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Als Kurt Ulrici an dem festgesetzten Abend die hell erleuchteten Räume des Obersts betrat und sich plötzlich von einer größeren Anzahl fremder Menschen umgeben sah, kam wieder die alte kleinmütige, mißmutige Stimmung über ihn. Der Anblick der vielen fremden Gesichter, das Schwirren und Rauschen der Kleider, das Stimmengewirr verwirrte und betäubte ihn. Er hatte sich wirklich des lebhaften, geräuschvollen gesellschaftlichen Treibens so sehr entwöhnt, daß es ihn bedrückte und ihn förmlich schwindlich machte. Statt des gesuchten Behagens empfand er eine nervöse Unruhe, eine peinliche Nervenerregung. Und wenn ihm seine Phantasie vorgegaukelt hatte, in anregendem Geplauder mit Gertrud Hammer ein paar angenehme Stunden zu verleben, so sah er sich jetzt bitter enttäuscht. Sie hatte die Honneurs des Hauses zu machen und wurde von allen Seiten in Anspruch genommen. Es entsprach aber nicht der Natur des stillen, zurückhaltenden Mannes, sich durch die Mauern von schwarzen Fräcken und blitzenden Uniformen, die die junge Dame fortwährend umgaben, hindurchzukämpfen.
Freilich Oberst Hammer nahm sich seines Gastes liebenswürdig an und machte ihn mit mehreren Herren und Damen bekannt. Aber es war für Kurt Ulrici nichts weniger als ein Vergnügen mit Menschen, die ihm fremd waren und deren nähere Bekanntschaft er nicht suchte, über allerlei gleichgültige Dinge zu sprechen. Viel lieber wäre es ihm gewesen, wenn er sich still und allein in einen Winkel hätte zurückziehen können, von dem aus er hätte verstohlen und ungestört nach der holden Erscheinung der jungen Herrin des Hauses und der Königin dieses Festes hinschauen dürfen. In ihrem duftigen indischen Mullkleide dünkte sie ihm wie ein Genius der Reinheit und Anmut. Unwillkürlich tauchte das Bild einer anderen weiblichen Erscheinung seinem Geiste auf, die einst, vor Jahren, in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatte. Nataly Böhl! Majestätischer, prächtiger, imposanter war sie gewesen, eine strahlende Schönheit, die die Bewunderung herausforderte, die aber mehr auf die Sinne wirkte als auf das Gemüt. Ja, es wollte ihm mit einmal unbegreiflich erscheinen, daß er je für das stolze, kalte Mädchen ein wärmeres Gefühl empfunden hatte.
Gertrud Hammer war keine auffallende, blendende Schönheit. Aber ihr ganzes Wesen und ihre äußere Erscheinung umfloß ein undefinierbarer Zauber von Anmut und Lieblichkeit. Wenn er in diese seelenvollen blauen Augen mit dem treuherzigen Unschuldsblick, in das rosige, grübchengeschmückte Kinderantlitz sah, dann schlug dem einsamen Mann das Herz höher, dann ergriff ihn weiche Rührung.
Die Souperstunde kam, und Kurt Ulrici erlebte eine sehr angenehme Überraschung. Der Oberst hatte ihn zum Tischnachbar seiner Tochter bestimmt. Als er ihr seinen Arm bot, um sie zu Tisch zu führen, lächelte sie ihn neckisch an.
»Nun, Herr Rechtsanwalt,« fragte sie schelmisch, »was macht Ihre Hypochondrie?«
»Ihre Nähe, gnädiges Fräulein,« antwortete er, von ihrer Munterkeit angeregt, »treibt alle bösen Launen in die Flucht.«
»Ah, Sie können auch schmeicheln und Komplimente sagen, Herr Rechtsanwalt!«
»Komplimente? Nein, das sollte es nicht sein«, gab er, ihr ernst in die Augen blickend, zurück. »Es war nur der Ausdruck einer unwillkürlichen, aufrichtigen Empfindung. Ich freue mich, Sie so strahlend von Heiterkeit und Frohsinn zu sehen.«
»Soll man nicht fröhlich sein, wenn man so viele liebe Gäste um sich sieht!«
Er seufzte vernehmlich, während sie sich setzte.
»Ihnen natürlich,« sagte sie lächelnd, ihre Stimme ein wenig dämpfend, »sind's ihrer zu viele. Habe ich recht?«
»Nur zu recht.«
Sie lachte. Aber ehe sie noch imstande gewesen, eine Antwort zu geben, wurde sie von ihrem Nachbar zur Rechten angeredet. Es war ein junger Leutnant, der sich mit süßlichem Lächeln und einer Miene, der deutlich das Bewußtsein seiner Unwiderstehlichkeit aufgeprägt war, an Gertrud Hammer wandte: »Gestatten eine Frage, gnädiges Fräulein. Ein Tänzchen nach dem Souper gehört doch zum Programm des Abends?«
»Gewiß, Herr Leutnant«, erwiderte sie freundlich. »Ohne Tanz gibt es doch nun einmal für uns junge Leute kein rechtes Vergnügen.«
Der Leutnant stimmte sogleich enthusiastisch bei:
»Gnädiges Fräulein haben ganz recht. Das Tanzen ist doch immer der Gipfelpunkt, das Höchste. Besonders wenn man eine Tänzerin hat, wie das gnädige Fräulein. Darf ich Sie um den ersten Tanz bitten, – Gnädigste?«
Bevor Gertrud Hammer annahm, zauderte sie einen kurzen Moment und warf einen schnellen Seitenblick aus ihren Nachbar zur Linken, der stirnrunzelnd, finster vor sich hinblickend dasaß. Schon die Persönlichkeit des jungen Offiziers erregte seinen Mißmut, wie er sich denn überhaupt seit jenem für sein Leben so verhängnisvoll gewordenen Zwischenfall mit Leutnant von Minkwitz bei dem bloßen Anblick einer Uniform jedesmal eines nervösen Unbehagens nicht erwehren konnte. Der junge Offizier – Kurt Ulrici hatte es wohl bemerkt – war einer der eifrigsten gewesen von denen, die die Tochter des Hauses umschwärmt und ihr mit bewundernden Blicken und galanten Phrasen gehuldigt hatten. Auch jetzt richtete er häufig das Wort an sie, und Kurt Ulrici schwieg verstimmt, obgleich seine liebenswürdige Nachbarin sich eifrig bemühte, ihn immer wieder in das Gespräch zu ziehen.
Kaum war das Souper vorüber, so ließ sich die Tanzlust der jungen Leute nicht mehr zügeln. Das große Speisezimmer wurde in überraschend kurzer Zeit mit Unterstützung der jungen Herren ausgeräumt. Eine ältere Dame setzte sich an das Piano, und der improvisierte Ball begann.
Gertrud Hammers Tänzer tanzte vorzüglich. Aber für Kurt Ulrici war es mehr eine Folter als ein Genuß, zuzusehen, wie das junge Mädchen vor Freude und Lust glühte und wie jedesmal ein Lächeln über ihre Züge flog, sooft der Leutnant ihr irgendeines seiner kecken Komplimente zuzuflüstern schien. Kaum war der Tanz beendet, als auch schon ein zweiter Tänzer vor Gertrud Hammer seine Verbeugung machte. Und dem zweiten folgte ein dritter und diesem ein vierter. Kurt Ulrici sah, wie sie mit immer strahlenderem, verklärterem Gesicht von einem Arm in den anderen flog, und ein peinliches, quälendes Gefühl regte sich in ihm. Er wunderte sich und ärgerte sich über sich selbst. Was ging es ihn an, daß Gertrud Hammer nicht anders war als die anderen jungen Mädchen, daß auch sie an diesen nichtigen Dingen ihre höchste Befriedigung fand, und daß sie den Schmeicheleien ihrer galanten Kurmacher ein freundliches, williges Ohr lieh? Ungerecht wäre es, ihr ihre Freude zu mißgönnen. Zu tadeln war nur er, daß er seinem Vorsatz ungetreu geworden, daß er sich hatte bestimmen lassen, seine Zurückgezogenheit aufzugeben. Wozu saß er hier im Winkel und machte sich zum Teilnehmer an diesem lauten, geräuschvollen Treiben, bei dem er nichts empfand, als eine seelische Verstimmung, Widerwillen und körperliches Unbehagen? Niemand würde ihn vermissen, wenn er sich heimlich aus dem Staube machte, weder der Oberst, der mit einigen älteren Herren beim Kartenspiel saß, noch Gertrud, der auch ohne ihn Tänzer und Bewunderer genug zu Gebote standen.
Schon erhob er sich, schon hatte er begonnen, sich langsam und unauffällig zum Ausgang zurückzuziehen, als Gertrud Hammers forschend umherschweifender Blick ihn traf und als sie mit unverkennbarer Hast auf ihn zutrat.
»Warum tanzen Sie denn gar nicht, Herr Rechtsanwalt?« fragte sie und sah ihn mit einer allerliebsten, liebenswürdigen Schmollmiene an. »Warum muß ich erst die Damenwahl abwarten, um mit Ihnen tanzen zu können? Ich gestatte mir, Herr Rechtsanwalt.«
Sie machte vor ihm ein neckisch tiefes Kompliment.
»Aber mein gnädiges Fräulein«, wollte er erschreckt abwehren. »Ich habe seit fünf Jahren nicht getanzt und ich befürchte –«
»Sie werden mir doch keinen Korb geben, Herr Rechtsanwalt«, unterbrach sie ihn empfindlich.
Es blieb ihm nichts übrig, als ihr die Hand zu reichen und sich mit ihr in das Gewühl der tanzenden Paare zu stürzen. Er war wirklich so sehr aus der Übung, daß er schon nach anderthalb Runden völlig außer Atem war und haltmachen mußte. Ihm war ganz schwindlich und er mußte sich neben seiner Tänzerin auf einem Stuhl niederlassen.
»Wirklich, Sie müssen sich mehr üben, Herr Rechtsanwalt«, sagte sie, wie es ihm schien, ein wenig spottend. »Nur immer munter! Ich gehe Ihnen mit gutem Beispiel voran.«
Fort war sie, einem der uniformierten schneidigen Tänzer entgegenschwebend, mit deren Ausdauer seine Tanzlust sich allerdings nicht messen konnte. Er zögerte nun nicht länger, und noch ehe der Damenwalzer sein Ende erreicht hatte, stand Kurt Ulrici, aus freier Brust aufatmend, auf der stillen, dunklen Straße.
Das Ergebnis des Abends war Kopfschmerz, Verdruß und Ärger über sich selbst und, gegen Gertrud Hammer eine leise Empfindlichkeit, die auch noch am nächsten Tage in ihm fortglimmte und um derentwillen er sich schalt und grollte, da sie ihn selbst ebenso unvernünftig wie unberechtigt dünkte.
Als zwei Wochen später eine neue Einladung von seiten des Obersten an ihn erging, diesmal zu einem Diner »in engerem Kreise«, wie von Damenhand hinzugefügt worden war, da lehnte Kurt Ulrici in einem so entschiedenen Ton ab, daß sich ein weiteres Nötigen von selbst verbot. Von da ab gingen ihm keine weiteren Einladungen zu, und bei einer gelegentlichen Begegnung aus der Straße erkannte Kurt Ulrici an der gemessenen, kühl formellen Erwiderung seines Grußes, daß sich Oberst Hammer ernstlich verletzt fühlte. Scheuer als je zog sich Kurt Ulrici von jedem Verkehr zurück und so war es kein Wunder, daß die liebliche Tochter des Obersten nicht mehr in seinen Gesichtskreis kam. Die Erinnerung an die freundliche, liebreizende Erscheinung, die so plötzlich und für eine kurze Spanne Zeit erhellend in sein düsteres Dasein getreten, lebte in ihm fort, beschäftigte seine Phantasie und erfüllte sein Herz mit einem leisen, uneingestandenen Bedauern.
Als die heiße Jahreszeit kam und mit ihr die angenehme Periode der Gerichtsferien, reiste Kurt Ulrici an die Ostsee. Heringsdorf, die »Perle der Ostsee«, war ihm während der letzten Jahre immer ein angenehmer Aufenthalt gewesen. Wohl war die Schar der Gäste, die von überallher hier zusammenströmten und zum Teil Erfrischung und Gesundheit, zum Teil nur Zerstreuung suchten, eine zahlreiche, aber es bot sich dem, der Einsamkeit und Ruhe liebte, hinreichend Gelegenheit, dem Getümmel der Zerstreuunglüsternen auszuweichen und allen unerwünschten Annäherungen aus dem Wege zu gehen. Man brauchte nur einfach ein Boot zu nehmen und auf die See hinauszurudern oder zu segeln, oder man suchte in dem unweit des Strandes zwischen Heringsdorf, Ahlbeck und Swinemünde sich hinziehenden Wald ein verstecktes, lauschiges Plätzchen, wo man mit sich und seinen Gedanken allein war.
Für Kurt Ulrici gestaltete sich das Leben auch in dem vielbesuchten Seebade, in dem kein Mangel war an interessanten Gestalten und abwechslungsreichem Treiben, nicht weniger einsam und eintönig wie daheim. Der Unterschied war nur, daß ihn dort die vier Wände seines Zimmers, hier die dichten Bäume des Waldes oder die Wogen der See von dem Verkehr mit anderen abschlössen.
Es war in der zweiten Woche seines Aufenthalts in Heringsdors, als er aus einem Spaziergang am Strande eine überraschende Begegnung hatte.
In einer der letzten Strandhütten, die am Strande zum Schutz gegen Sonne, Regen und Wind errichtet waren, erblickte er eine junge Dame, die aus der roh gezimmerten Bank saß, ein Buch vor sich aus dem primitiven Holztisch. Ihr Gesicht beschattete ein breitkrempiger Strandhut. Bei seiner Annäherung blickte die junge Dame auf; im nächsten Augenblick ertönte ein Laut der Überraschung, und mit ausgestreckter Hand und freundlich grüßendem Lächeln trat ihm Gertrud Hammer entgegen. »Das nenne ich eine Überraschung, Herr Rechtsanwalt!« sagte sie.
Es war ein wirkliches Erschrecken, das ihn im ersten Augenblick anwandelte. Aber ihre Freude war so ungeheuchelt, ihre Begrüßung so ungesucht herzlich, daß auch ihm das Herz höher zu klopfen begann.
»Also Sie zürnen mir nicht, gnädiges Fräulein?« fragte er, ihre Hand drückend.
Sie fand sogleich den neckischen, zutraulichen Ton wieder, in dem sie schon früher mit ihm verkehrt hatte.
»Ich sollte wohl«, entgegnete sie schelmisch. »Aber ich weiß ja, daß man mit Ihnen Nachsicht haben muß – Sie Menschenfeind.«
Sie nötigte ihn, neben ihr auf dir Bank Platz zu nehmen. Man kam bald in ein zwangloses Plaudern. Gertrud Hammer teilte mit, daß der Oberst in Kissingen zur Kur gewesen, und daß man Heringsdorf zur Nachkur gewählt habe.
Kurt Ulrici hing mit allen Sinnen cm ihren Lippen und an ihren Mienen. Der Ton ihrer klangvollen Stimme, der Anblick des lieblichen mehr als je von Gesundheit und Frische strahlenden Gesichts erzeugten wieder jene wohlige, behagliche Stimmung in ihm, mit der ihre Nähe ihn immer erfüllt hatte. Es war schon anregend und reizvoll, ihr stumm zuzuhören, das lebhafte Spiel ihrer ausdrucksvollen Züge zu beobachten und ihr anmutiges, frisches, zutrauliches Wesen aus sich einwirken zu lassen. Dabei keinerlei Störung, kein unerwünschtes Dazwischentreten von anderen, deren Geschwätz plump die Stimmung zerriß. Er ganz allein mit ihr auf einem kleinen, kurzen Bänkchen.
Eine Stunde verstrich wie im Fluge. Plötzlich erhob sie sich.
»Sie müssen mich zu Papa begleiten«, forderte sie ihn in ihrer munteren Weise aus. »Bitte, Herr Rechtsanwalt! Wie Papa sich freuen wird!«
Dabei blitzten ihre Augen in der Vorfreude der Überraschung, die sie dem alten Herrn bereiten würde.
Er konnte nicht gut ablehnen, und so schritten sie nebeneinander der Strandstraße zu, wo der Oberst die untere Etage einer kleinen Villa gemietet hatte.
Auch bei dem Obersten schien die Zeit den Groll, den das ungesellschaftliche Wesen seines ehemaligen Gastes in ihm erregt hatte, einigermaßen verwischt zu haben, denn auch er begrüßte den Eintretenden mit alter Herzlichkeit und seiner gewohnten jovialen Laune.
»Nun, Sie Ausreißer!« sagte er, dem Rechtsanwalt lachend die Hand schüttelnd. Und zu Gertrud gewandt: »Hast du ihn richtig wieder eingefangen?« Und nachdem er seinem Besuch liebenswürdig einen Stuhl zugeschoben hatte, fuhr er mit einem Rückfall in die frühere Empfindlichkeit fort: »Zu Ihrer Beruhigung, lieber Herr Rechtsanwalt, will ich Ihnen nur gleich mitteilen, daß wir hier niemand kennen. Es dürfte also kein Grund für Sie vorliegen, uns wie dem Beelzebub scheu aus dem Wege zu gehen oder heimlich auszureißen, wenn Sie uns wieder einmal das Vergnügen Ihres Besuches schenken.«
Aber um den Eindruck seiner satirischen Laune rasch wieder zu verwischen, präsentierte er seinem Gaste die Zigarrenkiste, liebenswürdig auffordernd: »Und nun lassen Sie uns eine Friedens- und Versöhnungszigarre miteinander rauchen! Und du, Gertrud, sorgst wohl für einen guten Tropfen, denn wir müssen doch das unverhoffte Wiedersehen auch gebührend feiern ...«