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II

Zu ungewöhnlich früher Stunde, schon zwischen neun und zehn Uhr, erhielt Kurt Ulrici am nächsten Vormittag den Besuch seiner beiden Freunde, die tags zuvor Zeugen der ihm zugefügten Beleidigung gewesen.

Regierungsassessor von Süßmilch hatte noch sorgfältiger als sonst Toilette gemacht. Ein hoher, schneeweißer Stehkragen umschloß den Hals bis zum Kinn hinauf. Sein eleganter, mit Seide gefütterter langer Gehrock, der ihm bis in die Kniekehlen reichte, war von modernstem Schnitt. In der Hand trug der Eintretende einen Chapeau claque und ein Paar neue hellgraue Handschuhe.

»n' Morgen, Ulrici«, begrüßte er den Kollegen, ihm mit feierlicher Miene die Hand drückend, das Monokel im Auge. »Komme, um mich Ihnen zur Verfügung zu stellen. Apropos, haben doch gut geschlafen, wie?«

Der Gefragte bejahte, obgleich er erst gegen Morgen eingeschlafen war und kaum zwei Stunden geruht hatte. Während er mit seinem anderen Besucher einen stummen Händedruck wechselte, fuhr der Elegant fort: »Wir haben die Sache bereits auf dem Herweg besprochen, Doktor Stamm und ich, können uns aber über ein paar wichtige Punkte nicht einigen.«

»Ich bin der Ansicht,« nahm hier der Amtsrichter Dr. Stamm das Wort, »wir fordern den Beleidiger zunächst auf, zu revozieren und eine formelle Entschuldigungserklärung abzugeben. Tut er das, so erklären Sie, Ulrici, Ihrerseits, daß Sie bedauern, Ihrem Unwillen über die Störung in so unangemessener Form Ausdruck gegeben zu haben. Und die Affäre ist damit erledigt.«

Assessor von Süßmilch bewegte mißbilligend sein Haupt, so gut es sein hoher Stehkragen erlaubte. Er legte Chapeau claque und Handschuh aus den Tisch, stemmte ein Knie aus den vor ihm stehenden Sessel, stützte sich mit beiden Händen aus die hohe Lehne und erklärte eifrig, mit dem ganzen gewichtigen Ernst, den die Angelegenheit erforderte: »Ich meine, daß bei der Schwere der Beleidigung eine solche Anfrage unangebracht ist. Wir überbringen einfach die Forderung. Nicht, Ulrici?«

Der Angeredete erwiderte nichts; er sah starr vor sich nieder; seine Brust hob und senkte sich in kurzen Zwischenräumen.

»Jedenfalls bin ich dafür,« nahm der Amtsrichter wieder das Wort, »daß wir mäßige Bedingungen wählen. Ich schlage vor, fünfundzwanzig Schritt mit festem Standpunkt und zweimaligem Kugelwechsel. Das scheint mir mehr als genügend, denn schließlich ist der Fall doch kein derartiger, daß einer von beiden auf dem Platze zu bleiben braucht.«

»Das erscheint auch mir allerdings nicht notwendig«, räumte der Kollege von der Regierung ein. »Dennoch möchte ich davor warnen, daß wir die Sache zu leicht nehmen. Gerade den Herren Offizieren gegenüber dürfen wir es an Schneidigkeit nicht fehlen lassen. Wir müssen ihnen beweisen, daß wir ein ebenso empfindliches Ehrgefühl besitzen, wie sie selbst. Und deshalb meine ich, wir fordern fünfzehn Schritt Barriere mit Vorrücken, Schießen bis zur Kampfunfähigkeit.«

Dr. Stamm machte eine heftige Bewegung des Unwillens. Seine gutmütigen, freundlichen blauen Augen blitzten zugleich.

»Das scheint mir denn doch übertrieben«, grollte er. »Wir sind doch nicht mehr aktiv. Ulrici war überhaupt nie Korpsstudent.«

»Aber er ist Reserveoffizier.« Herr von Süßmilch zog sein Bein vom Stuhl zurück, und in seinem Eifer fiel ihm das Monokel aus dem Auge. »Bedenken Sie gefälligst, was für einen massiven Ausdruck der Leutnant gebraucht hat. Unverschämter Flegel! Ich bitte Sie, das ist ja beinahe so gut wie eine Ohrfeige. Jedenfalls ist es das, was man eine verschärfte Beleidigung nennt, die immer in ernsterer Weise geahndet werden muß. Na, meinen Sie nicht, Ulrici?«

Der Gefragte atmete tief. Seine Gesichtsmuskeln vibrierten unter einer starken inneren Erregung. Jetzt verschränkte er seine Arme über der Brust, und die unruhig flackernden Augen zu dem ihm gegenüberstehenden Kollegen erhebend, erklärte er: »Sie regen sich unnütz auf, Herr Kollege. Ich gedenke den Leutnant überhaupt nicht zu fordern.«

Herr von Süßmilch fuhr einen Schritt zurück, als sei eine Bombe vor ihm eingeschlagen. Das Monokel, das er eben in sein rechtes Auge hatte stecken wollen, entglitt ihm aufs neue. Er wurde ganz blaß, während er erschreckt stotterte: »Gedenken über – überhaupt nicht zu fordern?«

Auch Dr. Stamm riß seine Augen in namenlosem Erstaunen weit aus.

Von Assessor von Süßmilch aber wich jetzt die Erstarrung, die ihn im ersten Augenblick ersaßt hatte. Er erhob seine beiden Hände beschwörend gegen den Kollegen und sagte stirnrunzelnd, mit der Miene hoher sittlicher Entrüstung: »Nein, Ulrici, mit so – so ernsten Dingen sollten Sie keinen Scherz treiben! Wirklich, das geht mir ganz und gar gegen den Strich. Das – das kann ich nicht vertragen. In Ehrensachen bin ich für unbedingten Ernst und für prompte Erledigung. Kommen wir zum Schluß! Es dürfte angemessen sein, daß wir bis zehn Uhr bei Leutnant von Minkwitz erscheinen. Also?«

»Ich fordere nicht und ich schlage mich nicht«, erklärte Ulrici mit derselben Entschiedenheit wie vorher.

Der elegante Herr von Süßmilch machte eine Bewegung der fassungslosesten Bestürzung; er sah mit einem hilflosen, fragenden Blick nach dem Amtsrichter hin, als wenn er sagen wollte: Verstehen Sie das? Begreifen Sie das?

Auch in Dr. Stamms Mienen spiegelte sich grenzenlose Verwunderung.

»Haben Sie auch Ihren Entschluß reiflich überdacht, lieber Ulrici? Haben Sie sich auch die Folgen klargemacht?« fragte er.

Kurt Ulrici sah mit einem kurzen, scheuen Blick nach den beiden Freunden hin, mit denen er seit Jahr und Tag in täglichem Verkehr stand. Er sah in des einen Mienen tiefste Entrüstung, während ihm aus des anderen ehrlichen, offenen Zügen bange Sorge, aufrichtige, warme Teilnahme entgegenstrahlte.

»Ich habe keine Wahl,« stieß er, schwer atmend hervor, »ich kann nicht anders. Ich bin der einzige Sohn, das einzige Kind meiner Mutter. Ihr Gesundheitszustand ist der zarteste, die geringste Aufregung kann sie töten.«

»Aber Ihre Frau Mutter weiß doch nicht –« wandte Herr von Süßmilch ein.

»Doch – sie weiß.«

Der Elegant schüttelte sehr mißbilligend mit dem Kopf. Dann erhob er seine beiden ineinanderverschlungenen Hände und rief mit dem Brustton tiefster Überzeugung: »Aber Sie können doch um Himmels willen die gröbliche Insulte nicht auf sich sitzenlassen! Das kann doch auch Ihre Frau Mutter nicht von Ihnen verlangen.«

»Ich werde mir auf dem gesetzlichen Wege Genugtuung verschaffen«, entgegnete Ulrici, den Blick der ihm gegenüberstehenden Kollegen vermeidend. »Ich werde den Leutnant gerichtlich belangen.«

Herr von Süßmilch ließ ein kurzes, schrilles Auflachen hören. Mit einer schnellen, ungestümen Bewegung nahm er seinen Hut und seine Handschuh vom Tisch und reckte sich zu einer straffen, steifen Haltung zusammen. Sein Gesicht nahm den Ausdruck kühler, strenger Vornehmheit an.

»Ich gestatte mir zu bemerken,« sagte er, »daß es unter Gentlemen nicht üblich ist, sich seine angegriffene Ehre vom Schiedsrichter oder vom Schöffengericht reparieren zu lassen. Das tut man höchstens, wenn ein Beleidiger nicht satisfaktionsfähig ist oder wenn er die Forderung nicht angenommen hat. Und ich bemerke Ihnen ferner, Herr Kollege Ulrici, daß Sie in diesem Falle mit Einreichung der gerichtlichen Klage das Recht zu einer Forderung ein für allemal verwirkt haben, daß Sie sich damit aus der Liste der Ehrenmänner streichen, daß Sie es jedem Gentleman unmöglich machen, mit Ihnen – eh, ferner zu verkehren und Ihnen – eh, freundschaftlich die Hand zu drücken.«

Herr von Süßmilch drehte sich heftig auf dem Absatz herum, trat an die Wand und betrachtete angelegentlich die Terrakotten, die zu beiden Seiten eines Ölgemäldes hingen und Szenen aus einem Shakespeareschen Drama darstellten.

Amtsrichter Dr. Stamm aber erfaßte die Hand des mit finster gerunzeltem Gesicht zu Boden starrenden Freundes und redete wohlwollend und eindringlich auf ihn ein: »Süßmilch hat nicht zuviel gesagt. Die Unterlassung der Forderung würde die verhängnisvollsten Folgen für Sie haben. Man verletzt nicht ungestraft die herrschenden Anschauungen des Kreises, in dem man doch zu leben gezwungen ist. Geben Sie nach, Ulrici! Tun Sie's – in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie auch vielleicht innerlich das Duell verabscheuen.« Er warf einen verstohlenen, forschenden Blick nach dem andern Kollegen von der Regierung hin und fuhr in leisem Flüsterton fort: »Ich habe ja auch nicht die bedingungslose Hochachtung vor dem Duell wie unser Kollege Süßmilch. Im Gegenteil, ich finde, es ist viel Unsinniges, Lächerliches und vielleicht Barbarisches daran. Aber der einzelne ist ohnmächtig dem Zwang des Vorurteils gegenüber. Wir leben innerhalb der Gesellschaft und müssen uns ihren Gesetzen fügen –«

»Wenn ich allein stände!« stieß Kurt Ulrici hervor. »Denken Sie, mir siedet das Blut nicht, wenn ich an die Beschimpfung denke, glauben Sie, es kostet mich keine Überwindung, auf die übliche Genugtuung zu verzichten? Aber die Pflicht gegen meine Mutter steht mir höher als die Rücksicht auf die Meinungen der Gesellschaft.«

Der Amtsrichter drückte die Hand des Sprechenden noch herzlicher als zuvor.

»Ich begreife und würdige Ihre Bedenken vollständig, lieber Freund«, entgegnete er. »Aber Ihre Frau Mutter selbst könnte Sie nicht zurückhalten, würde sie sich Ihre Lage ganz klarmachen. Sie isolieren sich, Sie verbannen sich aus dem Kreise Ihrer Freunde und Berufsgenossen.«

»Sie machen sich gesellschaftlich tot!« rief Herr von Süßmilch, wieder herumschnellend. »Sie machen sich unwürdig, den Rock des Königs zu tragen und werden unbarmherzig von der Liste der Reserveoffiziere gestrichen.«

»Geben Sie nach, lieber Freund!« redete auch Dr. Stamm wieder auf ihn ein. »Mein Gott, es wird ja nicht gleich so schlimm werden. Man knallt ein paar Löcher in die Luft, und der Ehre ist Genüge getan.«

»Und wenn mich nun mein Gegner über den Hausen schießt!« warf Kurt Ulrici bitter ein. »Halten Sie dann die mir zugefügte Beleidigung für gesühnt?«

»Es ist Ihnen unbenommen,« tröstete Herr von Süßmilch, »Ihrerseits Ihren Beleidiger niederzuknallen.«

»Freilich,« rief Kurt Ulrici mit zuckenden Lippen, »das steht mir frei – wenn ich ihn treffe. Und dann habe ich einen Mord auf dem Gewissen, dann habe ich für ein in der Hitze des Augenblicks oder vielleicht in der Trunkenheit hingeworfenes unbedachtes Wort das Henkeramt ausgeübt und ein blühendes, junges Menschenleben vernichtet. Ich weiß nicht, ob das Gefühl, eine Beleidigung unverdient erlitten zu haben, nicht doch weniger drückend und quälend sein würde als dieses Bewußtsein.«

Herr von Süßmilch zuckte mit den Achseln und schüttelte mit dem Kopf, dann stieg ihm die Röte einer hohen, heiligen Überzeugung ins Gesicht, während er eifrig entgegnete: »Darüber kommt man hinweg. Das Gefühl, nicht anders gekonnt zu haben, die heiligste Mannespflicht erfüllt, das höchste, edelste Gut, das der Mann besitzt, seine Ehre, verteidigt zu haben, würde, wenigstens bei mir, jede sentimentale Regung im Keim ersticken. Jede Fiber, jeder Blutstropfen in einem muß sich ja doch empören bei dem Gedanken, eine so gröbliche Beleidigung ruhig einstecken zu sollen. Ja, kann denn ein Ehrenmann mit einem solchen Bewußtsein überhaupt leben? Wäre da nicht der Tod tausendmal vorzuziehen? Überhaupt – eh, in einem solchen Falle da denkt und reflektiert, da disputiert man nicht lange, da handelt man einfach, wie heilige Tradition und gesellschaftliche Sitte es einem vorschreiben. Und nun noch einmal: Herr Kollege Ulrici, ich stelle mich Ihnen zur Verfügung. Beauftragen Sie mich, daß ich mit Herrn Dr. Stamm zu Leutnant von Minkwitz gehe und ihm Ihre Forderung überbringe? Ja oder nein?«

»Nein.«

Mit einem scharfen Ruck reckte sich der Regierungsassessor von Süßmilch zu seiner ganzen stattlichen Höhe empor. Wie mit Zauberschlag glätteten sich die eben noch lebhaft vibrierenden, von einer starken Empfindung durchstrahlten Züge und nahmen einen eisigen, starren Ausdruck an.

»Dann, dann erübrigt – jedes weitere Wort«, sagte er kurz, hastig. »Es ist nicht meines Amtes, Ihre – eh, Anschauungen zu korrigieren.«

Er nickte kaum merklich und wandte sich an den Amtsrichter.

»Kommen Sie mit, Doktor?«

»Gleich – ich komme gleich«, sagte dieser und trat noch einmal an Ulrici heran, während Herr von Süßmilch sich kurz umdrehte und das Zimmer verließ.

»Vielleicht – vielleicht gehen Sie noch einmal gründlich mit sich zu Rate, Ulrici!« sprach Dr. Stamm, seinen Blick mit warmem, herzlichem Mitgefühl auf den ihm Gegenüberstehenden richtend. »Ich gehe jetzt aufs Amt. Von drei bis fünf Uhr bin ich zu Hause. Sie haben bis fünf Uhr Zeit. Vergessen Sie nicht: eine Forderung muß spätestens vierundzwanzig Stunden nach der Beleidigung erfolgen. Wenn Sie sich doch noch entscheiden, ich halte mich zu Ihrer Disposition. Adieu, Ulrici!«

Er drückte ihm die Hand und ging.

Kurt Ulrici fühlte einen Moment lang den heißen Impuls in sich, den Freunden nachzueilen und sie zurückzurufen. Sollte er ihnen nicht mitteilen, daß sein Vater an einem Duell zugrunde gegangen und daß er selbst dem Sterbenden gelobt, sich nie in einen Zweikampf einzulassen? Würden sie nicht dann seinen Entschluß begreifen und würdigen?

Aber schon im nächsten Augenblick ließ er sich mit einem resignierenden Achselzucken aus den ihm zunächst stehenden Stuhl niedersinken, Dr. Stamm verstand ihn auch so und verdammte ihn nicht. Der andere aber würde nichts gelten lassen. Für ihn war das starre Prinzip der Ehre maßgebend.


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