Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Lautlose Stille herrschte im Saal. Die Kapelle des in der Provinzial- und Regierungsstadt garnisonierenden Infanterieregiments trug das Zwischenspiel der Cavalleria Rusticana vor, die eben über alle größeren Bühnen der Welt ihren Triumphzug angetreten hatte. Das Konzert war, wie alle Sonntagnachmittags-Konzerte im Gesellschaftshaus, sehr gut besucht. Im Saal selbst, wie auf den den Saal flankierenden Galerien war kaum ein Tisch unbesetzt. In aller Mienen spiegelte sich die Wirkung der einschmeichelnden prickelnden Musik des jungen, italienischen Maestro wieder.
Ein blutjunger Leutnant, der mit anderen Kameraden an einem größeren Tisch mitten im Saal saß, legte deutliche Zeichen einer wachsenden Nervosität an den Tag. Seine stark geröteten Wangen, sowie seine im feuchten Glanz schwimmenden Augen ließen erraten, daß er beim Diner der Weinflasche sehr reichlich zugesprochen haben mochte. Jetzt schien ihm das stille Sitzen nichts weniger als behaglich. Er rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, fuhr sich mit der Hand an den engen, hohen Halskragen und pustete und keuchte, als bereite ihm die Musik mehr Beschwerden als Genuß.
»Donnerwetter, das geht einem ja durch und durch!« machte er endlich, sich zu seinem Nachbar neigend, seinen Gefühlen Luft.
Es war mit schnarrender Kommandostimme gesprochen, lauter, als der Sprechende selbst es wohl beabsichtigt haben mochte. Von den anderen Tischen reckte man ärgerlich die Hälse hinüber. Aber man begnügte sich mit unwilligen Mienen und tadelndem ärgerlichen Kopfschütteln, als man erkannt hatte, daß die Störung vom Offiziertisch ausging. Nur von dem dem Störenfried zunächststehenden Tisch wurde ein energisches, verweisendes Zischen laut.
Dem jungen Offizier schoß das Blut heiß in die ohnedies glühende Stirn. Sich mit affektiert hochmütigem Gesicht herumdrehend, rief er mit noch lauterer Stimme als vorher: »Ist denn keine Ordonnanz da, die den unverschämten Flegel zum Saal hinaus –«
Das laute Rücken des Stuhles, von dem der Beschimpfte aufgesprungen war, unterbrach den Sprechenden. Es war ein elegant gekleideter junger Mann hoch in den Zwanzig, der mit geballten Fäusten und blitzenden dunklen Augen dastand und Miene machte, sich auf seinen Beleidiger zu stürzen. Aber nun ertönten doch von allen Seiten laute Rufe nach Ruhe. Zugleich legten sich die beiden Gefährten des Beleidigten, die mit ihm am gleichen Tische saßen, ins Mittel. Sie faßten den Freund an Armen und Händen und zogen ihn halb mit Gewalt auf seinen Stuhl zurück, ihm beschwichtigend zuredend.
Das störende, nicht auf dem Programm stehende Intermezzo schien damit erledigt und das Zwischenspiel konnte zu Ende gebracht werden. In der Pause bezahlten die Offiziere und verließen insgesamt den Saal. Am Nachbartisch wurde indes der Zwischenfall kurz erörtert.
Zur Rechten des Beleidigten saß ein etwas stutzerhaft gekleideter Herr, der ein Monokel ins Auge geklemmt hatte und dessen zahlreiche Schmisse auf Wangen, Kinn und Stirn bewiesen, daß er ehemals ein eifriger Korpsstudent gewesen.
»Ich bitte Sie, lieber Ulrici,« sagte er im leichten Nasalton, »Sie konnten doch mit Leutnant von Minkwitz nicht einen plebejischen Faustkampf ausführen zum Vergnügen der Einwohner, wie der erste beste Müller oder Schulze. Dergleichen Händel trägt man doch in anderer Weise aus. Nicht wahr, Doktor?«
Der Angeredete, ein Dreißiger, mit blondem Vollbart und einer hünenhaften Gestalt, nickte stumm und bedächtig, ein wenig melancholisch.
»Es war eine Ungezogenheit«, brauste der Beleidigte auf, in dessen Nerven die Aufregung noch stark nachzitterte.
Der mit dem Monokel räusperte sich und schnitt eine Grimasse, als verursache ihm der starke Ausdruck Unbehagen.
»Eh – lieber Kollege«, entgegnete er. »Ich gebe ja zu, daß der Herr Leutnant seinen Empfindungen einen ungehörig lauten Ausdruck gab. Aber Sie hätten doch immerhin berücksichtigen sollen, daß es ein Offizier war, von dem die Störung –«
»Störung ist Störung«, unterbrach der Beleidigte scharf. »Sollte ich mich erst erkundigen, welchem Rang und Stand der Störenfried angehörte? Und hatte er als Offizier nicht mehr Veranlassung als mancher andere, sich gesittet zu benehmen?«
Der Elegant zuckte mit den Achseln.
»Wir wollen uns nicht ereifern«, meinte er und schob sein Einglas, das vorher von seinem halsbrecherischen Sitz herabgerutscht war, wieder ins Auge. »Zu ändern ist ohnedies nichts mehr. Die Affäre wird den üblichen Verlauf nehmen müssen. Selbstverständlich, lieber Ulrici, stelle ich mich Ihnen für den Ehrenhandel ganz zur Verfügung. Und jetzt meine Herren« – der Sprechende winkte den Kellner mit einer Gebärde herbei – »denke ich, brechen wir auf. Wir wollen doch diesen Spießbürgern den Spaß verderben, die unseren Tisch mit einem Interesse beehren, als wären wir die reinen Weltwunder ...«
* * *
Regierungsassessor Kurt Ulrici trennte sich von seinen beiden Begleitern sehr bald. Es verlangte ihn, mit seinen Gedanken allein zu sein. Der Vorfall hatte ihn doch mehr erregt, als er vor den anderen hatte eingestehen wollen. Der Zorn siedete ihm in allen Adern, und seine Hände ballten sich unwillkürlich, während er mit heftigen Schritten seiner Wohnung zueilte. Vor die Pistole sollte ihm der Übermütige, Unverschämte und die schärfsten Bedingungen, die der Duellkodex nur irgend erlaubte, wollte er zur Bedingung machen. Einer von ihnen beiden mußte auf dem Platze bleiben.
Seine Stirn lag noch in düsteren Falten und in seinen Mienen vibrierte noch die zornige Erregung, als er zu Hause anlangte. Er hatte die Absicht, sich sogleich auf sein Zimmer zu begeben, aber seine Mutter, die ihn hatte kommen hören, trat auf den Flur hinaus.
»Schon zurück, Kurt?« fragte sie verwundert. »Das Konzert kann doch noch nicht zu Ende sein. Ist dir was, Kurt?«
»Nichts, Mama!« wehrte der junge Mann etwas kürzer ab, als es sonst seiner Mutter gegenüber seine Art war. »Gar nichts!«
Aber gerade dieser ungewohnte Ton erregte die Aufmerksamkeit der alten Dame und machte sie besorgt.
»Willst du mir nicht ein wenig Gesellschaft leisten, Kurt?« fragte sie.
»Mama, ich – du entschuldigst –«
Aber sie hatte ihn schon an der Hand erfaßt und mit sanfter Gewalt zog sie ihn ins Zimmer. Drinnen beim hellen Lampenschein betrachtete sie ihn sorgfältig. Ihren mütterlich scharfen Augen fiel sofort seine verstörte Miene aus.
»Was ist geschehen, Kurt?« fragte sie unruhig und sah ihm ängstlich ins Auge.
Er schlug den Blick nieder und bemühte sich, ruhig und unbesorgt zu erscheinen. Ja, er versuchte sogar zu lächeln, aber es war nur eine Verzerrung der Mundwinkel, die er zustande brachte. Gerade vor seiner Mutter war er am wenigsten an Verstellung gewöhnt.
»Irgend etwas Unangenehmes ist dir widerfahren, Kurt!« rief die alte Dame. »Leugne es nicht! Ich sehe es dir an. Du willst mir etwas verheimlichen.«
»Aber Mama –«
Dem jungen Mann stieg die Röte der Verlegenheit ins Gesicht. In seiner Ratlosigkeit ergriff er die Hand der Mutter und zog sie an seine Lippen.
»Es ist nichts, Mama,« stotterte er, »nichts von Bedeutung.«
»Dann brauchst du es mir um so weniger zu verbergen, Kurt.«
Die alte Dame drückte ihren Sohn sanft auf einen der um den Tisch stehenden Fauteuils und setzte sich neben ihn. Ihr feines, blasses Gesicht mit den müden, etwas leidenden Zügen ihm voll zukehrend, drang sie in ihn.
»Erzähle, Kurt! Was ist vorgefallen?«
Der junge Mann wand sich förmlich unter den forschenden Blicken seiner Mutter. Im stillen verwünschte er seinen Einfall, nach Hause zu gehen. Er hätte im Freien bleiben sollen, einen langen Spaziergang machen, bis er die Wirkung des Erlebten wenigstens äußerlich völlig überwunden hatte. Jetzt gärte die Aufregung noch so stark in ihm, daß sie ihm jeder leicht vom Gesicht ablesen konnte. Wie sollte er es seiner Mutter verbergen, die die hingebendste Mutterliebe hellseherisch machte, die in dem langen Zusammenleben gelernt hatte, jede seiner Mienen zu deuten?
»Ich habe Ärger gehabt, Mama«, gestand er gepreßten Tones.
»Ärger?«
Noch einmal versuchte er auszuweichen.
»Ach, Mama, wirklich, es ist nichts, was dich interessieren könnte.«
Aber das kam so wenig herzhaft heraus, daß die Unruhe der alten Dame nur noch wuchs. Sie neigte sich zu ihm hinüber und legte ihm ihre beiden Hände auf die Schultern.
»Du sprichst nicht die Wahrheit, Kurt!« sagte sie mit sanftem Vorwurf. »Gerade dein langes Zögern beweist mir, daß es nichts Unwichtiges sein kann, was du mir so geflissentlich zu verheimlichen suchst. Hast du kein Vertrauen mehr zu deiner Mutter?«
»Ich – ich hatte einen Streit, einen kleinen Wortwechsel –«
»Mit deinem Kollegen von Süßmilch?«
Kurt Ulrici konnte ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken, so unbehaglich ihm auch sonst zumute war.
»Kann man denn mit dem überhaupt in Streit geraten, Mama? Mit dem korrekten Herrn von Süßmilch? Das halte ich geradezu für eine Unmöglichkeit.«
»Also mit wem, Kurt?«
»Mit Leutnant von Minkwitz.«
»Leutnant von Minkwitz? Den kenne ich nicht.«
»Er ist erst seit kurzem beim Regiment. Ganz frisch vom Kadettenkorps.«
Geringschätzung und wieder heftig emporlodernder Zorn zuckten um des Sprechenden Lippen.
»Der junge Herr, der etwas benebelt schien, störte das Konzert«, fuhr er fort. »Ich verwies ihn zur Ruhe. Und er« – Kurt Ulrici biß die Zähne aufeinander, daß ein knirschender Ton durchs Zimmer drang.
»Und er, Kurt?«
Die alte Dame schlang den einen Arm um ihres Sohnes Schulter und erwartete in angstvoller Spannung seine Antwort.
»Er, Mama, er hatte die Keckheit, ein Schmähwort gegen mich auszustoßen.«
»Und nun?«
»Nun? Hoffentlich wird er mich um Entschuldigung bitten, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen haben wird.«
Die alte Dame atmete schwer.
»Und wenn er das nicht tut, Kurt?«
»Dann,« – der Assessor biß sich auf die Lippen – »dann werde ich ihm eben einen Denkzettel erteilen müssen.«
Der Arm der alten Dame löste sich plötzlich; erbleichend sank sie in ihren Sessel zurück. In ihren Augen und in ihren Mienen malte sich eine so ungestüme, schmerzliche Gemütsbewegung, daß der Assessor heftig erschrak und sich liebevoll über sie beugte.
»Aber Mama«, sagte er stammelnd, zerknirscht.
Sie schlang ihren Arm um seinen Hals und drückte in konvulsivischer Zärtlichkeit ihre Wange gegen die seine. Dann sagte sie flüsternd, ihren Mund ganz dicht an seinem Ohr: »Du darfst dich nicht duellieren, Kurt. Weißt du nicht mehr, was du deinem Vater auf seinem Sterbebette gelobt hast?«
Kurt Ulrici fuhr so jäh in die Höhe, daß seine Mutter ihn notgedrungen freigeben mußte und in ihren Sessel zurücktaumelte.
Er hatte die Empfindung, als ginge ein Riß durch seine Seele, als sei plötzlich ein Blitz vor ihm eingeschlagen. Daß er auch noch nicht mit einem Gedanken daran gedacht hatte! Ja, jetzt flammte die Erinnerung in ihm auf. Zehn Jahre waren es her. Er – Kurt – war noch Gymnasiast gewesen, als ihn eines Tages ein Telegramm von der Kreisstadt nach dem väterlichen Gute rief. Sein Vater war immer ein ernster, wortkarger Mann gewesen; in den letzten Jahren hatte sich seine Verschlossenheit bis zur Schwermut und zum Trübsinn gesteigert, und wer weiß, wohin den Unglücklichen die schwere Gemütsverstimmung, an der er litt, noch geführt haben würde, wäre nicht plötzlich eine Katastrophe dazwischengekommen. Als Kurt zu Hause anlangte – die Szene stand jetzt wieder ganz deutlich vor seinen geistigen Augen – lag sein Vater bereits im Sterben. Ein Sturz mit dem Pferde, so sagte man ihm, habe den Vater tödlich verletzt. Mit seiner letzten Kraft hatte sich der Sterbende an ihn, den Sohn, der erschüttert vor dem Bette seines Vaters niedergekniet war, gewandt. »Schwöre mir,« hatte der Sterbende mit erlöschender, röchelnder Stimme gesagt, »schwöre mir, daß du dich nie – nie duellieren wirst, gleichviel was einmal an dich herantritt. Das Duell ist die unsinnigste, ruchloseste Einrichtung.« »Ich schwöre es«, hatte er mechanisch wiederholt, verwirrt, benommen von dem Traurigen, das so plötzlich auf ihn eindrang, in völliger Unkenntnis der Tragweite seines Schwurs. Das war das letzte Gespräch mit seinem Vater gewesen. Wenige Minuten später hatte der Unglückliche seine Seele ausgehaucht ...
Der Assessor fuhr heftig erschreckend aus seinem Grübeln aus. Was war das? Seine Mutter hatte plötzlich angefangen zu lachen. Es war ein grelles, überlautes, gellendes Lachen. Den jungen Mann überrieselte es kalt und heiß.
»Mama!« rief er angstvoll und beugte sich über sie.
Sie lachte in einem fort, krampfhaft, mit verzerrten Mienen, unfähig, dem widernatürlichen Reiz zu widerstehen. Und nun plötzlich schlug das Lachen in ein schluchzendes, konvulsivisches Weinen um, das ebenso heftig und ungestüm war und der Leidenden bald den Atem benahm.
Kurt Ulrici nahm den Oberkörper seiner Mutter sanft in seine Arme und lehnte ihren Kopf gegen seine Brust und streichelte ihr die bleichen Wangen. Endlich ließ der furchtbare Anfall nach.
Der Assessor ließ seine Mutter behutsam in den Sessel zurückgleiten, eilte zur Tür und rief nach dem Dienstmädchen.
»Schnell zum Arzt!« rief er ihr zu.
Dem jungen Mann waren diese Lach- und Weinkrämpfe seiner Mutter zwar nichts Ungewohntes, aber jedesmal ängstigten und erschütterten sie ihn aufs tiefste. Kurz nach dem Tode des Vaters waren sie zum erstenmal aufgetreten, und bei jeder heftigen Gemütsbewegung kehrten sie wieder. Kurt hatte es deshalb von früher Jugend an für eine seiner heiligsten Pflichten gehalten, jede Erregung, jeden Schmerz von seiner Mutter fernzuhalten. Seit anderthalb Jahren hatte sie keinen Anfall mehr gehabt, und er hatte sich schon mit der frohen Hoffnung getragen, daß die Teure für immer von diesen qualvollen Zuständen verschont bleiben würde. Und nun war dieser letzte Anfall stärker und heftiger ausgetreten als je ein früherer. Die Leidende lag ganz apathisch in ihrem Sessel. Ihr Atem ging mühsam, die Augen waren geschlossen, ein schmerzliches Zucken flog hin und wieder über das blasse, feine, bereits von tiefen Linien durchzogene Gesicht.
Zum Glück ließ der Arzt nicht lange auf sich warten. Er flößte der Kranken von den beruhigenden Tropfen ein, die er mitgebracht hatte. Darauf ordnete er an, daß die Leidende sich sogleich zur Ruhe begäbe und daß jede Störung und Erregung aufs strengste von ihr ferngehalten werde. Bevor er ging, nahm er den Regierungsassessor mit sehr ernstem Gesicht beiseite.
»Ich halte es für meine Pflicht,« sagte er, »Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Frau Mutter noch mehrere solcher Anfälle nicht mehr aushalten würde. Ihr ganzer Organismus wird durch jeden solchen Anfall immer für längere Zeit erschüttert. Ihr Nervensystem ist ohnedies nicht im normalen Zustande und ihre Körperkräfte lassen viel zu wünschen übrig. Kurz, die sorgfältigste Pflege und Schonung tut dringend not, wenn Sie sich Ihre Mutter noch ein paar Jahre erhalten wollen.«
Kurt Ulrici stöhnte. In einem Zustande halber Betäubung trat er an das Bett der Leidenden. Mit halbgeschlossenen Augen lag sie da, schwach atmend, ein Bild völliger Erschöpfung. Als sie ihn erblickte, winkte sie ihm mit den Augen, sich zu ihr hinabzubeugen.
»Bleibe bei mir!« flüsterte sie ihm ins Ohr. In ihren Blicken zitterte namenlose Angst.
Er drückte ihr erschüttert die Hand und lächelte ihr besänftigend zu. Da fiel ihm ein, daß er zugesagt hatte, den Abend in der Familie des Bruders seiner Braut zu verleben. Er richtete sich in die Höhe.
»Wohin willst du?« fragte die Kranke sogleich angstvoll und griff nach seiner Hand.
Er gab ihr eine beruhigende Erklärung. Nachdem er draußen dem Dienstmädchen den Auftrag erteilt hatte, ihn bei seinem Schwager und bei seiner Braut wegen der Erkrankung seiner Mutter zu entschuldigen, kehrte er in das Schlafzimmer zurück.
Die Kranke bedeutete ihn, sich an ihr Bett zu setzen. Er gehorchte. Ihre Finger zuckten unruhig auf der Bettdecke herum. Ihre Blicke irrten ruhelos im Zimmer hin und her, von einem Gegenstand zum anderen und verweilten dann wieder forschend aus ihm. Kurt Ulrici beugte sich liebevoll über seine Mutter, faßte ihre Hände und drückte sie schmeichelnd, beruhigend in den seinen.
»Willst du nicht versuchen, ein wenig zu schlafen?« fragte er sanft.
Sie schüttelte lebhaft mit dem Kopf.
»Willst du mir ein Versprechen geben, Kurt?« flüsterte sie.
Er sah sie fragend an.
»Willst du mir versprechen,« fuhr sie fort, »den Leutnant, der dich heute beleidigt hat, nicht zu fordern?«
Er zuckte zusammen, biß sich aus die Lippen und sah schweigend zu Boden.
»Nun, Kurt?«
»Mama,« stöhnte er, ihrem Blick ausweichend, »sprechen wir doch jetzt nicht davon! Ich bitte dich, rege dich doch wegen der dummen Geschichte nicht aus!«
Sie seufzte; dann richtete sie ihren Kopf ein wenig in die Höhe. Schweigend blickte sie ihren Sohn eine Weile an, wehmütig, schmerzlich ergriffen, mit einem schweren Entschluß ringend, wie jemand, den die zwingende Notwendigkeit treibt, einer geliebten Person einen großen Schmerz zuzufügen.
»Weißt du, woran dein Vater gestorben ist?« fragte sie plötzlich.
Der Assessor starrte die Fragende in namenlosem Erstaunen an.
»Ich denke, Mama,« stammelte er, »er fand seinen Tod infolge eines Unglücksfalls.«
Sie machte eine verneinende Bewegung.
»Das war eine fromme Lüge,« erklärte sie, »die ich gebrauchte, um dein Gefühl zu schonen. Nur wenige kennen die schreckliche Wahrheit. Es gelang mir damals, sie vor dir zu verbergen. Heute muß ich sie dir enthüllen. Dein Vater starb von eigener Hand.«
Der Assessor sprang entsetzt in die Höhe und griff sich mit beiden Händen an die Stirn. Seine Blicke spiegelten Angst und Zweifel, als fürchte er, daß seine Mutter irre gesprochen.
»Dein Vater tötete sich selbst«, fuhr die Kranke im Flüsterton fort. »Er wurde das Opfer eines Duells.«
»Eines amerikanischen Duells, Mama?«
»Nein, eines Duells, in dem er der Fordernde gewesen, und in dem er seinen besten, liebsten Freund getötet hatte. Die jungen Leute hatten, vom Wein und Spiel erhitzt, einen Wortwechsel gehabt. Der Freund deines Vaters ließ sich zu einem ehrenrührigen Schimpfwort hinreißen. Eine ruhige Aussprache zwischen den beiden Freunden am nächsten Tage hätte den Zwischenfall wahrscheinlich in gütlicher Weise erledigt. Das aber verbot der Ehrenkodex. Die geschäftigen Zwischenträger erklärten, daß die Beleidigung nicht anders als durch Blut gesühnt werden könnte. Dein Vater mußte seinem Freunde mit der Pistole gegenübertreten. Seine Kugel traf den anderen vor die Stirn. Die schöne junge Braut des Gefallenen ging ein paar Wochen später anstatt vor den Traualtar in das Irrenhaus. Dein Vater aber verfiel in Trübsinn und Schwermut. Du weißt nicht, wie furchtbar er gelitten, bis die Kugel, die er sich selbst ins Herz schoß, seiner Reue und seinen entsetzlichen Seelenqualen ein Ende machte. So! Nun weißt du, warum dein Vater das Versprechen von dir forderte, dich nie duellieren zu wollen.«
Die Kranke sank erschöpft in ihre Kissen zurück. Kurt Ulrici schlug erschüttert die Hände vor sein Gesicht.
»Willst du mir Ruhe und Schlaf geben, Kurt?« klang die Stimme seiner Mutter wieder.
»Mama!«
Kurt Ulrici ließ seine Hände vom Gesicht sinken und sah mit einem überströmenden Blick aus die Kranke.
»Willst du mir versprechen,« sprach diese weiter, »daß du den Leutnant nicht fordern wirst?«
Sie tastete nach seiner Hand und blickte ihn beschwörend, flehend ins Auge.
»Ich ver?spreche es dir, Mama«, stotterte der Assessor und stöhnte aus tiefster Brust.