Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII

Fünf Jahre sind vergangen. Kurt Ulrici ist ein Mann von dreiunddreißig Jahren. Bereits mischen sich graue Fäden in den dunklen Bart, der sein blasses, ernstes Gesicht umrahmt. In die Verbannung nach Mogilno ist er nicht gegangen. Er hat seinen Abschied aus dem Staatsdienst genommen und ist zur Advokatur übergetreten. Als Rechtsanwalt lebte er nun seit zwei Jahren in einer mittelgroßen Stadt in einer entfernten Provinz. Niemand kannte hier seine Vergangenheit. Freilich, das erkannte wohl jeder, der mit ihm in Berührung kam, daß es in dem Leben des ernsten, stillen Mannes irgendwelche düsteren Ereignisse gegeben haben mußte, die ihn vorzeitig Lust und Freude hatten verlernen lassen.

Rechtsanwalt Ulrici lebte einsam für sich. Von allem geselligen Verkehr zog er sich mit einer fast ängstlichen Scheu zurück. Ja, er hatte nicht einmal die üblichen Besuche in den Familien der Herren gemacht, mit denen ihn sein Beruf in fast täglichen Verkehr brachte. Man hatte über ihn die Achseln gezuckt, erstaunt, unwillig, wie über einen Sonderling, dessen Eigenheiten und Schrullen spottende Kritik herausfordert. Schließlich aber hatte man ihn ruhig gewähren lassen, ohne ihm eine aufrichtige Achtung versagen zu können. Denn in seinem Berufe konnte er geradezu als ein Muster gelten, und er nahm sich der Interessen seiner Klienten mit einem Eifer und einer Pflichttreue an, die bewies, daß er noch nicht für alle Interessen des Lebens abgestorben war.

Der Kreis derjenigen, die aus Stadt und Umgegend seinen juristischen Rat und seine Hilfe in Anspruch nahmen, vergrößerte sich stetig, und sein Ruf als gewissenhafter Rechtsanwalt, dessen Fleiß und Energie ebenso groß waren, wie seine juristischen Kenntnisse, wuchs von Tag zu Tag.

Eines Tages erhielt Ulrici während seiner geschäftlichen Sprechstunden von einem älteren Herrn Besuch, dessen straffe Haltung und bestimmtes, sicheres Austreten ihn als ehemaligen Militär legitimierten. Es war ein Oberst a.D., namens Hammer, der in einer verworrenen Erbschaftsangelegenheit seinen Beistand erbat. Es war eine ziemlich verwickelte Sache und es dauerte wohl eine volle Stunde, bis der neue Klient dem Rechtsanwalt alle einschlägigen Verhältnisse und näheren Umstände auseinandergesetzt hatte. Es handelte sich um die Mitgift seiner verstorbenen Frau, die auf dem väterlichen Gute eingetragen gewesen war. Inzwischen war das Gut in die dritte Hand gekommen, an einen Neffen des Verstorbenen. Die verlangte Auszahlung der Hypothek verweigerte der neue Besitzer unter dem Vorgeben, daß die Hypothek unkündbar sei. Nun war aber durch die Mißwirtschaft des leichtsinnigen jungen Herrn bereits eine nicht unerhebliche Entwertung des Gutes eingetreten, und es stand zu befürchten, daß bei längerem stillen Zusehen die ganze Hypothek verlorengehen würde.

»Ich habe von Ihnen das Beste gehört,« sagte der Oberst, als er sich erhob, um sich zu verabschieden, »und ich lege meine Angelegenheit vertrauensvoll in Ihre Hände. Wenn ich Sie trotzdem noch besonders bitte, meiner Sache Ihren ganzen Scharfsinn und Ihren vollen Eifer zu widmen, so tue ich das, wie gesagt, nicht aus mangelndem Vertrauen, sondern in Angst um die Zukunft meines einzigen Kindes. Ich habe eine Tochter, die einmal nach meinem Tode ohne alle Mittel dastehen würde, wenn ihr das Erbe ihrer Mutter verlorengehen sollte.«

Die Stimme des alten Offiziers klang so eindringlich und seine Augen spiegelten eine so lebhafte innere Bewegung, daß in Kurt Ulrici ein warmes Gefühl aufwallte. Aber er war seit Jahren gewöhnt, jede Gefühlsbewegung streng in sich zu verschließen, so daß er auch jetzt sich nur stumm verneigte.

Die verwickelte Angelegenheit des Obersten Hammer brachte es mit sich, daß die Herren wiederholt Besprechungen miteinander hatten. Dieselben fanden regelmäßig in Rechtsanwalt Ulricis Bureau statt. Doch eines Tages, als Kurt wieder eine Notiz an den Obersten sandte und diesen um seinen Besuch bat, wurde ihm der Bescheid, daß der Oberst leider durch einen Anfall von Ischias an sein Zimmer gefesselt sei. In der höflichsten Weise ersuchte der Oberst, falls die Sache dringlich sei, der Herr Rechtsanwalt möge doch freundlichst bei ihm vorsprechen.

Nun duldete die Auskunft, deren er bedurfte, allerdings keinen Aufschub, und Kurt Ulrici mußte sich notgedrungen zu dem Besuch bei dem Obersten entschließen, so wenig er auch private Berührungen mit seinen Klienten liebte. Es war in der siebenten Abendstunde, als er die Wohnung des Obersten Hammer betrat. Der alte Herr saß in einem bequemen breiten Lehnstuhl, unfähig, sich ohne Beistand zu erheben. Seine lebhaften Dankesworte wehrte Kurt Ulrici mit der kurzen, fast schroffen Erklärung ab, daß er nichts Besonderes tue, sondern lediglich seine Pflicht erfülle.

Darauf ging er sogleich auf den Gegenstand ein, der die Veranlassung seines Besuches war. Fast eine Stunde lang arbeitete man miteinander. Dann erhob sich Kurt Ulrici. Oberst Hammer aber protestierte lebhaft: »Nein, Herr Rechtsanwalt, so lasse ich Sie nicht wieder fort. Eine kleine Stärkung werden Sie doch nicht verschmähen nach so anstrengender Arbeit. Zunächst lassen Sie uns einmal eine Friedenszigarre miteinander rauchen!«

Er nahm eine vor ihm aus dem Tisch stehende Zigarrenkiste in die Hand und präsentierte sie dem Rechtsanwalt.

»Ich bedaure,« lehnte dieser kalt, förmlich ab, »meine Zeit erlaubt mir nicht –«

»Nun denn –« der Oberst setzte ein wenig verletzt die Kiste aus den Tisch zurück – »so gestatten Sie mir wenigstens, Sie mit meiner Tochter bekannt zu machen, die mich ausdrücklich darum gebeten hat.«

Er drückte auf eine Tischglocke, die vor ihm stand. Fräulein Hammer mußte wohl aus dieses Zeichen im Nebenzimmer gewartet haben, denn es vergingen nur ein paar Sekunden, bis sie eintrat – eine Blondine von etwa achtzehn oder neunzehn Jahren mit heiteren, lebhaften blauen Augen. Kurt Ulrici stand unschlüssig, in peinlichster Stimmung mitten im Zimmer.

»Meine Tochter Gertrud,« stellte der Oberst vor – »Herr Rechtsanwalt Ulrici.«

Die junge Dame streckte Kurt mit bezaubernder Liebenswürdigkeit ihre Hand entgegen.

»Papa hat mir erzählt,« begann sie sogleich lebhaft, – »mit wie großem Eifer und Erfolg Sie sich unserer Sache annehmen. Gestatten Sie auch mir, Ihnen meinen herzlichsten Dank zu sagen.«

Es waren Jahre her, daß Kurt Ulrici eine zarte, weiche Frauenhand in der seinen gefühlt hatte und daß eine klangvolle, schmeichelnde Frauenstimme freundliche Worte zu ihm sprach. Verwirrt, von einander widerstreitenden Gefühlen erfüllt, verbeugte er sich, nur ein gestammeltes: »Aber, mein gnädiges Fräulein« – zur Abwehr findend.

»Wollen Sie nicht Platz behalten, Herr Rechtsanwalt«, sprach sie weiter und deutete einladend auf den Stuhl, von dem Kurt Ulrici sich kurz vorher erhoben hatte.

Wie das Urbild blühender Jugend stand sie vor ihm mit ihrem frische Gesundheit und Lebensfreude widerstrahlenden Gesicht, zu dessen rosigen Teint das starke aschblonde Haar vortrefflich stand. Es war fast ein mitleidiger Blick, mit dem ihre blauen Augen zu dem ernsten, düsteren Mann aussahen, von dessen Menschenscheu und zurückgezogenem einsamen Leben sie schon längst gehört haben mochte.

Mit der ganzen Kraft seiner seelischen Verbitterung wehrte er sich gegen den Eindruck ihrer Lieblichkeit und ihrer herzgewinnenden ungekünstelten Freundlichkeit.

»Verzeihung,« entgegnete er, den Blick der bittend auf ihn gehefteten Augen vermeidend, »ich war eben im Begriff, mich zu verabschieden.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein Dienstmädchen mit einem Tablett, auf dem eine Flasche und drei Gläser standen, kam herein.

»Ein Glas Wein werden Sie doch mit uns trinken, Herr Rechtsanwalt«, lud das junge Mädchen ein, und mit ihrem bestrickenden Lächeln fügte sie hinzu: »Sie werden mir doch nicht abschlagen, mit uns auf einen glücklichen Ausgang unseres Prozesses anzustoßen.«

Kurt Ulrici hatte schon seinen Hut, den er beim Eintritt auf den Nachbartisch gelegt hatte, ergriffen. Gertrud Hammer nahm ihm die Kopfbedeckung wieder ab und legte sie an die frühere Stelle zurück.

Einem so liebenswürdigen Nötigen gegenüber wäre jede weitere Weigerung eine unmögliche Grobheit gewesen, und so setzte sich Kurt Ulrici denn noch einmal mit einem halb wohligen, halb beklemmenden Gefühl.

Eine halbe Stunde verstrich schnell und angenehm. Gertrud Hammer leitete die Unterhaltung; sie plauderte lebhaft und launig und unterbrach sich zuweilen mit einem herzlichen, fröhlichen Lachen. Es lag etwas Frisches, kindlich Harmloses und dabei etwas so ungesucht Anmutvolles in ihrem Wesen, daß es selbst aus den verdüsterten Mann, der fünf Jahre gesellschaftlich ganz einsam gelebt hatte, bezwingend wirkte. Sein in Hypochondrie und Zimmerluft blaß gewordenes Gesicht färbte sich lebhafter, seine Augen blickten klarer und sein Atem ging freier. Er fuhr fast erschrocken in die Höhe, als nun das Dienstmädchen abermals eintrat mit der Meldung: »Es ist angerichtet.«

»Darf ich Sie einladen,« fragte der Oberst, »unser frugales Abendbrot mit uns zu teilen?«

Aber Kurt Ulrici lehnte diesmal noch entschiedener ab als vorher und entschuldigte sich mit dringender Arbeit. Man drang nicht weiter in ihn und er ging in einem eigentümlichen Zustand halber Unzufriedenheit mit sich selbst und stiller, uneingestandener Behagnis.

Sein Leben war wie ein Dasein im Schatten und nun war wieder einmal ein Sonnenstrahl auf seinen Weg gefallen ... Acht Tage später führte seine Pflicht ihn abermals in die Wohnung des noch nicht genesenen Offiziers. Diesmal empfing ihn Fräulein Hammer.

»Verzeihen Sie!« sagte sie entschuldigend. »Papa wird gleich erscheinen. Er hatte heute eine so schlechte Nacht und da hat er seinen Nachmittagsschlaf etwas länger ausgedehnt als sonst.«

Kurt Ulrici sprach ein paar höfliche Worte des Bedauerns und nahm aus ihre Aufforderung ihr gegenüber Platz. Ein paar Sekunden verstrichen in beiderseitigem Stillschweigen. Das junge Mädchen schien verlegen um ein Unterhaltungsthema. Kurt Ulrici rang mit seinen Empfindungen und Stimmungen. Er hätte glauben können zu träumen, so seltsam und wunderbar kam ihm die Situation vor. Zwei, drei Schritte von ihm sah ein holdes, liebliches Geschöpf, umwoben von der Glorie der Anmut, Schönheit und jungfräulichen Reinheit, wie die Fee aus einem deutschen Märchen. Und er, der menschenfeindliche Einsiedler, der besonders die Gesellschaft der Frauen floh wie das Unglück, sollte sich jetzt der Aufgabe unterziehen, das liebreizende junge Wesen da zu unterhalten. Wovon plauderte man denn mit jungen Damen? Die Lösung dieser Frage wurde ihm wirklich schwer; er war ja seit Jahren ganz aus der Übung.

»Sind Sie schon lange in der Stadt, Herr Rechtsanwalt?« begann Gertrud Hammer endlich.

»Doch, mein gnädiges Fräulein, schon zwei Jahre.«

»Ach, und ich bin Ihnen noch nie in einer Gesellschaft begegnet.«

Seine Stirn runzelte sich unwillkürlich.

»Ich besuche nie Gesellschaften.«

»Davon hörte ich schon –« hatte es ihr unwillkürlich herausfahren wollen. Aber sie hat es noch rechtzeitig unterdrückt und entgegnete nun: »Sie sind gewiß leidend?«

»Leidend? O nein. Aber jede größere Ansammlung von Menschen verursacht mir Unbehagen.«

In ihrem Mienenspiel drückte sich lebhaftes Bedauern aus.

»Das tut mir aufrichtig leid«, erwiderte sie. »Ich finde, es ist so anregend und es gibt nichts Schöneres, als in einem Kreise angenehmer, lieber Menschen zu weilen, mit ihnen zu plaudern und sich sonst gesellschaftlich zu vergnügen. Das gehört doch sozusagen zum Leben. Ohne das kann man doch gar nicht existieren. Meinen Sie nicht auch?«

Schweigsam, in sich versunken, saß er da und blickte finster vor sich hin. Er hatte es ja nur zu oft und schmerzlich genug empfunden, wie furchtbar es war, auf den Verkehr und den Gedankenaustausch mit gebildeten Menschen zu verzichten; einsam, inmitten der Gesellschaft zu leben, nur auf sich angewiesen. Wie ein Alp hatte es auf ihm gelegen; oft geradezu unerträglich hatte ihm besonders in der ersten Zeit seine Vereinsamung erscheinen wollen. Verzweifelte, schwarze Gedanken hatten ihn umschwebt. Schwermut und eine lähmende Unlust zu leben hatten ihn gepackt, und er hatte schwer gerungen mit der Versuchung, seinem freudlosen Dasein durch ein Gewaltmittel ein Ende zu machen. Mehr als einmal war der fast unbezähmbare Drang nach Gesellschaft in ihm erwacht, eine unbändige Lust, sich unter die Fröhlichen und Heiteren zu mischen, denen das Leben eine Reihe von Freuden schien. In heißen inneren Kämpfen, allmählich, hatte er sich zu einer dumpfen, ergebungsvollen Resignation hindurchgerungen, zu der Ruhe eines Asketen, für den die Nichtigkeiten des Lebens nicht mehr existierten, der freudlos, mechanisch seine Pflicht tat und in der Arbeit den Inhalt seines Lebens fand.

Und nun kam dieses junge Mädchen und legte ihm Fragen vor, die ihn aus dem mühsam errungenen seelischen Gleichgewicht brachten und aus die er keine Antwort geben konnte, ohne sie einen Blick in seine Vergangenheit tun zu lassen.

Zum Glück trat eben Oberst Hammer, auf zwei Stöcke gestützt, ins Zimmer. Gertrud eilte ihm entgegen und geleitete ihn mit liebevoller Sorgsamkeit zu seinem Lehnstuhl. Die beiden Männer begannen sogleich zu arbeiten. Gertrud setzte sich mit einer Handarbeit etwas abseits. Kurt Ulrici berichtete und las dem Oberst aus den vor ihm liegenden Aktenstücken vor. Einmal, als seine Augen unwillkürlich die Richtung suchten, in der er die Tochter des Hauses wußte, begegnete er ihrem Blick, der mit einem eigentümlich teilnahmvollen, beinahe mitleidigen Ausdruck auf ihm ruhte.

Kurt Ulrici zog seine Augenbrauen zusammen. Warum sah sie ihn so mitleidsvoll an, als ob sie ihn bedauerte? Hatte er ihr seinen Gemütszustand verraten? Erriet sie, daß er im tiefsten Innern ein unglücklicher Mann war?

Er hatte ihren Blick fortwährend vor seinem geistigen Auge und er mußte sich energisch zusammenraffen und seine Gedanken gewaltsam auf den zwischen ihm und dem Oberst zur Verhandlung stehenden Gegenstand konzentrieren, um sich seine Zerstreutheit nicht anmerken zu lassen. Wenn er nun auch vermied, sie anzublicken, das Bewußtsein, daß sie da war, daß sie ihm mit seelischer Anteilnahme zuhörte, ihren Blick mit Interesse auf ihm verweilen ließ, verließ ihn nicht eine Sekunde lang, beschäftigte ihn und erfüllte ihn mit lange nicht empfundenem wohligen Behagen.

Diesmal brachte er es nicht über sich, ihre freundliche Einladung, an dem Abendessen der Familie teilzunehmen, abzulehnen. Ihr munteres, zwanglos natürliches Wesen wirkte wie ein Berauschungsmittel auf ihn, das sein Gedächtnis an die trübe Vergangenheit betäubte, ihn den Reiz der Gegenwart intensiver empfinden ließ, das seiner Seele Schwung und seinem Geiste Flügel verlieh. Der finstere Zug in seinem Gesicht verschwand, seine Stirn entwölkte sich und seine Augen strahlten wirkliches Interesse, während er an ihren Lippen hing. Ihr Lachen wirkte ansteckend, und auch über seine ernsten Züge, die das laute Lachen längst verlernt hatten, glitt ein paarmal der Sonnenglanz eines heiteren Lächelns. Ja, das Wunderbare geschah: er selbst fing an, lebhaft zu werden, angeregt zu plaudern und hier und da eine humoristische Bemerkung in das Gespräch zu flechten ...

Die baldige völlige Wiederherstellung des Obersts machte vorläufig weitere Besuche des Rechtsanwaltes unnötig. Inzwischen nahm der Prozeß einen günstigen Verlauf. Kurt Ulricis Ansicht und die Energie, mit der er sich der Sache gewidmet hatte, führten einen guten Ausgang herbei. Die Hypothek gelangte in fast vollem Betrage zur Auszahlung und konnte nunmehr in sicheren Werten, die der Tochter des Obersts ein ausreichendes Vermögen sicherten, angelegt werden. Oberst Hammer war außerordentlich befriedigt über dieses Resultat, das weit günstiger war, als er zu hoffen gewagt hatte, und es trieb ihn, seiner Freude einen seiner geselligen Natur entsprechenden äußeren Ausdruck zu geben, indem er seinen größeren Bekanntenkreis zu einem opulenten Souper einlud. Ganz selbstverständlich erhielt auch Rechtsanwalt Ulrici, dem sich der cholerische alte Herr zu lebhaftestem Dank verpflichtet fühlte, eine Einladung.

Kurt Ulrici ging lange mit sich zu Rate. Wenn er an die Stunden dachte, die er bereits in der gastlichen Familie verlebt hatte, dann pulsierte sein Blut lebhafter und seine Augen, die träumerisch ins Leere starrten, leuchteten sehnsuchtsvoll aus.

Aber dann kam das lähmende Bedenken. Durfte er in seiner Lage gesellschaftliche Verbindungen wieder anknüpfen? Ein Zufall konnte die Ereignisse der Vergangenheit ans Licht bringen. Sollte er sich von neuem schmerzenden Demütigungen, bitteren Erfahrungen aussetzen? War es nicht in all den Jahren sein fester Vorsatz gewesen, allen gesellschaftlichen Berührungen gerade mit den Kreisen, denen Oberst Hammer angehörte, ängstlich aus dem Wege zu gehen?

Und so schrieb er mit ein paar höflichen Zeilen ab, während ein Seufzer des Bedauerns sich aus seiner schwer atmenden Brust emporrang. Noch nie in den letzten fünf Jahren war ihm die Stille seiner Wohnung so bedrückend erschienen, hatte ihn seine Vereinsamung, sein freud- und abwechslungsloses Leben mit so quälender Unlust erfüllt, wie an diesem Abend. Unmöglich war es ihm, seine Gedanken bei der Arbeit, die er vorgenommen hatte, zusammenzuhalten. Und ebensowenig kam er mit der Lektüre vorwärts, zu der er griff, nachdem er den Federhalter ärgerlich aus der Hand gelegt hatte. Immer wieder schweifte die erregte Phantasie weit ab und aus den Blättern vor ihm tauchte ein lieblicher blonder Mädchenkops auf.

Es war am anderen Tage in der Mittagsstunde. Rechtsanwalt Ulrici befand sich aus dem Wege vom Gerichtsgebäude nach seiner Wohnung, als ihm Fräulein Hammer aus der Straße begegnete. Mit einem scheuen Gruß wollte er an ihr vorüber. Aber die junge Dame zwang ihn, indem sie vor ihm stehenblieb, ihr Rede zu stehen.

»Sie haben meinem armen Papa einen rechten Verdruß bereitet, Herr Rechtsanwalt«, sagte sie, nachdem sie ihm die Hand zum Gruß gereicht hatte.

»Doch nicht durch meine Absage, gnädiges Fräulein?«

Sie nickte.

»Dadurch – jawohl! Sie haben ihm die Freude, die er sich von dem beabsichtigten Fest versprach, gründlich verdorben. Sie, Herr Rechtsanwalt, sollten ja gerade die Hauptperson, sozusagen der Held des Abends sein.«

»Ich, mein gnädiges Fräulein?«

»Freilich, Sie! Papa hatte sich sogar schon einen kleinen Toast ausgesetzt, mit dem er Ihre Verdienste um die Familie Hammer zu feiern gedachte. Warum haben Sie denn eigentlich abgeschrieben, Herr Rechtsanwalt?«

»Weil – ? ich passe nicht in einen fröhlichen Kreis, gnädiges Fräulein. Ich sagte Ihnen ja schon, daß mir größere Gesellschaften Unbehagen bereiten.«

»Aber es sind ja doch nur unsere Freunde – lauter gute, liebenswürdige Menschen.«

Ihr naiver Eifer, ihre aufrichtige Betrübnis über seinen Entschluß schmeichelte ihm leise und tat seinem wunden, verbitterten Gemüt unendlich wohl. Sein Widerstand kostete ihn wirkliche Überwindung; mit einer humoristischen Wendung hoffte er sich aus dem Dilemma zu ziehen.

»Dann passe ich schlechter Mensch um so weniger hinein. Wirklich, mein gnädiges Fräulein, ich Brummbär tauge überhaupt nicht in die Gesellschaft froher Menschen.«

»Ja, das sind Sie«, sagte sie, ihre frischen roten Lippen schmollend aufwerfend. »Ein rechter Hypochonder sind Sie, Herr Rechtsanwalt. Man hat mir wirklich nicht zuviel gesagt, als man sie mir als menschenscheuen Sonderling schilderte.«

»Hat man das, mein gnädiges Fräulein?« warf er mit zuckenden Mundwinkeln ein.

Sie nickte und fuhr dann eifrig fort, während sie sich in Bewegung setzten, nachdem sie ihn mit einer bittenden Gebärde bedeutet hatte, sie zu begleiten.

»Wissen Sie, Herr Rechtsanwalt, was ich mir vorgenommen hatte, als ich Sie nun kennenlernte?«

Sie sah ihn mit schelmisch-lächelnden Augen an. Reizende Grübchen bildeten sich im Kinn und in den rosigen Wangen.

»Nun, mein gnädiges Fräulein?«

»Ich hatte mir vorgenommen, Sie von Ihrer Hypochondrie zu heilen, Sie mit den Menschen auszusöhnen, die doch gar nicht so schlimm sind, wie Sie vielleicht meinen. Sie können ja doch nicht immer so einsam leben. Die Welt ist ja doch so schön und die Menschen sind so gut.«

Ihre Augen leuchteten und ihr liebliches Gesichtchen strahlte von den lebhasten Empfindungen, die ihr weiches, argloses Mädchenherz bewegten.

Kurt Ulrici fühlte sich eigentümlich ergriffen. Die Bitterkeit, die ihr naiver, frommer Glaube an die Güte der Menschen in ihm erregte, wurde schnell erstickt von einer warmen Aufwallung inniger Dankbarkeit und Sympathie, welche ihn für dieses ebenso gute wie schöne Geschöpf erfüllte.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, gnädiges Fräulein«, entgegnete er herzlich. »Und ich weiß nicht, womit ich Ihre menschenfreundliche Güte verdient habe.«

»O – das wissen Sie recht gut, Herr Rechtsanwalt. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Das hat mir Papa schon mehr als einmal versichert. Und außerdem – man tut doch gern ein gutes Werk. Ein Mann, der sich so von jedem Verkehr zurückzieht und die Menschen förmlich flieht, der kann ja doch nicht glücklich sein, der muß sich doch unglücklich fühlen. Und da dachte ich mir, Sie würden wieder froher werden und glücklicher, wenn es mir gelänge, Sie mehr unter Menschen zu bringen und Ihnen gesellige Zerstreuungen zu verschaffen. Wir haben einen so netten, lieben Verkehr. Und nicht wahr, Herr Rechtsanwalt, Sie nehmen Ihre Absage zurück, Sie kommen? Und wenn Sie es nicht für sich selbst tun wollen, so tun Sie es, bitte, für Papa und für mich. Sie würden uns wirklich eine große Freude bereiten.«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er sah in die bittend zu ihm aufgeschlagenen Augen und warm stieg es ihm zum Herzen empor.

Er legte seine Hand in die ihre.

»Ich werde kommen, gnädiges Fräulein – unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Daß Sie Ihren Herrn Papa bewegen, den beabsichtigten, liebenswürdigen Toast auf meine bescheidene Persönlichkeit zu unterdrücken.«

Sie lachte.

»Gut!« erwiderte sie fröhlich. »Das verspreche ich Ihnen, wenn Sie durchaus darauf bestehen.«


 << zurück weiter >>