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»Deine Erzählung ist eine Art Präludium,« begann Konstantinus, als Johannes schwieg.
Und Serapion bestätigte: »In der Tat, Johannes, man brennt darauf, zu erfahren, was Filomena noch weiterhin erlebt habe. Denn es wird einem schwer, zu glauben, daß ein so munteres Wesen wirklich sein Lebtag in ein Kloster gesperrt geblieben sei.«
Maximianus indessen wehrte ab: »Ich kann mir solches wohl ausmalen, und es hat für mich etwas Beschwichtigendes, daß in der Erzählung, die uns Johannes vorgetragen hat, nicht der Lebende recht behält, sondern der Tote. Filomena hat auf ihrer kurzen Reise die Entzückungen und Traurigkeiten einer ganzen Welt zusammengedrängt gefunden: Sehnsucht, Besitz und Überdruß. Nun mag ein Leben hinter stillen Klostermauern kaum ausreichen, um all dies in eine Seele einzuordnen.«
Johannes aber erklärte: »Ihr habt die Absicht meiner kleinen Erzählung ganz richtig erfaßt, liebe Freunde, und ihr werdet dies noch besser verstehen, wenn ihr nun auch den kurzen Vorfall erfahret, auf den sie begründet ist.
Längere Zeit schon vor dem Kriege fuhr ich auf einem Dampfer von Marseille nach Korfu. Kurz vor unserer Abreise – es war spät abends – brachte man einen Sarg an Bord. Die anderen Passagiere ahnten nichts davon, denn sie hatten sich schon längst zur Ruhe begeben. Mir aber raubte das Bewußtsein, daß unter meinem Lager, tief unten im Schiffsraum, neben allerhand Gepäck, ein Toter verstaut liege, für die ganze Zeit der Überfahrt den Schlaf.
Zugleich mit dem Sarge war eine verschleierte junge Frau an Bord gekommen, eine Griechin, die – wie ich später erfuhr – den Leichnam ihres Gatten in die Heimat brachte. Ich war damals ein recht armer Teufel und hatte nur einen Schiffsplatz zweiter Klasse belegen können. So erklärt es sich, daß ich die Fremde in den zwei nächsten Tagen nicht zu sehen bekam. Am Abend des dritten Tages aber war Ball; die Schiffskapelle spielte langsame Walzer, die sehnsüchtig über dem Wasser verklangen. Ich saß auf der Treppe, die zum Promenadenweg führte, und lauschte der Musik, als ich mit einem Male die Fremde gewahrte, die abseits stand und auf das Meer hinausblickte.
Ihr Antlitz konnte ich nicht sehen, obgleich der Schleier zurückgeschlagen war, doch mich entzückte die jugendliche Anmut ihrer Bewegungen, und ich fühlte mich von einem tiefen, brüderlichen Mitleid zu der Fremden erfaßt; denn ich war damals selbst sehr einsam.
Ich gedachte des Sarges, unter dem vielen Gepäck von Kaufleuten und Vergnügungsreisenden, und während die Musik weiterspielte, war es mir, als müßte ich der armen Frau in Trauer irgend ein gutes, hilfreiches Wort sagen, ihr Abbitte leisten, daß hier eine Schar übermütiger Menschen sich der Freude hingaben, ihres Schmerzes nicht eingedenk.
Gläserklirren tönte von den Sorglosen herüber und kicherndes Lachen, das mein Ohr beleidigte. Es war mir in diesem Augenblicke, als sei mir selbst ein lieber Verwandter gestorben, während nebenan Hochzeit gefeiert würde.
Ich kroch also vollends die Treppe hinauf und trat zu der Fremden hin, so still, so demütig, als wäre ich nicht schon manches Jahr in der Welt umhergetrieben worden, sondern als hätte ich noch immer den Priesterrock getragen, der mir in meiner Jugend bestimmt gewesen ist. So weihevoll war mir zumute.
Da wendete die Fremde mir das Antlitz zu – ein junges, leuchtendes Antlitz fürwahr, doch was in seine Züge geschrieben stand, schreckte mich so sehr, daß ich es euch, liebe Freunde, nur schwer zu beschreiben vermag. Nichts von der beleidigten Trauer, die ich erwartet hatte, und von der ich mich so tief ergriffen fühlte, war in diesen Zügen zu erkennen. Die Fremde wußte nicht, daß ich den Sarg ihres Gatten hatte auf das Schiff bringen sehen, und sie selbst schien es vergessen zu haben, daß er drunten lag, wo die Wellen gegen die Planken schlugen, oder sie wollte es mich nicht ahnen lassen.
Ihr Antlitz war ganz von Lebensfreude übergossen oder mehr noch von Lebensgier. Sie schien beglückt zu sein, daß jemand zu ihr trat, der nicht zu ihrem Lebenskreis gehörte, der nichts von ihr wußte, dem sie nicht Rechenschaft schuldig war.
Ihr Ohr war der fernen Musik ganz hingegeben, dem Gläserklirren und dem girrenden Lachen. Sehnsüchtig dehnte sich ihr Körper, und sie streckte bereitwillig ihre Arme aus, als hätte ich sie zum Tanze aufgefordert.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, liebe Freunde, wie mir zumute war. Ich bin nicht Richter über die Menschen und mag froh sein, wenn ich selbst nicht gerichtet werde, denn ich habe mir Freude im Leben geholt, wo immer ich sie fand. Aber an jenem Abend fühlte ich mich, angesichts der Lockung dieser schönen und weichen Frauenarme, von Grauen geschüttelt.
Das ganze Schiff tanzte vor mir auf und nieder, der Tote unten tanzte in seinem Sarge. Ich selbst war der Tote und mußte tanzen, weil sich meine junge Frau oben, auf dem Promenadendeck, sonst einem anderen hingab. Der Teufel war Kapellmeister.
Ich weiß nicht mehr, wie ich damals die Schiffstreppe hinuntergekommen bin. Hinter mir war das Lachen der Hölle, ich sah das Antlitz einer schönen, jungen Frau, und es war verzerrt, wie das der Medusa.«
Johannes hatte diese letzten Worte noch kaum ausgesprochen, als eine Granate heulend die Luft durchpflügte und nahe der Höhle ins Erdreich schlug. Kleine Steinchen spritzten herüber. Das dumpfe Krachen der Explosion erstickte jeden anderen Laut. Die Freunde machten sich auf einen Angriff gefaßt. Doch kein weiteres Geschoß folgte. Unheimlich stille war die Nacht.
Endlich nahm Malchus das Wort. »Ich weiß nicht, ihr lieben Freunde, ob es euch vorhin so erging wie mir. Als nämlich der Luftstoß gegen meine Brust fuhr, war's mir, als hörte ich mitten in dem tosenden Geheule das schreckliche Lachen, von dem du, Johannes, uns erzähltest und das dich einst so tief beunruhigt hat. Und weiter war es mir in der angstvollen Stille, die folgte, als sähe ich Gespensterschiffe über viele Meere hingleiten. Droben wird getanzt, wie sie ehedem getanzt haben, die Sorglosen, und tief unten im Schiffsraum liegen die Toten als schnell vergessene Fracht. Geisterhaft ertönt die nämliche Musik, die vor fünf Jahren dem Verhängnis der Welt präludiert hat. Doch die Toten rühren sich; sie tauchen aus der Flut empor, wenn die Schiffe zerschellen. Die Toten behalten recht.«
So verweilten die Freunde noch lange in ernsten Gesprächen, bis der Morgen graute. Dann besahen sie den Trichter, den die Granate ins Erdreich gewühlt hatte, und verlachten Dyonisius, der in gewohnter Art jetzt erst, des Morgens, herbei kam, sehr erstaunt über die Veränderung, die sich während seines Fernseins ereignet, denn er hatte den Einschlag der Granate nicht vernommen.
Am nächsten Abend war die Reihe des Erzählens an Maximianus, der sich mit einiger Umständlichkeit zurechtrückte, ehe er begann: