahnen zu schwören.
»Links und rechts schwenkt euch zum Kreise!« hatte es geheißen, und jeder Rekrut mußte die Fahne seiner Kompagnie anfassen, der Auditeur las die Kriegsartikel vor, der Prediger tat ein Gebet, darin er Gott um seine Gnade anflehte, er möge doch einen jeden Soldaten vor dem Meineid bewahren, worauf alle Rekruten zugleich die lange Schwurformel nachsprachen. Es war sehr feierlich gewesen, es freute Christian, daß er sich vor Sophien ein Ansehen geben konnte, indem er ihr solches berichtete.
Sie aber wollte gleich selbst die Fahnen in Augenschein nehmen, die zusammengerollt in einer Ecke standen. Es half kein Abmahnen und kein Bitten, schon hatte sie nach einer gegriffen, die zuvörderst stand und gerade die Fahne von Christians Kompagnie war, ließ sie aber gleich wieder mitsamt dem abgestreiften Futteral zu Boden fallen.
»Pfui, das garstige Ding,« rief sie, »wie schmutzig und durchlöchert es ist, fallen gar die Teile auseinander. Derlei Unwirtschaft sollte bei meinem Fräulein nicht geduldet sein.«
Erschrocken war Christian herzugesprungen, hatte sich zur Fahne niedergebeugt und sie vorsichtig in seinen Schoß gebettet. Ein heiliges Gefühl beschlich ihn wie in der Kirche; er gedachte seines Eides und wollte die Fahne nimmer verunglimpft sehen.
Noch von des Königs Vater kam sie her, an der Spitze sah man den Namenszug und darüber eine Krone. Im Mittelfeld aber war ein Adler abgebildet, der über Felsen und Meere hinwegfliegt, einer goldenen Sonne zu. Grüne Lorbeerzweige mit roten Früchten umrahmten der Breite nach das ganze Fahnenblatt, und dazwischen war die Devise zu lesen: Nec soli cedit!
Der Rekrut Christian Tuchel erinnerte sich der Erklärung, die der Auditeur von der Inschrift gegeben, daß Preußens Adler auch vor der Sonne nicht zurückschrecke, und wie er dann auf die vielen Schlachten hingewiesen, in denen sich die Fahne, die beste im Regiment, rühmlich hervorgetan, bei Mollwitz und Chotusitz, bei Hohenfriedberg, Soor und Kesselsdorf, oftmals gar im dichtesten Gewühl gestanden und mancherlei Verwundung von Kugel und Säbelstich erlitten, so daß ihr wohl Gefolgschaft und Reverenz gebühre.
Christian, der schlichten Gemütes war, standen bei solcher Erinnerung die Tränen in den Augen; er hob den Arm, als wollte er die Fahne vor Sophie verteidigen, die sich noch immer spottend über ihn beugte.
»Sei Er doch unbesorgt, ich will Seinem Püppchen nicht wehe tun. Hält Er nicht gar die Fahne im Arm, wie eine Wöchnerin ihr Neugeborenes? Warum achtet Er nicht besser auf Seine Fahne, Musje? Warum respektiert Er sie nicht, warum läßt Er sie in Lumpen zerfallen? Er ist doch ein Schneider.«
Das griff an die Ehre; Christian Tuchel empfand schwer den Vorwurf. Die Fahne war wirklich schlimm mitgenommen, die eine Schwinge des Adlers hing in Fetzen, von der goldenen Krone fehlte ein Stück, Fels und Meer schienen arg durcheinandergerüttelt, und der grüne Lorbeerkranz mit den roten Früchten ließ traurig die zerschlissenen Zweiglein hängen.
Der Rekrut schämte sich vor seiner Liebsten um seines Regiments willen. Daß niemand der alten Fahne acht hatte, sich ihrer annahm, ihr wieder ein ehrbares Aussehen gab! Und da keiner seine Pflicht tat, war es da nicht seine Sache, selbst einzuspringen und der Fahne aufzuhelfen? Was würde der Herr König sagen, wenn er sie morgen in so kläglichem Zustande antraf? Der Obriste ahnte gewiß nicht, welches Unheil dem Regimente drohte. Hier war eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen, das Regiment vor arger Schlappe zu behüten, nicht anders als in offener Bataille.
»Sophie,« rief Christian Tuchel, »wir müssen die Fahne nähen! Schnell, ehe der Obriste nach Hause kommt; er darf nichts merken, sonst heißt es, sie hätten alle daran gedacht, und es bleiben keine Meriten für mich übrig. Erst morgen, nach der Parade, will ich dem Feldweibel kundtun, was wir beide, Sie, Mamsell, und ich, für das Regiment geleistet haben, und da kann es dann bis zur Korporalspartisane nimmer weit sein und zum Heiratskonsens auch nicht.«
Das schien Sophie einzuleuchten. Sie faßte mit einem Male Interesse für die Fahne, fand sie durchaus nicht mehr garstig, sondern jedes Mitleids wert, ob sie auch von dem Heiligen, das den Rekruten Christian Tuchel durchströmte, nichts empfand. Alles, was ihre Heirat fördern mochte, war ihr hochwillkommen.
So trieb sie mit viel Hitze zur Ausführung des einmal gefaßten Planes, immer besorgt, Christian könnte in seiner furchtsamen Gemütsart noch im letzten Augenblick schwankend werden.
Aber der hatte schon sein altes Rüstzeug, Nadel, Zwirn und Schere, hervorgeholt, das er neben dem soldatischen noch immer bei sich trug, hockte nach Schneiderart mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden nieder und machte sich gleich ans Werk, während die Zofe, dieses lobend, jenes tadelnd, mit ihrem Rate oft dazwischenfuhr, wohl auch neugierig die silbernen Näglein betrachtete, mit denen das bunte Tuch an der Stange befestigt war, bedenkend, wie man aus ihnen gewiß zierliche Armspangen oder ein Kettlein für den Hals schmieden könnte.
Christian Tuchel aber hörte ihr Reden nicht mehr; er hielt das Fahnenblatt vor sich hin gegen das Licht und betrachtete es, wie er oftmals vorher ein schadhaftes Kleidungsstück betrachtet hatte, ob ihm wohl noch aufzuhelfen sei. Solch ein verzweifelter Fall wie dieser war ihm freilich sein Lebtag nicht untergekommen.
Daß man nur eine gute Fahne so gottsjämmerlich verderben lassen kann, dachte er. Wer den Schneider sparen will, zahlt den Apotheker.
Es war keine Zeit zu verlieren; flink hielt sich Christian Tuchel an die Arbeit, fleißig hantierte er mit Nadel und Zwirn, als ob er noch immer Gewehrgriffe übte. Jedes Mouvement war gewissenhaft in mehrere Tempos zerlegt, die ruckweise einander folgten: das Einstechen der Nadel, das Herausziehen, das Hochreißen.
Wer Sinn für das Schneiderhandwerk besaß wie für das soldatische, mußte ihn loben. Auch plagte ihn gar nicht mehr die Angst, was geschehen würde, wenn der Obriste, Herr Berend Ludwig von Glaubitz, unversehens nach Hause käme. Der konnte ihn nicht schelten, wenn er ihn bei so verdienstvoller Arbeit traf; auch der Besuch Sophiens sollte ihm wohl verziehen sein.
Aber niemand störte ihn bei der Arbeit. Das Glück war ihm günstig. Und es schien ein richtiges Kunstwerk, was Christian da zustande brachte. Die schlimmen Risse hatte er mit kleinen behutsamen Stichen so artig zusammengenäht, daß man kaum noch etwas von dem früheren Schaden merken konnte. Nur für die Flecken, die aus der Fahne herausgeschossen waren, und wo nun brandige, gezackte Löcher saßen, mußte Rat geschaffen werden.
Da wußte die Zofe Sophie schnell Hilfe. Sie zog ein Tüchlein von den Schultern, das hatte ehedem ein Vetter ihres Fräuleins aus Paris mitgebracht. Es war rot wie die Früchte im grünen Lorbeerkranz der Fahne, nur etwas dunkler. Gleich schnitt sie es selbst in Stücke, und Christian setzte die Flecken ein, daß die Fahne nun überall dort, wo vorher ein Loch gewesen, purpurn leuchtete wie von strömendem Blut. Das gab ihr ein gar kriegerisches Aussehen.
Zufrieden mit dem eigenen Werk, betrachtete der Rekrut Christian Tuchel die also genähte Fahne in der untergehenden Maiensonne. »Jetzt hält sie besser als eine neue,« sagte er, rollte sie vorsichtig zusammen und schob sie in das Futteral.
Auch Sophie war sehr glücklich, als Christian sein Werkzeug verwahrt hatte und wieder als Musketier vor ihr stand. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, die nicht mehr von dem roten Tüchlein behindert waren, und küsste ihn zärtlich wie nie zuvor. Morgen wolle sie sich rechtzeitig auf dem Paradeplatz einfinden, um gleich in der ersten Reihe unter den Zuschauern zu stehen, rief sie noch im Davoneilen. Und völlig verwandelt blieb Christian zurück; die ganze Zukunft sah jetzt rosenrot aus, wie der duftende Abend und die heimlich geborgene Fahne.
Erst von dem Poltern des Feldweibels, der im Schodtmannschen Keller über den Durst getrunken hatte und nicht eben gnädig zur Visitierung kam, wurde Christian wieder aufgeschreckt. Du magst nur fluchen und wild mit den Augen rollen, dachte er, morgen wirst du ganz anders schauen!
Die halbe Nacht konnte der Rekrut Christian Tuchel nicht Ruhe finden, schwer seufzend warf er sich hin und her, daß ihn sein Kamerad, der Musketier Pleß, der selbst das Schlafen liebte und sich nicht gern darin stören ließ, wild anfuhr: »Laß sie laufen! Kriegst für eine, die dich nicht mag, ihrer zehn!«
Er meinte nämlich, dem Christian ginge es nur um die Herzliebste. Der aber dachte gar nicht an die Zofe Sophie, sondern nur an die Fahne. Und wie er dann endlich gegen Morgen für kurze Zeit in wirre Träume versank, sah er die grünen Lorbeerzweige, die nach ihm griffen, die ihn emportrugen wie in einer Schaukel, der Sonne zu, und die ganze Welt hing voll reifer, blutroter Früchte,
Aber da rüttelte ihn schon der Musketier Pleß, der in voller Montur vor ihm stand, und rief: »Man soll dich gleich fuchteln, daß dir die Rippen krachen. Hast am Ende vergessen, daß heute Parade vor dem König ist. Die Kompagnie rangieret sich.«
Und zugleich riß er dem Christian die Decke fort, daß ihm die kühle Morgenluft in die Glieder fuhr und er sich nun flink bereitmachte, auch rechtzeitig mit dem Pleß in den Kasernenhof trat, als der Feldweibel gerade die Namen der Musketiere und Grenadiere zu verlesen begann. Die Offiziere revidierten ihre Glieder, der Kapitän ließ die Ladestöcker in den Lauf bringen, visitierte das Gewehr, ob alles rein sei und die Steine fest aufgeschraubet, worauf das Pulver ausgegeben wurde.
Zuvörderst marschierte man nun zu dem Quartier des Obristen, um die Fahne zu holen, und zwar kamen erstlich die Pfeifers, Hautbois und die Tambours mit übergehängten Trommeln, dahinter der Kapitän mit seiner Kompagnie. Der Sinn des Rekruten Christian Tuchel war ganz stumpf geworden, er schritt durch den Maienmorgen hin wie im Nebel, das Wunderbare, dessen er gewärtig war, verwirrte sein Gemüt. Da er nur fünf Fuß acht Zoll maß, hatte man ihn weit rückwärts eingeteilt, und er konnte nur mit Not den Gefreitenkorporal sehen, der in des Obristen Haus trat, bald aber wieder zurückkehrte, die zusammengerollte Fahne hochgeschultert.
Und nun stellte er sich gerade vor den dritten Zug, in dem Christian marschierte, so daß dieser endlich bebenden Herzens seine Fahne ganz nahe fühlte, sie auch nicht mehr aus den Augen ließ, während die Kompagnie mit steifem, klappendem Schritt zum Paradeplatz einbog.
Dort ritt schon der Major von Kompagnie zu Kompagnie, damit das Gewehr ordentlich bei dem Fuß genommen werde und die Kompagnien aneinander, Schulter an Schulter geschlossen, aufmarschierten. Scharf sah der Feldweibel dem Rekruten Christian Tuchel auf die Finger, damit der nicht durch ein langsames Mouvement das ganze Peloton bei der Parade bloßstelle. Aber er fand nichts auszusetzen, jeder Griff war taktsicher und akkurat.
Alles ging wie von selbst, der Körper Christians gehorchte dem Kommando, wie der Flintenhahn dem Druck des Züngleins. Seine Gedanken aber gehörten ganz der Fahne, als wäre er da festgeschraubt mit seinem Herzen für alle Zeit. Und nur einmal, als der Gefreitenkorporal seitwärts schwenkte und sein Blick ihm nachging, gewahrte er unter den vielen Menschen, die den Paradeplatz umstellten und hurra! riefen, ganz vorne die Zofe Sophie, die ihm freundlich zublinzte und so nahe stand, daß er im Vorbeimarschieren beinahe an sie anstreifte.
Aber er sah von ihr fort, gleich wieder nach der Fahne hin, und er neidete dem Gefreitenkorporal den Ruhm, daß er sie tragen durfte, ob sie auch noch zusammengerollt war, als ein schmales, lebloses Bündel.
»Das ganze Bataillon rangiere sich,« rief jetzt der Obriste, Herr Berend Ludwig von Glaubitz. Er schien noch dürrer und hagerer als sonst, und böse glänzten seine dunkelumrandeten Augen. Die Offiziere und der Unterstab traten gleich vor und machten Front, die Grenadiere und Musketiere marschierten mit einem Schritt ganz langsam, machten die Lücken zu, wo der Unterstab gestanden, und die Gefreitenkorporale rückten bis vor die Mitte der ersten Division, woselbst sie vier Schritte vom Bataillon in einem Gliede stehenblieben.
Es war ein feierlicher Augenblick, alle Kompagnien machten nun gerade Front, hielten die Köpfe und Augen nach der rechten Hand, Arm war an Arm, die Absätze schlugen dicht zusammen, die Spitzen fuhren nach auswärts, und die Feldweibel prüften mit kurzem Blick, ob auch jeder Musketier den Leib nur recht steif und gerade hielt und auch stille sei und nicht etwa schnupfte oder hustete.
Da ritt der König ein. Man hatte ihn nicht kommen sehen, er verschwand unter seinem Gefolge. Nun erst, da man ihn erkannte, gab's ein Vivatrufen ohne Ende. Niemals hatte Christian den König von Angesicht geschaut; nun erstaunte er ob dessen großer Jugend. Von den Strapazen des letzten Feldzuges war dem König nichts anzumerken, scharf blickten seine Augen, als er auf den Obristen, Herrn Berend Ludwig von Glaubitz, zuritt, der ordentlich zusammenschrak, daß man meinte, seine dürren Knochen klappern zu hören. Zuerst konversierte der König auf Französisch, dann aber fuhr er Deutsch fort, damit es alle verstünden: wohl habe er in Dresden mit der Königin von Ungarn Frieden gemacht, aber Manneszucht solle auch weiter in seinen treuen Regimentern gehalten sein, er wolle oft wiederkommen, die siegreichen Fahnen zu grüßen.
Dieser letzte Satz klang wie ein Kommando, der König retirierte um ein geringes, und der Obriste rief mit lauter Stimme: »Setzet die Fahnen über das Gehenke.«
Die Kapitäne wiederholten den Befehl. Da hoben die Gefreitenkorporale die Fahnen mit der linken Hand gerade in die Höhe, ließen die rechte Hand los, griffen mit ihr bis auf eine Spanne vom Schuh und hielten die Fahnen mit ausgestreckten Armen vom Leibe.
Dem Rekruten Christian Tuchel stand der Atem still, er tat keinen Hauch mehr, starr und gläsern war sein Blick. Da erscholl das zweite Kommando: »Die Fahnen hoch!« Nun griffen die Gefreitenkorporale mit beiden Händen zugleich die Fahnenstange und stießen hernach die Fahne in die Luft, wie die Offiziere ihr Esponton, und der Wind griff nach dem Tuche, breitete es klatschend aus, daß es vor dem Regimente rauschend hinflog wie ein großes, buntes Segel.
Die Tambours aber schlugen Marsch, einen dumpfen, dröhnenden Wirbel, der dem Rekruten Christian Tuchel durch und durch und ins Herz fuhr, so daß es eben so heftig und schnell zu schlagen begann. Und es war doch eine große Beglückung in ihm, wunderbar emporgerissen fühlte er seine Seele, ganz hingegeben, sie flog mit der Fahne, wie heute Nacht im Traum, von grünen Lorbeerzweigen wie in einer Schaukel getragen.
Barhaupt stand der Unterstab da, und alle Offiziere hatten den Hut vom Kopf genommen, wie der König selbst, daß der Wind mit seinem Haarband spielte. Und Musketiere wie Grenadiere präsentierten das Gewehr.
Als sie sich indessen nach der Vorschrift, mit einem kleinen Ruck des Kopfes, zum Gruße den Fahnen zuwendeten, war plötzlich starres Entsetzen in aller Züge geschrieben.
Auch der Rekrut Christian Tuchel fühlte den Schauer, der durch das ganze Regiment ging, und er dachte: wie stark es sie anfaßt!
Da hörte er die Stimme des Obristen, Herrn Berend Ludwig von Glaubitz, der heiser und keuchend über den Paradeplatz hinrief: »Wer hat das getan?«
Einen Augenblick zögerte der Rekrut Christian Tuchel, ob er sich wohl melden solle. Es kam seinem bescheidenen Sinn hart an, das ganze Regiment so öffentlich durch seine Tat zu beschämen, und er fühlte, daß es nicht anders ging, und daß es so hatte kommen müssen.
Festen Schrittes trat er aus der Reihe und vor den Obristen hin, nahm das Gewehr beim Fuß, das man jeden Griff genau klappen hörte. Aber beim sechsten Tempo ging er doch wieder fehl, so daß er die Contenance verlor und kein Wort hervorzubringen vermochte.
Wachsbleich und schlotternd aber fuhr der Obriste los: »Er also ist der Schandkerl, der seines Königs siegreiche Fahne ruinieret hat!«
Da ging etwas Furchtbares in dem Rekruten Christian Tuchel vor, es war ihm, als ob er mit einem Male in ein Gespinst voll schrecklicher Niedertracht blickte. Man gönnte ihm also nicht seine Tat, man mochte seine Meriten nicht anerkennen! Das wollte er ruhig hingehen lassen. Aber weshalb schmähte man überdies seine Arbeit? Das war zuviel.
»Herr Obriste,« sagte der Rekrut Christian Tuchel leise, mit stockendem Atem, »ich habe die Fahne nicht ruinieret, sie ist untadelig genäht, ein Stich sitzt sauber neben dem anderen, ich schwöre, daß sie nun besser hält als eine neue.«
»Schweig Er still,« brüllte der Obriste, »ich will ihn kontent machen. Er hat des Königs Fahne verunehrt und das ganze Regiment insultieret. Ins Loch mit ihm!«
Da erkannte der Rekrut Christian Tuchel, daß es schlimm um ihn stand. In Fetzen zerriß sein Traum, ein finsteres Schicksal, das er nicht begriff, fuhr auf ihn nieder, um ihn zu zermalmen. Wie hilfesuchend blickte er auf seinen Kapitän, der zufrieden und wohlbeleibt war und vordem zuweilen freundlich mit ihm gesprochen hatte. Doch nun wandte auch der sich von ihm wie von etwas Widerwärtigem. Und stumm und steif stand das ganze Regiment da, und der Rekrut Christian Tuchel fühlte, wie alle Kameraden ihn verachteten.
Krebsrot vor Wut aber kam der Feldweibel auf ihn zu, stieß ihn hin und her, nahm ihm das Unter- und Übergewehr und auch die Patronentasche ab, worauf er dem Profosen winkte.
Und Christian dachte: jetzt kommen die Spießruten. Einmal hatte er selbst im Karree gestanden und mit zuschlagen müssen. Das Blut war in seinen Adern geronnen. Aber nun fühlte er keinen Schrecken mehr, sondern nur eine große Müdigkeit, bis der schrille Aufschrei einer Frauenstimme ihn zurück ins Leben rief.
Da war seine Herzliebste, die Sophie, von ihrer Angst getrieben, herzugeeilt und fiel vor dem ganzen Regiment dem König zu Füßen. »Gnade,« rief sie, »Gnade!«
Der König hatte sich eben vom Gefreitenkorporal die genähte Fahne reichen lassen und sie aufmerksam betrachtet. Jetzt winkte er den Rekruten Christian Tuchel herbei, der schon mit gebundenen Händen vor ihm stand wie ein gemeiner Dieb und Verbrecher. Ganz hilflos war er, neuen Unheils gewärtig.
Aber lächelnd fragte der König: »Wo hat er denn zum Teufel nur die roten Flicken hergenommen?«
Und die Zofe Sophie antwortete, auf den Knien rutschend, an Christians Statt: »Die Flicken sind von meinem roten Tüchlein, das ein Vetter meines Fräuleins aus Paris mitgebracht hat?«
Der König unterbrach sie: »Ihr Liebster, Mamsell, ist ein gottsjämmerlicher Soldat, aber ein passabler Schneider. Ich erteile ihm Dimission. Er soll mir in die Manufaktur. Da kann er neue Fahnen nähen, daß er getrost mag die alten in Ruhe lassen!« Sophien aber warf der König ein Goldstück zu: »Für ein neues Tüchlein!« Und wieder zum Regiment gewendet, befahl er: »Man lasse die genähte Fahne nun einmal wie sie ist. Die Flicken tun ihr keine Schande an. Mag es dem Feind vergönnt sein, neue Löcher dreinzuschießen.«
So war Christian mit einem Male wieder frei und durfte Arm in Arm mit seiner Herzliebsten fortziehen. Nichts stand mehr dawider, daß sie gleich Hochzeit machten; nur daß Sophie doch keinen Soldaten, sondern einen Schneider zum Manne bekam.
Sie tröstete sich dessen mit ihrem Dukaten. Vielleicht war ihrem Herzliebsten nicht das schlechteste Teil zugefallen. Das soldatische Handwerk hatte in ihren Augen viel an Glanz und Anwert verloren, seit sie wußte, daß man da am meisten die Fahnen regardierte, die zerrissen waren.
Wehmütig aber horchte Christian nach dem Paradeplatz hin. »Das ganze Regiment linksum kehrt euch!« klang ein Kommando, und dann »Rechts und links schwenkt euch! Marsch!« In der Ferne sah er seine Kompagnie vorüberziehen, vor dem dritten Zug schritt der Gefreitenkorporal, hochgeschultert die Fahne wie ein Gewehr. Die Trommeln schlugen.