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VII.
Witwenjahre

Das Leben Charlottens, das noch einundzwanzig Jahre das Schillers überdauert hat, ist nun zunächst ganz der Erziehung der Kinder gewidmet gewesen. Die besten Lehrer, die sie erlangen konnte, gab sie ihnen zum Unterrichte, darunter auch den Professor Abeken, dessen nachherige Frau, ein Fräulein von Wurmb, uns die schönen Gespräche Schillers, die Karoline von Wolzogen berichtet, aufbewahrt hat. Alles was an Bildungsmomenten zugänglich war, hat sie den Kindern erschlossen, aber sie legte, ihrer eigenen Natur entsprechend, das größte Gewicht auf ruhiges, behagliches Ausreifen. Die beiden Söhne haben nicht des Vaters geniale Veranlagung geerbt, sind aber intelligente und in ihrem Berufskreise äußerst tüchtige Menschen geworden. Karl ist, dem Beispiele beider Großväter folgend, Forstmann geworden. Er hat, aus bisher nicht aufgeklärten Gründen, im weimarischen Staatsdienst keine Anstellung gefunden, so sehr Charlotte gehofft hatte, ihn in der Nähe zu behalten; darum ist er in den Dienst des Heimatlandes seines Vaters getreten, dessen Fürst an ihm wieder gut zu machen suchte, was einst Karl Eugen an dem Vater gesündigt hatte. An verschiedenen Orten hat er in angesehenen Forstämtern gestanden, darunter auch einmal in Lorch, wo einst sein Vater als Knabe glückliche Jahre verlebt hatte. König Wilhelm I. von Württemberg hat ihm Ehrungen erwiesen, die nicht bloß dem großen Namen galten; er erhob ihn in den erblichen Freiherrnstand. Im Jahre 1857 ist er in Stuttgart gestorben. Der zweite Sohn Ernst trat, nach Erledigung der juristischen Studien in Heidelberg, auf Anraten und Befürwortung von Schillers intimem Freund Wilhelm von Humboldt in den preußischen Justizdienst. Als Rat am Kölner Appellationsgericht hat er lange Jahre dem Staate ausgezeichnete Dienste erwiesen. Er starb in Vilich bei Bonn im Jahre 1841. Von den beiden Töchtern ist Karoline längere Zeit im Unterricht tätig gewesen, zunächst im Dienste des Herzogs von Württemberg in Karlsruhe in Schlesien, dann in der alten Heimat Rudolstadt an der Spitze einer vortrefflichen Lehranstalt für Mädchen. Sie hat sich noch spät, beinahe vierzig Jahre alt, mit einem Bergrat Junot verheiratet und ist nach achtjähriger Ehe verwitwet. Sie starb 1850 in Würzburg. Die jüngste Tochter Emilie ist vielleicht von allen Kindern das geistig bedeutendste gewesen. Sie glich dem Vater im Angesicht, im Wesen und sogar in der Handschrift. Sechsundzwanzigjährig reichte sie dem Sohne von Charlottens intimer Freundin Friderike von Holleben, die sich mit einem Herrn von Gleichen verheiratet hatte, die Hand und hat mit ihm in langer glücklicher Ehe gelebt, zumeist auf dem Schlosse Greifenstein ob Bonnland in Franken. Emilie hat mit besonderer Pietät das Gedächtnis beider Eltern gepflegt, und wie sie in ihrem Hause eine Fülle von Andenken, Briefen und Manuskripten des Vaters sammelte, so hat sie auch sehr viel dafür getan, daß der Nachwelt das Bild Charlottens lebendig blieb. Sie veranlaßte die Herausgabe des Briefwechsels zwischen den Eltern; wir haben schon oben auf dies köstliche Buch: »Schiller und Lotte« aufmerksam gemacht, das seitdem in neuer vollständiger Bearbeitung öfters aufgelegt worden ist und wie kein anderes die beiden Menschen dem Leser persönlich nahe rückt. Emilie hat sodann auch das andre schöne Buch: »Charlotte von Schiller und ihre Freunde« (3 Bde. Stuttgart, Cotta 1860, 1862, 1865) veranlaßt, dessen wissenschaftliche Bearbeitung Professor Urlichs in Würzburg besorgte. Emilie ist 1872 gestorben; ihr im Jahre 1902 auch dahingegangener Sohn Ludwig von Gleichen-Rußwurm, der bekannte weimarische Maler, hat die Überlieferungen der Mutter treu bewahrt und alle Schillerforschung in Deutschland großherzig gefördert. Jetzt lebt noch sein Sohn, der Urenkel Schillers, Alexander Schiller von Gleichen-Rußwurm.

Von dieser Seite, von der Entwicklung der Kinder aus gesehen, ist das Schicksal Charlottens durchaus freundlich gewesen. Sie hat das stets dankbar anerkannt, bescheiden dabei ihre offenbaren Verdienste um ihre Erziehung in den Hintergrund rückend und oft betonend, daß den Kindern durch des Vaters Namen so viel Gutes zuteil geworden sei. Da sie selbst nicht an Weimar gebunden war und die Mittel, je länger sie lebte, desto reichlicher flossen, hat sie weite Reisen gemacht, um die Söhne zu besuchen. Sie war in Süddeutschland bei Karl, sah in Stuttgart viele von Schillers ehemaligen Freunden und Verwandten wieder, die sie auf den Händen trugen, erfreute sich empfänglichen Sinnes an den großen Naturschönheiten des schwäbischen Landes, stand sinnenden Herzens wieder vor dem Rheinfall bei Schaffhausen, den sie einst als junges Mädchen bewundert hatte, und gab ihren zahlreichen Freunden und Freundinnen in der Heimat reizvolle Berichte über alles was sie Schönes noch mit alternden Augen sehen durfte.

Standen die Söhne und Töchter naturgemäß im Vordergrunde ihres Interesses, so nahmen doch auch ihre Freunde einen breiten Teil davon ein. Das Leben hatte sie mit vielen bedeutenden Menschen zusammengebracht; und mit einer großen Zahl von ihnen blieb sie in dauerndem regem Briefwechsel innerlich verbunden, sei es durch lange Gemeinsamkeit des Lebens oder durch Verwandtschaft der Weltanschauung. Das obengenannte Buch von Urlichs enthält einen erheblichen Teil der Briefe, die sie geschrieben und die man ihr geschrieben hat. Aber daneben existieren noch in besonderen Bänden andre Briefwechsel, die Urlichs nicht zugänglich gewesen sind. Alle Freunde ihres Mannes, Körners, Cotta, die dänischen Herrschaften, die Schwestern Schillers, die Männer, die einst als junge Leute an dem Jenaischen Mittagstisch teilgenommen oder im Hause Schillers verkehrt hatten, die schwäbischen Freunde, wie von Hoven und Dannecker, Frau von Kalb, Frau von Stein, Wilhelm von Humboldt und seine Frau Karoline von Dacheröden, dazu die Mitglieder des herzoglichen Hauses, alle blieben sie mit Charlotte in brieflichen Beziehungen. Am umfangreichsten und wohl auch innerlich am bedeutendsten sind die Briefwechsel, die sie geführt hat mit Herrn von Knebel, mit Fritz von Stein, mit Fischenich und mit der Prinzessin Karoline von Sachsen-Weimar, die sich mit dem Erbgroßherzog von Mecklenburg- Schwerin verheiratete. Der uns verfügbare Raum reicht lange nicht, um eine auch nur einigermaßen vollständige Würdigung dieser in jeder Hinsicht bedeutenden Briefe zu geben. Doch mag wenigstens einiges hervorgehoben werden.

Zwei Erscheinungen sind charakteristisch für Charlotte. Das eine ist die lebendige Teilnahme an allem, was sie umgab, die mit zunehmendem Alter fast noch reger ward. Diese Teilnahme wendet sich sowohl den Menschen zu als auch den Ereignissen und Dingen, die sich im weiteren Verlauf ihres Lebens vollzogen. Das andere aber ist, daß sie trotz dieser Teilnahme in der Beurteilung von Menschen und Dingen doch nicht mitgeht, daß sie die Maßstäbe der Dinge nicht aus ihnen selbst nimmt, sondern die einmal gewonnene Weltanschauung und deren Maßstäbe auch an das Neue legt. Diese Maßstäbe sind die der eigentlich klassischen Zeit. Sie hatte das Große und Hohe in der Weltanschauung Goethes und Schillers sozusagen selbst mit erlebt, hatte, als unmittelbare Augenzeugin, unter deren Einfluß gestanden, und so mochte ihr, was da kam, insbesondere Leute wie Schlegel u. a., wohl dürftig vorkommen. So liegt über ihren Briefen, wenn sie die Gegenwart beurteilt, die Wehmut einer Rückschau in leuchtendere Zeiten gebreitet. Aber es darf nicht verkannt werden, daß die Zeiten, die Charlotte nach Schillers Tode durchmachte, auch Gründe für solche Beurteilung in sich trugen.

Die furchtbaren Wirren der Franzosenkriege, die Erlebnisse, die Charlotte persönlich mit den Franzosen in Weimar hatte und die sie uns in einem Briefe an Fischenich sehr lebendig erzählt, waren nicht dazu angetan, ihre Ansicht der Gegenwart freudig zu gestalten. Nicht nur die Franzosen, für die sie früher, wie Schiller selbst, wohl viel Sympathie gehabt hatte, wurden ihr verhaßt durch ihre Überhebung und durch das Rohe, das, trotz einiger ritterlicher Züge, ihrem kriegerischen Wesen anhaftete, sondern sie tat auch Blicke in unliebsame Seiten des deutschen Nationalcharakters, der seine Schwächen bekanntlich in der Franzosenzeit ebenso deutlich enthüllt hat als seine Stärken.

Charlotte hatte ein stark vaterländisch-deutsches Gefühl, wie Schiller auch. Aber jener Patriotismus war weit entfernt und stark unterschieden von dem heutigen. Wir sind gleich den übrigen europäischen Völkern, ob es nun Slawen oder Romanen oder Angelsachsen sein mögen, zum Chauvinismus geneigt. »Deutschland in der Welt voran!« Und so rufen die andern Völker von ihrem Lande. Das war nicht die Meinung in unsrer klassischen Zeit. Jedes Volk vielmehr sollte in sich die möglichst vollkommene Menschlichkeit darstellen, so dachten Lessing, Goethe, Herder und so war auch die Meinung, die Schiller in seinem bekannten Entwurf ausgedrückt hat, wenn er auch hier dem deutschen Volke eine besonders hohe Sendung, eine besonders starke Fähigkeit zu Darstellung der Menschlichkeit zugesprochen hat. Um das Menschliche zur reinen Erscheinung zu bringen, so meint Charlotte, muß die Nation sich nach den eigenen Anlagen, nach dem eigenen Wesen entwickeln können. Und darum ist ihr die Abschüttelung der Fremdherrschaft, zunächst Napoleons, dann aber auch der Vorherrschaft des Fremden im geistigen Leben ein jauchzend bewillkommnetes Ereignis. »Was die Deutschen werden, kann man noch nicht aussprechen, doch ist das gewonnen, dünkt mich,« schreibt sie einmal an Knebel, »daß man den Einfluß der fremden Nationen nicht mehr gelten lassen möchte und sich fühlt als selbstwollend.«

Darum ist ihr liebstes Anliegen eine allgemeine organische Hebung der Kultur. Sie ist sich bewußt, daß sie als Frau und als Einzelwesen nicht viel dazu beitragen kann, aber das Wenige, was in ihrer Kraft steht, will sie tun. In allererster Linie erscheint ihr die Erziehung als Mittel dazu, und auch um dieser Rücksicht willen hat sie ihre Kinder mit aufopfernder Sorgfalt erzogen. Um so schmerzlicher aber sind ihr die Anzeichen, daß die Kultur, trotz allen Fortschrittes, noch auf tiefer Stufe steht, und ganz besonders peinlich empfindet sie mehr als einmal, daß die regierenden Kreise so wenig tun, um die Gesittung zu heben. Einmal schreibt sie an Knebel von der eben in Weimar erfolgten Hinrichtung eines Verbrechers: »Doch habe ich den Gedanken einer Execution auch ertragen lernen, und den folgenden Tag war ich sogar froh darüber, als ich die Geschichte des bösen Menschen erfuhr. Wenn einem auch die Individuen nicht wehthun, so ist doch die Nothwendigkeit solcher Strafen, die an die Mängel der Natur, der Gesellschaft so lebendig mahnen, das traurigste Gefühl. Wenn man denkt, daß die Staaten durch Weisheit, durch Sorgfalt alle Verbrechen verhüten könnten, und es kann die größte Roheit neben der höchsten Feinheit bestehen, so ist es nicht le meilleur des mondes possibles! Wir wollen doch immer auf das Beste hinzielen und es entschwindet immer!«

Oft kehrt in den Briefen der goethische Gedanke wieder, man müsse sich selbst dahin bringen, daß man die Welt »rein« genieße, daß man eine »reine« Anschauung der Dinge gewinne, d. h. ohne die durch den Augenblick in der Seele vielleicht entstehenden oder vorhandenen Trübungen. Sie ringt um diese Fähigkeit. Manchmal überkommt sie, besonders gegenüber der Natur selbst, der Schmerz, daß sie so weit von diesem Ziele entfernt sei: »Wie sind mit unsrer beschränkten Natur gar nicht fähig, wie wir sollten, dieses Alles zu genießen. Entweder trübt der Schmerz über das Schicksal unsern Sinn oder die Leidenschaften. Ein mit Blüten überdeckter Baum und der Sternenhimmel über uns sollten ganz anders empfunden werden, als wir es können.«

Aber gerade die Natur ist es, die ihr doch immer wieder Gleichmaß und Ruhe gibt. Wir haben schon in früheren Kapiteln bemerkt, wie Charlotte die Landschaft liebte, wie sie immer wieder von der Saale und dem Tale bei Rudolstadt spricht und ihnen in allen Jahreszeiten die eigenen Schönheiten ablauscht. Und so geht auch durch alle ihre Briefe in breitem Strome die Freude an der Natur. Diese Freude ist teils rein ästhetisch. Es kommt vor, daß sie sich in längere Erörterungen verliert, warum sie diese Landschaft schön, die andre es nicht findet, warum die eine ihr »etwas gibt«, die andere, z. B. Berka an der Ilm, nichts. Dann aber beruht die Freude doch auch auf der Neutralisierung des erregten Stimmungslebens, das Welt und Gesellschaft erzeugen. Aber auch hier stört sie das Bild des menschlichen Elends; es ist etwas wie der Nachhall der berühmten Stelle aus der Braut von Messina in solch einer Briefstelle: »Ich bin froh, daß ich in der einsamen Natur lebe (Ruhla) und nicht in der Welt oder Gesellschaft leben muß, wo man meinen Schmerz nicht versteht. Die Natur ist recht kräftig hier. Die ernsten und anmuthigen Waldberge und die Weiden im Wald täuschen einen, als wären Überfluß und Reichthum der Vegetabilien überall. Das Geläute der Glocken durchschallt das Thal, und die Waldbäche rauschen friedlich. Nur in den menschlichen Zügen hat die Zeit die Furchen tief geprägt. Der Handel stockt, die Menschen sind nicht beschäftigt, und es gibt recht viele bleiche Gesichter und kranke und gebrechliche Kinder hier zumal.«

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Emilie Freifrau von Gleichen-Rußwurm, geb. von Schiller.
Nach einer Photographie.

Das gegenwärtige Leben, die Zeit mit ihren traurigen und bedenklichen Erscheinungen, wie die Franzosenkriege und die auf die Befreiungskriege, denen auch sie zugejubelt hatte, folgende Reaktion, bedrücken ihr Gemüt sehr. »Der Geist der Unterdrückung hat mehr Spuren im Innern gelassen, als man dachte. Weil die Unterdrückung die Gemüter einengte, so haben sie nun sich an den Egoismus gehalten und dieser verflacht den Geist.« »Man kämpft und kämpft gegen das Leben, man will sich's wohl machen, man rechnet auf Glück, und wo ist's zu finden? Wenn nur die innere Kraft des Lebens, die Poesie des Lebens nicht gestört würde, und wenn man nicht immer die Hand der Zerstörung fühlte, die Menschen mit bösem Willen und Absichten! Wenn man sich nur das recht klar macht, was Shakespeare sagt:

't is but a tale, told by an idiot
Full sound and fury, signifying nothing.

So erscheint einem auch das Leben und Treiben der Gewalten, der Machthabenden; was der innere Mensch werth ist, erwägt man nicht. Ich bin recht lebensmüde zuweilen. Ich freue mich an Herders ›Ideen‹ und finde, diese Art Reflexionen sind die, die am meisten den Geist aufrichten und die Kräfte erwecken.«

Wie in die Natur flüchtet sie sich gern in Bücher. Es ist erstaunlich, wie viele Bücher, und wie verschiedenartige, diese Frau gelesen hat. Der Briefwechsel mit Herrn von Knebel gibt davon auf fast jeder Seite Kunde. Dabei ist es aber keine oberflächliche Vielleserei; die durch ihr Eindringen nicht minder wie durch ihre Vielseitigkeit überraschenden Reflexionen, die sie an das Gelesene anknüpft, zeigen, mit welcher Aufmerksamkeit sie las. In der Wahl der Lektüre ist kein Plan, nichts was auch nur entfernt nach einer Absicht systematischer Erweiterung von Kenntnissen aussähe. Sie liest nicht, um ein Buch kennen zu lernen, sondern um ihren Gedanken neuen Stoff zuzuführen. Man kann auch nicht von einer Voreingenommenheit des Geschmacks sprechen, heute sendet ihr ein Bekannter ein französisches, morgen bringt ein andrer ein englisches Buch; bald fällt ihr ein poetisches, bald ein wissenschaftliches Buch in die Hände.

»Gestern habe ich ein so schönes Gespräch im Plato gelesen, ›Hippias‹. Ich hätte gern darüber gesprochen und jemand gefunden, der mir diese Ideen mehr ausgeführt. Aber ich wußte niemand, an wen ich mich wenden sollte, und ich kam wir vor wie der Jüngling in Sais, der die Wahrheit sucht. Ich liebe das Gedicht von Schiller so.«

»Eine Lectüre habe ich, die mich unterrichtet und erfreut, den ,Nationalreichthum' von Adam Smith. Es ist ein so schöner, philosophischer Geist in den gewöhnlichen Ansichten des Lebens, und die Culturverhältnisse, Handelsverhältnisse so schön auseinandergesetzt. Es ist eine ernste Lectüre, und dies liebe ich jetzt.«

»Ich lese nicht zu viel, aber recht schöne Sachen. So studiere ich Fénelon. Wie ist sein Aufsatz » Sur l'éducation des filles« schön! wie spricht sich sein Geist aus! Ich kann nicht allen seinen Ansichten dabei Beifall geben, aber groß und edel hat er alles gedacht, was Bezug auf die Bildung hat.«

»Ich habe diese Tage mich an der Größe der Composition der ›Äneide‹ ergötzt. Ich habe meiner Schwester, die einen heftigen Katarrh hat, mehrere Gesänge vom Abbé Delille vorgelesen, und die Übersetzung ist so einfach groß, daß man sich recht daran freuen kann. Wie ist es ausgedacht! wie Aeneas zuerst zu Dido kommt, wie er die Geschichten von Troja vorgestellt sieht! Wie ist die Erscheinung des Aeneas anmuthig! wie die der Dido! und zuletzt wie Amor die Gestalt des kleinen Ascan annimmt! Wie die Beschreibungen vortrefflich, wie er die Höhlen des Polyphem sieht, den Aetna, wie er die Andromache findet! Auf den sechsten Gesang freue ich mich; den liebte Schiller so sehr und hat mir ihn mehrere mal aus dem Lateinischen aus dem Stegreif übersetzt. Wie schön hat aber Virgil den Homer benutzt, wie haben diese Bilder sich in seiner Seele anders gestaltet, und doch kann das hohe Einfache seiner Dichtungen nur wieder hoch und erhaben wirken. In einer so absprechenden Zeit, wie die jetzige ist, würde man gegen solche Vervielfältigung des Großen scharf losziehen. Das Große kann nur das Große wieder erzeugen – wo es recht aufgefaßt wird.«

Oder es kommt ihr einmal eine Reisebeschreibung aus Brasilien in die Hände:

»Sie sollten ordentlich das Buch lesen. Wenn man die Hütte sieht, die Hängematten, den Topf mit Mais und Bohnen, kochend am Feuer, und dies als einzige Nahrung statt Brot sich denkt, dabei junge Affen, deren Fleisch eine seltne, ausgesuchte Speise ist, die kupferfarbnen Menschen mit verwirrten Haaren und beinah nicht mehr wie die Affen verständig – so wird es einem doch wohl, wenn auch die Cultur, geistig mehr als körperlich, ausartet bei uns. Die armen Frauen! Sie haben ein erschreckliches Los! sie müssen die Jagdbeute nachschleppen, ihren Männern beladen durch die unwegsamen Wälder folgen und vielleicht nach aller Mühe noch unfreundlich behandelt werden. Es gehört doch eine Art von Wahnsinn dazu, diesen ganz rohen Naturzustand zu preisen, wie doch viele französische Philosophen gethan haben. Ihre eigne Verfeinerung hat die Sehnsucht nach der Natur auf eine krankhafte Art erhöht. Man muß durch viele traurige Erfahrungen des Lebens dahin gebracht sein, so ein Leben für etwas zu halten.«

Aber am liebsten flüchtet sie sich doch immer wieder zu den Großen, die sie miterlebt hatte und miterlebte, in ihres Mannes und in Goethes Schriften. Goethes weiterer Entwicklung folgt sie mit feinem Verständnis. Sie hat einen besonderen, bei Urlichs abgedruckten Aufsatz über die Gestalt der Eugenia geschrieben, der recht sinnreiche Bemerkungen enthält.

»Vorige Woche hat Goethe uns einen schönen Abend gemacht. Er hat bei der Herzogin uns einen Abschnitt aus seinem neuen Theil der ›Dichtung und Wahrheit‹ gelesen, was er über Klinger, Lavater und Basedow sagt. Er hat mit soviel Geist Lavater gezeichnet und mit soviel Wahrheit, daß man ihn sieht, und mit soviel Milde die verschiedenen Ansichten ausgesprochen, daß es eine Meisterhand nur so kann. Ich freue mich sehr auf den ganzen Band; wenn er nur schon zu haben wäre!«

»Ich habe nun auch Goethes Reise gelesen; es hat mich unbeschreiblich angezogen und der Dichter steht in aller Kraft der Jugend mit den reifen, reichen Ansichten vor uns. Er umfaßt eben so leicht das Hohe und Tiefe als die leisen, schnell vorübergehenden Lufterscheinungen und Gestalten. Wie die Töne einer schönen Musik den ganzen Zustand des Gemüths bezeichnen, so bildet sich zu den schönen Formen der Berge, des tiefen Grüns, der hohen, schönen Gebäude, der edlen Verhältnisse der Architektur, der schönen, menschlichen Bildungen auch die Phantasie gern die ganzen Umgebungen aus, und die lichten, goldnen Wolken, die an dem klaren, blauen Gewölbe des Himmels das Gemälde vollenden, möchte man ebensowenig vermissen und man freut sich, daß der Dichter Erde und Himmel verbindet und so immer ein ganzes Bild giebt. Ich glaube manchen Menschen wird es gehen mit diesem Buche, wie der Frau von Staël mit Goethe selbst, die sich den auteur de ›Werther' nicht denken konnte in einer Hofuniform. Man erwartet gewiß mehr Beschreibungen, dichterische Bilder u. s. w., und eben wie er in den einfachsten Anschauungen doch alles Hohe in seinem Leser erweckt und dadurch, daß er seine Anschauungen, nicht seine Gefühle ausspricht, ist es so schön und erfreulich. Es hat mich unbeschreiblich angezogen und ergötzt im wahren Sinne des Wortes.«

Sie lebt förmlich in einzelnen Dichtungen des Olympiers:

»Goethe war heiter und mittheilend und zeigte uns Kupferstiche aus ›Faust‹, die ein Maler Cornelius aus Rom gesendet. Die Szene, wo Valentin erstochen auf der Straße gefunden wird und Faust mit Mephistopheles entflieht, Gretchen mit einem tiefen Schmerz zurücksinkt in der Frau Marthe Arm, einzelne Gruppen auf der Straße entstehen und neugierig ohne Theilnahme stehen bleiben, dies Alles ist mit der alterthümlichen nationellen Umgebung ausgedrückt. Mir ist der Ausruf dabei im Innern erschallt, wie Valentin sich nicht Bruder nennen will und ausruft: ›Deiner Mutter Sohn!‹ Schöneres und Angemesseneres dieser Situation, die das ganze Schicksal der unglücklichen Schwester ausdrückt, konnte nicht gesagt werden. Ich bin so mit Faust verwebt, daß ich alle Stellen erkenne und auch auf jede Lebenssituation andre passende Sprüche daraus anwende, daß mir die leiseste Anregung gleich das Ganze nahebringt. Ich glaube, so lebten die Griechen in der ›Ilias‹, und so genießt man auch die Poesie, wenn sie sich ins Leben verflicht.«

»Man lebt recht lustig hier. Es ist eine herumwandernde Schauspielergesellschaft hier, und heut wird ›Hamlet‹ gegeben; ich habe Neigung, hineinzugehen; denn Shakespeare kann verhunzt werden, doch nicht erstickt.«

Um so widriger empfindet sie gewisse Impotenzen und leidige Eigenschaften der Neueren:

»Diese Woche habe ich ›Emilie Galotti‹ aufführen sehen und habe mich an dem reinen, klaren Verstand des Dichters erfreut und gehalten. Es ist ein Werk, das eigentlich immer als Kunstwerk anziehen muß, und wirkt immer für alle Zeiten. Die Verhältnisse sind rein und bestimmt ausgesprochen ohne viele Worte; man möchte sagen, man wundert sich, daß man mit so wenig Aufwand so viel erreicht. Wenn Herr Müllner zum Beispiel unendlicher Worte bedarf, um in der ›Schuld‹ uns klar zu machen, was geschehen ist, so steht in ›Emilie‹ Alles vor Augen und wirkt durch die Handlung, die doch unendlich einfach ist. -«

»Ich habe in meinem kranken Zustand den zweiten Theil von Fr. Schlegels ›Vorlesungen über die Literatur‹ gelesen. Der erste Theil, der so viel über uns unbekannte Gegenstände enthält, ist mir lieber, zumal über die indische Literatur und Poesie. Je näher er unserm Zeitalter kommt, je weniger ist er ein Richter, dessen man sich freuen kann im Fache des Geschmacks, weil er fatale und nicht freie und unbefangene Ansichten hat und kritisieren will und klügeln. Dieses Geschlecht ist mir recht verhaßt: es ist kein Froschgeschlecht – denn dies ist zu unschuldig -, es ist ein Skorpionsgeschlecht, welches mit seinen Zangen das Schöne und Große erdrücken möchte, weil der einseitige Geist nicht es zu fassen die Fähigkeit hat. Mir ist es viel lieber, daß eine Natur nicht rechtes über Schiller sagt, den er falsch und schief verstanden hat, weil sein Auge trüb und giftig ist. Aber die Ansicht der neuern Zeit hat mich unsicher über die der ältern gemacht, die mich ansprach. Es scheint doch, er sieht alles schief an. Verstand, Scharfsinn ohne Genie, ohne Glauben an Gutes und Schönes bringt solche Nachtgeburten hervor; sie verschwinden aber auch spurlos und klanglos.«

Über all diesen literarischen Interessen, die allerdings vorzugsweise in dem Briefwechsel mit Herrn von Knebel zum Ausdruck kommen, wurde natürlich das Persönliche nicht versäumt. Daß Charlotte in äußerst warmer Teilnahme den Leuten gegenüberstand, zeigt jede Seite. Knebel hatte einst, der schon Vierzigjährige, das blutjunge Mädchen gern gehabt; er hatte zurücktreten müssen vor Schiller. Es waren Momente gewesen, wo Schiller und Lotte sich über den etwas gespreizten Junggesellen amüsiert hatten, der sich, seitdem er sein Erziehergeschäft am Hofe mit Würde erfüllt hatte, nun mit einer ansehnlichen Pension und ohne Beruf in den thüringisch-fränkischen Landen unstet umhertrieb. Nachdem er aber selbst seßhaft geworden und sich verheiratet hatte, war er ein andrer geworden, und zwischen ihm und Charlotte waltete aufrichtige, freundschaftliche Sympathie.

Fritz von Stein war sozusagen mit Charlotte aufgewachsen. »Brüderchen« und »Schwesterchen« nannten sie sich als Kinder, und brüderlich und schwesterlich ist auch nachher das Verhältnis geblieben. Der Briefwechsel ist eigenartig, eine Fundgrube zur Kenntnis und Beurteilung der damaligen weimarischen Persönlichkeiten und Verhältnisse. Fritz von Stein ist keine starke Individualität gewesen. Er malte gern und mäßig. Sein Verständnis für poetische Dinge war nicht erheblich. Als seine Mutter ihm die Braut von Messina gesandt hatte, schrieb er an Lotte: »Die Chöre wollen mir zwar nicht in den Sinn, doch sagen sie oft kluge Dinge, man freut sich daher nach jeder Begebenheit ihr Urteil zu hören.« Er war ein guter Kerl, geneigt dann und wann eine Dummheit zu begehen, wofür er dann manchmal auch sehr ernste Vorhaltungen von Charlotte zu hören bekam. Einen besonderen Reiz erhalten die Briefe Lottens an Fritz von Stein, weil er der einzige Mensch war, mit dem Charlotte von der Kindheit an befreundet gewesen war; dadurch bekommen ihre Briefe aus den letzten Lebensjahren, aus dem beginnenden Alter einen eigenen Ton unmittelbar und rein empfundener Wehmut über das Leben. »Als ich an den Kochberger Bergen vorbeifuhr, überfiel mich der Gedanke schmerzlich, mit welchen Hoffnungen und Aussichten für das Leben wir in unsrer Jugend unsre Seelen wiegten, wie eigentlich unsre Existenz auf gewisse Art abgeschlossen ist. Ich sehe mich mit dem, was mir die Existenz erhöhte, fertig für die Welt und knüpfte meine Freude und Sehnsucht in einer andern Welt an.« Interessant sind diese Briefe auch, weil sie uns unmittelbare Nachrichten über Leben und Wesen von Fritzens Mutter, Frau von Stein, geben und besonders auch Schlüsse auf ihr Verhältnis zum alternden Goethe gestatten.

An Nachrichten über Goethe sind auch die Briefe an die Prinzessin Karoline reich. Das Verhältnis Lottens zu dieser ist von ganz besonderer Innigkeit, und der frühzeitige Tod der ausgezeichneten Frau ist für ihre Freunde ein sehr schmerzlicher Schlag gewesen. Humorvoll, heiter, voll drolliger Einfälle, gab sie sich in den Briefen an ihre »Loloa« ganz wie sie war; und diese, bei aller Beachtung der Formen, die die Stellung der Adressatin natürlich machte, gibt sich ihr gegenüber offener in mancher Hinsicht, als es den männlichen Freunden gegenüber möglich war. »Goethe war hier, das wissen Sie,« schreibt die Prinzeß am 11. September 1806, »aber das wissen Sie wohl nicht, Schlüsseldame, daß er zweiunddreißig Zeichnungen auf seiner Reise gemacht hat, die hübschesten und geistreichsten, und mir sie geschenkt hat. Liebe Loloa, können Sie sich mein Glück recht lebhaft denken? und meinen Stolz, wenn ich Übermuth in der Seele hätte.« Die Verehrung für Goethe, »unseren Meister« wie sie meistens sagten, war eins der Bande, die die Frauen aneinanderknüpfte. »Die Loloa sitzt eben schon wieder mit der Feder in der Hand; aber obgleich der Brief nicht so schnell fort soll, so wird er doch geschrieben, weil des Meisters zärtlicher Gruß auf dem Papier stehen soll, und heute noch. Diesen Morgen kam er zu mir und war gar freundlich und mild und mitteilend« (30. Juli 1811). Diese Verehrung Goethes ist so tief gewurzelt, daß sie sogar keine Einbuße erleidet durch das sehr eigenartige Benehmen der Christiane. Als Arnim mit seiner Frau Bettina in Weimar war, verbot Christiane der letzteren » de but en blanc« wie Lotte erzählt, das Haus; und doch war Bettina nur Goethes wegen gekommen. Und auch Goethe selbst nahm infolgedessen keine Notiz von ihr. Diese Sache wirbelte unendlich viel Staub auf. Hören wir, was Lotte ihrer Prinzessin weiter berichtet: »Von unserem Meister kann ich einmal nicht viel sagen, denn ich sehe ihn nicht. Ich war anfangs betreten und fürchtete, man hätte mich auch mit in das Ungewitter gezogen ohne Schuld; aber ich denke doch im Ernst nicht und halte es nur für Ungeschicklichkeiten von seiner Seite und für andere Ursachen, die ihn unter anderem bewogen haben, mir einen Platz in meiner ehemaligen Loge anzubieten. Diesen habe ich nicht angenommen und ihm die Gründe geschrieben, denn ich kann mich an diesem Platz im Leben nicht mehr erfreuen, warum sollte ich das Schauspiel da aufsuchen? Ich gehe jetzt auf den Balkon. Die Menschen, die sich alles gleich deuten, werden wohl auch sagen, die dicke Hälfte habe mich aus der Loge des Mannes vertrieben. Aber er hat mir geschrieben, daß er sich einige Zeit als Einsiedler halten müßte u. s. w. Ich schreibe Ihnen einmal das Billet ab. Ich habe ihm freundlich geantwortet und ihm gesagt, warum ich in meine ehemalige Loge nicht gehen könne, ich hätte aber ihn fragen wollen, ob er, da sein Sohn hier ist, nicht lieber en famille wäre. Ich saß freilich sehr gern bei ihm, denn wir haben manches schöne Gespräch geführt. Anfangs, da eben Arnims noch hier waren und ich alle Tage bald Bettina klagen, bald meine Schwester schimpfen hörte, wurde ich auch betreten und dachte mir alles viel ernstlicher. Ich sage meiner geliebten Prinzeß alles, wie es in mir vorgeht, aber ich warte ordentlich sehnlich auf eine Ebbe, denn die Flut des Klatschens ist ungeheuer, die ganze Stadt ist in Aufruhr und alles erdichtet oder hört Geschichten über den Streit mit Arnims. Da die Bettina mit der dicken Hälfte doch viel war im Anfang, so mag eine unendliche Tiefe des Klatsches entstanden sein. Wer da alles hineinverflochten ist, weiß der Himmel. Ich kann nichts thun als schweigen und dem Meister dadurch zeigen, daß ich in kein unwürdiges Licht gegen ihn mich stellen mag, aber auch mir nichts vergeben kann. Zuweilen denke ich, die Frau will ihn ganz isolieren, um ihr Wesen mit ihren Kindern (das sind die Schauspieler) nach Lust zu treiben, und sie fürchtet einen jeden Umgang, wo sie nicht in Anschlag kommen kann. Auch habe ich sie zuweilen gestört, wenn er nicht in der Loge war und sie hatte Besuch dorthin bestellt. So suchte sie Levandowski sehr oft auf (deswegen könnte sie auch etwas über mich ausgesprochen haben, was nicht wahr wäre). Die Wahrheit wird am Ende siegen. – Zu Frau von Stein kommt der Meister auch zuweilen früh, ich traf ihn nur noch nicht. Ich werde immer dem Epigramm treu bleiben, das ich Ihnen schrieb, (in einem früheren Briefe:

Das ist die rechte Liebe, die immer und immer sich gleich bleibt.
Wenn man ihr alles versagt, wenn man ihr alles gewährt.)

Aber ich bin doch zuweilen, wie im Werther steht, als hätte man mir meinen Degen abgenommen, wenn ich nicht recht weiß, was der Meister von mir denkt« (1811).

Wir können diese reizvolle Briefsammlung nicht ausschöpfen. Es ist rührend, wie sie der Prinzessin von sich und den Kindern erzählt; meist betont sie die heiteren Vorkommnisse, denn die Prinzeß hatte Heimweh und fühlte sich überhaupt nicht glücklich; sie bedurfte der Aufheiterung: »von meinem Karl wollen Sie auch hören, teure, geliebte Prinzeß! Er ist wieder in Heidelberg angekommen und dankt mir herzlich für die Freude, die ihm die schöne Reise gemacht. Er ist auf allen hohen Alpen gewesen und über Mailand nach Turin gegangen, hat die borromäischen Inseln gesehen, alle Orte, die im Tell vorkommen, ist durch die hohle Gasse gegangen, hat Tells Kapelle besucht und hat auch mehrere Menschen kennen gelernt, die ihn freundlich aufnahmen – Fellenberg in Hofwyl, Georg Müller und Pestalozzi, der ihn geküßt hat. Auf der höchsten Wohnung in Europa, dem Hospitium des Bernhardberges, ist der arme Karl, da er vier Stunden im Schnee gegangen, in die Messe gekommen, und wie er da recht zusieht, überfällt ihn eine Ohnmacht. Als er aufwacht, half ihm der Mönch, der sein Meßgewand erst abgeworfen hatte, aufstehen. Es ist so etwas Romantisches in der Situation, und er mag gar nicht gewußt haben, wo das Mönchsgesicht herkam, denn in einem solchen Zustand umschweben einen immer nur die bekanntesten Bilder.« Stolz meldet die Witwe Schillers im November 1813: »Ich hatte heimliche Angst wiederherzukommen; Sie wissen, daß ich mein Haus als Schillers heiliges Andenken liebe. Ich habe es doch vor Gewaltthätigkeiten bewahrt und unter Schillers Bild wie an einen Altar mich geflüchtet. Alle Nationen sind zu mir gekommen, um das Haus zu sehen; aus dem inneren Rußland kamen Officiere und wollten Bücher haben, die er geliebt und gebraucht hätte. Ich konnte sie nicht sprechen weil sie nur Latein sprachen, aber es hat mich innig gerührt. Preußen, Livländer, Oesterreicher kamen zu mir und weinten mit mir; und die Erzählung von Schillers letzten Tagen beweinten sie mit mir.« Auch ihr Patriotismus bricht in diesen Briefen oft urwüchsig hervor: »Ganz Deutschland schießt (April 1814!) und ich glaube jedes denkt, es hätte mögen das Gewehr nach Napoleons Brust zielen. Ich möchte, wie die Armgart im Tell, herumziehen.«

Man muß diese Briefwechsel in ganzer Ausdehnung lesen, um ein Bild von dem durchaus originellen Innenleben Charlottens und ihrer Umgebung zu gewinnen. Es waren Menschen, die ihr Wesen aneinander und durcheinander ausgestaltet hatten und denen es eine Freude war sich und der Welt mit Bewußtsein anzugehören.


Nicht minder deutlich als in den Briefen, oft sogar noch intimer beleuchtet, stellt sich uns das Bild Charlottens auf den leider nur wenigen Blättern dar, die sie für sich selbst schrieb. Man kann sie nicht eine Schriftstellerin nennen, dazu ist das, was bei Urlichs (Bd. I S. 1 ff.) steht, zu anspruchslos, zu bescheiden; es ist meist nur zur eigenen Erinnerung, höchstens einmal für die nächsten Angehörigen und Freunde bestimmt. Auch darin unterschieden sich die Schwestern; Karoline hat einen umfangreichen Roman geschrieben, der ein gewisses Aufsehen in der literarischen Welt machte, »Agnes von Lilien«, und später veröffentlichte sie ihr Leben Schillers, dem wirkliche schriftstellerische Vorzüge anhaften. So in die Welt hinauszutreten, lag Charlotte fern. Aber was sie in stillen Stunden der Sammlung ihrem Tagebuch anvertraut, trägt das Gepräge des persönlichen, einer Innerlichkeit, die bei aller Bescheidenheit der Form uns wohltut und erhebt.

Auch einige Gedichte enthalten diese Tageshefte. Noch bevor sie Schiller kennen lernte, drängte es sie, innere Erlebnisse in Rhythmen auszusprechen. Stille Sehnsucht und Erinnerung weben in den anspruchslosen Versen der noch nicht Zwanzigjährigen. Sie hatte wohl eine erste Jugendneigung am Genfersee erlebt, und in der Stille des Rudolstädter Tales pflegt sie mit der Erinnerung an die große Natur des blauen Sees auch die an jenen Jüngling:

Jener Stunde dacht' ich weinend immer,
Da ich einst dich fand;
Dachte dein beim sanften Abendschimmer,
Oft an meines blauen Flusses Strand.

Endlich heilte meiner Liebe Wunden
Die wohltät'ge Zeit;
Und mein Herz hat wieder Ruh gefunden,
Aber, glaube, nicht Vergessenheit.

Die unbestimmte Sehnsucht des Mädchenherzens nach einem Glück, das es nur ahnt, spricht aus manchem anderen Vers; sie fragt nach dem, was dem freudigen Lebensgefühl zugrunde liegt,

»Sprich, o Seele, ach, was soll das Heben
Dieses Herzens? all das Streben?«

um schließlich der angeborenen Resignation nachgebend in laute Klagen über das rasche, schmetterlinghafte vergehen der Freuden und lieber Beziehungen zu klagen. So wurde ihr Ossian besonders lieb: große Naturbilder, Vergänglichkeit des Menschen, traurige Klage um verlorenes Glück, über sonnenhemmende Nebel, das ist so das Element, dem sie am meisten zuneigt in den Jahren, da ihr Herz erfüllte Liebe noch nicht besaß. Und diese selbe Stimmung kehrt wieder, als sie nach Schillers Tode mehr dem Rückblick als dem Vorblick lebt. Schon die Krankheit des Geliebten hatte in ihr manchmal eine Art Witwenstimmung erweckt; wir besitzen ein rührendes Gedicht »Klage«, das sie am 24. Februar 1805 niederschrieb, kurz nach der letzten mit Schiller noch verlebten Wiederkehr ihres Hochzeitstages.

»In Nacht gehüllt sind mir die Sonnenhügel,
Auf denen lächelnd sonst die Hoffnung steht!

 

Zu frohem Sinn nur redet die Natur;
Umsonst zeigt sie die wechselnden Gestalten,
Der Blumen bunten, schöngeschmückten Chor,
Sie mag sich reizend unserm Blick entfalten,
Der süßen Stimme lauscht nicht mehr das Ohr!

Später, in den mußevollen Tagen des kommenden Alters, als die herangewachsenen Kinder sie wieder mit den Angelegenheiten der Gegenwart und, wie wir sahen, auch des Vaterlandes verbanden, hat sie auch andere Töne gelegentlich angeschlagen. Wir besitzen ein »Marschlied« für die Truppen (1815), sogar ein »Trinklied für Deutsche« aus demselben Jahre. Gern wandte sie die Versmaße Schillerscher Gedichte an, wie denn jenes Trinklied in dem Tonfall der »Worte des Glaubens« gehalten ist. Humoristische Züge sind äußerst selten, und es sieht fast aus, als ob die lustige Laune, die aus manchen Stellen der Briefe an Fritz von Stein und Prinzeß Karoline klingt und die wir manchmal in den Billetts der Volkstädter Zeit wahrgenommen haben, nicht ihrem wahren Wesen entsprochen hätte. Den einzigen humoristischen Versuch, den wir aus ihrer Feder besitzen, ist ein »Schwank«: »Der verunglückte fünfte März«, eine Satire auf den bekannten Versuch Kotzebues, durch eine ostentative Huldigung für Schiller Goethe zu ärgern.

Die Neigung zur Rückschau, die zugleich eine Einschau in sich selbst ist, zeigt sich so recht in den tagebuchartigen Aufzeichnungen. Sie galten teils der eigenen Vergangenheit und Entwicklung, teils der sie umgebenden Menschenwelt. Wir haben von ihren »Erinnerungen aus den Kinderjahren« (Urlichs I, S. 31 ff.) schon zu Anfang dieses Buches Gebrauch gemacht. Auf der Reise nach der Schweiz hat sie ein ausführliches Tagebuch geführt, das aber, wie es scheint, zugleich für die anderen Mitreisenden bestimmt war; es sind kurze Notizen über das Gesehene, untermischt mit Würdigungen merkwürdiger Personen; doch scheint es, daß darin mehr der Inhalt des Gehörten, der gemeinsamen Gespräche wiedergegeben wird als eigene Meinung.

Das eigentliche Tagebuch, das im November 1787 beginnt, ist ganz und gar der Abdruck ihres Gedanken- und Gefühlslebens. »Ich schreibe zuweilen die Empfindungen meiner Seele nieder seit einigen Jahren«, berichtet sie selbst 1789 an Schiller. »Es sind Äußerungen meiner Seele, die durch innere mehr als äußere Erlebnisse in Schwingungen versetzt wird.« Wir wissen nicht den einzelnen Anlaß jeder Aufzeichnung, aber es ist meist nicht schwer herauszufühlen, welche allgemeinen Eindrücke ihnen vorhergegangen sind. Wir wollen hier eine Reihe von Stellen wiedergeben, die für den Ton und die allgemeine Stimmungslage charakteristisch erscheinen. Die ersten Aufzeichnungen (1787) geben offenbar die Gefühle nach der schweren Enttäuschung mit dem Engländer Heron wieder. Bezeichnend ist hier die beständige Zuflucht, die sie zur Natur nimmt. Dann folgt eine längere von Charlotte selbst bezeichnete Pause (Juni 1789). Aus der Zeit der Ehe selbst sind nur ganz wenige Aufzeichnungen vorhanden. Erst im Witwenstande nimmt sie das Tagebuch wieder öfter zur Hand; wehmütige Rückschau kennzeichnet die Mehrzahl der Einträge.

»Den 8. November 87. Schöne Sonne! wie wohltätig ist dein Einfluß auf die Erde; du erwärmst, erfreust alles; so auch mein Herz. Es ist mir begreiflich, wie nur die bloßen Naturmenschen dich als Gottheit verehren konnten, denn dein Licht belebt alles. O vielleicht strömen auch unsere Wesen einst ganz in dich, und die Milde, die du auf uns herab schüttest, deine schönen Strahlen kommen wohl durch den Einfluß reiner, abgeschiedener Seelen zu uns und beleben uns so mit Freude.

Mit inniger Empfindung rufe auch ich dir zu:

Hail, holy light.

Den 21. November, abends. Schön ist der sinkende Abend, wenn die letzten Strahlen der Sonne noch hinter den schwarzen Bergen flammen und die Sterne sanft schimmern, aber immer glänzender werden. Es ist ein Bild der Natur, wie alles stufenweise immer höher, höher steigt. So auch in unserer Welt; was vor langen Zeiten nur wie eine kleine Flamme loderte, bricht jetzt zu einem hellen Licht aus, das Wärme und Freude verbreitet. So mit den Wissenschaften und Künsten; der Mensch bildet sich immer mehr und mehr. Und so nimmt alles zu, einen Grad von Vollkommenheit zu erlangen, wir genießen einst im vollen Maße, was wir hier einzeln ausstreuten. Darum sei ruhig, Herz, bei den Leiden, die dich drücken. Laß die schauerlich schöne Abendstunde dir ein Bild besserer, reiner Freuden sein, die dein warten.

Den 28., gegen vier Uhr. Wandelnde Wolken, ihr ein näheres Bild der Erdenfreuden! wie schön ihr seid! Das düstere Grau, mit den Strahlen der Sonne gesäumt, ist ähnlich mancher trüben, bangen Stunde; der Glanz, der durchbricht, ist die wohltätige Hoffnung. Und das sanfte, reine Blau ist vielleicht Vorschmack besserer, reinerer Freuden. Natur, in dir findet Ruhe das Herz; und doch gibt es so viele Menschen, denen du nichts bist. Sie genießen weniger schöne Momente als fühlende Seelen, und ihr Herz wird sich nicht so leicht befriedigen lassen, weil sie immer in Dingen Freude suchen, die keine geben können. Aber in deinem Anschauen haben wir alles!

Den 15. April. Der Wind heult, kalte Regentropfen schlagen ans Fenster; o Boreas, schone die zarten Blumen! Auch mein Herz zieht sich zurück, fühlet Sehnen und Leere. Auch so haucht der kalte Hauch der Gleichgültigkeit die Blüten der Freundschaft an, die schön aufkeimten; ach Entfernung, der Hang zu Ruhm, zu Ehre ließ wohl manche Aufwallung dafür stumm werden, und das treue Herz ward vergessen. Steig aus dem Schutt der Vergangenheit wieder hervor, Bild entflohener Freude; sei von mir nicht vergessen, mir ewig lieb und grüne um meinen Scheitel in unverwelklicher Blüte.

Heute fiel mir die Analogie aller Dinge auf, wie alles in der Welt aus einerlei besteht und zusammengesetzt ist. Aber der Mensch kommt mir zugleich als das vollkommenste Wesen vor, der alles in sich vereint; aus allen Teilen ward er gebildet, und nur in ihm verfeinern sich im höchsten Grad die Materien, in der organisierten Schöpfung heißt das. Von der Geisterwelt wissen wir nichts und es ist ein wohltätiger Schleier (sagt Herder), der die künftige Welt überdeckt.

Den 1. Juni. Spülst du denn, o Zeit, mit deiner Welle über jede Freude des Lebens? Löschest aus die lieblichsten Bilder? O ihr vergangenen Freuden, bleibt denn nichts von euch als der Schmerz, daß ihr nicht mehr zurückkehrt? Dies dachte ich eben, als ich einige Briefe durchging.

O warum ist doch unser Geist in so enge Schranken gebannt, warum können wir nicht die Winde durchschneiden, die Meere in einem Augenblick überfliegen, daß das Herz die Nähe einer freundschaftlichen Seele deutlich fühlen könnte. So wollen wir immer in einer ängstigenden Ungewißheit. Wenn wir vergessen könnten!

't is sure the hardest science to forget!

Nein, nicht vergessen sollen wir, sondern stark die notwendigen Übel der Trennung tragen! Denn sie ist hoffentlich nicht ewig!

Den 18. Juni. Wie die Sonne so schön auf die Wipfel meiner Pappeln scheint; die Luft ist rein und klar, und die Erde duftet süß nach Stürmen, vor wenig Stunden hallten die Donner fürchterlich wieder: die Blitze durchkreuzten die Luft – und nun wieder so schön! so still! Es kommt auch eine Zeit, wo unser Leben so ungetrübt und rein sein wird. Soll uns nicht dieses Vorbild sein?

Im Juni 89, den 27. Es ist eine sonderbare Empfindung, vergangene Gefühle sich in die Seele zurückzubringen, und wenn man dann bemerkt, wie unsere Art zu sein wandelt, wie Vorstellungen in unserer Seele wechseln. Der menschliche Geist ist so reich in sich selbst! Wie viel verschiedene Ideen kann er aufnehmen. Ich lernte manches, seit ich nicht zu euch sprach, ihr Blätter, ihr sollt mir ein Denkmal meiner Gefühle sein und mir vergangene Freuden oder Schmerzen zurückrufen. Oft stürmte es indessen in mir. Zauberwelten öffneten sich meinem Blicke, und oft wieder hinab versenkt in tiefes Elend, wo kein Ausweg sich zeigte, als der Tod, ward mein Herz. Hingerissen von süßen Gefühlen schwebte ich von einem Momente zum andern. Doch davon will ich schweigen.

Den 14. Dezember. Stiller, schweigender Abend mit deinem Nebelschleier, der die Berge halb umhüllt, vom Monde beleuchtet, rufe mir frohe Gefühle ins Herz! Der Mensch lebt nicht, sich immer zu freuen. Er muß früh fühlen lernen, daß es Übel gibt, sie tragen lernen und die Harmonie in der Schöpfung nicht verkennen, die doch alles erhält, auch wenn wir sie in manchen Momenten nicht fühlen. – – –

Den 10. April 1805 … Mich selbst prüfen möchte ich nicht in diesen Blättern; mein Herz wird mich vor Abwegen schützen! Ideen, die in mir aufkommen, entweder niederschreiben oder, indem ich über sie nachdenke, mir sie klarer zu machen suchen – dies soll der Zweck sein.

Je länger man in der Welt lebt, je näher man die Menschen beleuchtet, je mehr flüchtet man sich in sein eigenes Herz zurück. Welche Zwecke, welche Neigungen leiten die, die wir beobachten! Falsches Streben nach unerreichbaren Dingen ist beinahe die ganze Existenz mancher Naturen, wo ist der Friede zu finden, wenn er nicht in uns ist?

Je gebildeter die Natur, je näher den Abwegen. Kein Mittelweg führt zu dem Genuß einer ruhigen Existenz. Haben wir das Schicksal beschworen, so entsteht in uns selbst der Kummer. Immer das Unerreichbare zu erringen strebt die Natur. Immer in jeder Lage, in jedem Moment des Lebens ist nur Hoffnung nach etwas Besserem, für etwas Besseres der einzige Stab, auf den wir unsere wankende Existenz stützen. Soll dieses ewige Streben nach dem Besseren zwecklos sein? Soll es nicht dem Geist die Deutung geben, daß es einen Ort gibt, wo endlich alles Hoffen erfüllt wird?

Man wird gleichgültig gegen alles, was ehemals Bewunderung erweckte, wenn man die Quelle untersucht, aus der unser Glück oder Unglück entsprang. Wer urteilt über uns, wessen Meinung kann uns heilig sein, wenn wir die kümmerlichen Behelfe der Naturen sehen, die uns richten, deren Urteil zum Wohl unserer Existenz beitrug?

Schwimmen sie nicht alle wie wir in dem Strom des Lebens fort? Haben sie nicht auch Neigungen, Meinungen, die wir nicht zu respektieren Ursache haben?

Wer selbst nicht weiß, was er meint, was er will, wie kann der uns zum Maßstab unseres Verhaltens dienen? Wo ist ein Mensch, der dies ausspricht, daß er die Norm unseres Betragens sein könne?

Wer von euch rein ist, hebe den ersten Stein! sagt Christus, und wer kann dies nicht bei allen, zu allen in der Welt sagen, die sich anmaßt zu richten?

Den 4. August 1805. Liebe Kinder! Das Leben ist so ungewiß, und der Tod überrascht uns oft in unserer Laufbahn, wenn wir es nicht ahnten, wer weiß, ob ich, wenn ihr in das Alter kommen werdet, wo ihr den Geist eures ewig geliebten Vaters besser fassen werdet als jetzt, noch unter euch bin. Meine Liebe zu ihm soll euch sein Bild entwerfen; denn niemand kannte ihn wie ich, kannte den ganzen Reichtum seines Herzens. Er sprach wenig von den Gefühlen, die er uns bewahrte; aber sein heiterer Blick, seine Äußerungen der Liebe gegen euch ließen mich oft tiefer in das liebende Herz schauen, als eine lange Folge von Handlungen bei andern Menschen es würde verraten haben. Lernt von ihm euch selbst überwinden! Er war oft so leidend, fühlte tief, wie schmerzlich es sei, das Leben unter dem Gefühl der Krankheit zu tragen, und doch gewöhnte sich sein Geist endlich über das körperliche Gefühl zu siegen. Er ergriff mutig jeden Anlaß, seinen Geist zu beschäftigen, und sobald er das drückende Gefühl des Schmerzes überwinden konnte, erriet man aus seinen Gesprächen nicht seine Leiden. Immer tätig, strebte sein Geist rastlos nach Wahrheit. Sein Leben war ein Bestreben, sich zu vervollkommnen. Selbst seine vollendetste Arbeit genügte seinem Geist oft nicht; er hatte immer den Willen in sich, noch vollkommner zu werden. Aber er verzagte nicht kleinlich mutlos an seiner Kraft, sondern war mit sich nicht uneins. Es gab keinen Menschen, der, ohne stolz zu sein, so erhaben über das Urteil der Welt war. Das Lob anderer munterte ihn nur insoferne auf, als es ihn freute, verstanden zu werden. Aber kein Lob konnte ihn bewegen, etwas in seine Arbeiten aufzunehmen, was er nicht für vollkommen gut gehalten hätte.

Er hatte alles sich selbst zu danken. Lasset euch sein Beispiel lehren, wie viel ein Mensch über sich vermag.

Februar 1806. Es ist ebenso unmöglich Schillers Bild zu entwerfen, als wie einen Naturgegenstand, als das Meer und den Rheinfall zu malen. – Groß und schön wie ein höheres Wesen stand er da; sein Herz, seine Liebe umfing die Welt, die er erblickte; aber die Welt kam seinem Geiste nicht nahe. Sie erschien ihm nur in dem Spiegel seiner reinen Seele wieder. Er war einfach und liebenswürdig in seiner Erscheinung, klug und bedeutend immer; kein fades Wort sprach sein Mund aus. Seine Unterhaltung war immer tief; er erschuf alles in seinem Gemüt mit größerem Reichtum, als es andern erscheinen kann. Jedes Gespräch war beinahe eine neue Schöpfung seines Geistes. Man wurde emporgetragen über die Welt und die Dinge und kam sich selbst auf einem höheren Standpunkt stehend vor. Er war duldsam gegen jede Geistesverirrung; nur Leerheit und nichtige Anmaßung war ihm zuwider; jeder falsche Anspruch war ihm zur Last; deswegen mag ihn mancher Mensch anders gefunden haben, als er ihn erwartete, weil er diesen Naturen unzugangbar war. Reine, vorurteilsfreie Naturen, die das, was sie fühlten, rein aussprachen, die mit Wahrheit und Innigkeit ihren Zweck verfolgten, diese ehrte er, sie mochten noch so entfernt ihm sein, und suchte mit Liebe und Teilnahme ihnen behülflich zu sein. Es war als sei er allmächtig, und man fühlte, sobald er mit dem Kummer des Gemüts bekannt sei, so könnte sein kräftiger Geist auch Hülfe schaffen. Man hätte ihm alles frei gestehen können, selbst ein Verbrechen.

Er war stolz, aber nicht auf kleinliche Vorzüge, sondern er fühlte nur, was er sei, was er leiste. Für kleine Schmeicheleien, für Lob war er nicht empfänglich; er freute sich nur, wenn er anerkannt wurde, weil er gern Menschen fand, die ihn verstanden. Er wußte immer, was er leisten wollte, und daher vertraute er auch seiner eigenen Kraft, die ihn zum Ziele führen würde. Er hat sich nach niemand gebildet, sondern ist sich immer selbst gefolgt. Zwei Geister, die große Kräfte haben, müssen sich in ihrer Bahn begegnen, aber keiner braucht den andern in seinen Kreis hinein zu zwingen. Nur Menschen, die den Reichtum solcher Naturen nicht zu fassen vermögen, können behaupten, Schiller habe sich nach Goethe gebildet. Ein vereinigtes Streben großer Kräfte kann mehr Wirkungen hervorbringen, aber zwei solche genialische Naturen können sich nicht nacheinander bilden.

Wenn man Goethes und Schillers Gespräche hörte, so bewunderte man immer an Goethe den Reichtum, die Tiefe und die Kraft seiner Natur; aber an Schiller immer die hohe geistige Kraft, die Resultate der Natur in eine geistige Form zu bringen.

Welche Macht sein Geist über den Körper gewann, zeigt seine Kränklichkeit, sein langes Leiden. Er vergaß aber stets durch die Tätigkeit seines Geistes den Körper; oft wenn er gelitten was kein anderer ertragen hätte, fand man ihn heiter, ruhig, und durch seine Reflexionen über fremde Gegenstände gelang es ihm, sich zu vergessen; durch seine Liebe für seine Geliebten, seine Kinder vermochte er oft seinen Schmerz zu lindern; in der frohen Unbefangenheit seiner Kinder vergaß er oft, welchen Schmerz seine Brust bewahrte. In seiner Liebe war er edel und fein, zart und teilnehmend, und doch fest und selbständig; immer mutvoll, wenn er zum Handeln kam. – Man möchte wohl sagen, daß Jahrtausende dazu gehören, um einen Geist wie den zu wiederholen.

Wo wirkt er jetzt? Welche neue Welt braucht solche Geister?

Den 15. Februar 1806. Mir träumte, ich säße mit meiner Mutter und sähe alle Papiere durch; da fand ich Brieftaschen, worin etwas Geschriebenes an Schiller gerichtet lag. Ich weinte so heftig darüber und fühlte, daß ich schluchzte im Traum. Über diesen Traum sagte ich im Traum etwas von Goethe aus dem Lied an Mignon her:

Kaum will mir die Nacht noch frommen;
Denn die Träume selber kommen
Nur in trauriger Gestalt.
Immer fühl' ich dieser Schmerzen
Still im Herzen
Heimlich nagende Gewalt.

22. Februar 1806. An einem Montag den 22. Februar 1790 wurden wir in Wenigen-Jena vom Diakonus Schmidt getraut.

Schiller kam einige Tage vorher nach Erfurt, wo ich und Karoline war, uns abzuholen, wir kamen Sonntags abend nach Jena, wo wir bei Fräulein Seegner abstiegen. Den Montag früh fuhren wir drei zusammen nach Kahla, wo wir meine Mutter abholten. Es war ein Frühlingstag wie heute 1806, wo ich dieses mit Schmerzen niederschreibe! Von Kahla fuhren wir gegen zwei Uhr ab und kamen um fünf Uhr ganz in der Stille in Wenigen-Jena an; stiegen an der Kirche aus; niemand war bei der Trauung zugegen als meine Mutter und Karoline.

Den Abend brachten wir still und ruhig miteinander in Gesprächen zu beim Tee.

So verging der Tag, der so viele Freuden in seinem Gefolge hatte und so viele Schmerzen.

Jeglichen Menschen erwartet sein Tag,
Auch meiner wird kommen!

16. Dezember 1806 … Ich träumte einst in den ersten Zeiten meiner Bekanntschaft mit ihm, ich säße in einer Hütte auf einer hölzernen Bank, vor mir eine Tür, durch die ich auf eine himmlische Gegend hinunter sah, und an seinem Herzen über Welt und Zeit erhaben. So war dieser Traum eine Deutung meines Lebens; ich konnte über alle Bedürfnisse hinwegblicken in den Stunden, wo sein Geist zu mir sprach, und fühlte in den ersten Jahren unserer Verbindung wie in den letzten das gleiche Glück. Mit mehr Bewußtsein meiner selbst in späteren, denn ich hatte mich durch ihn gebildet, empfänglicher gefunden und genoß reiner den Anblick seines Geistes. Zuweilen begegnete es mir, daß er Dinge sagte, die ich eben gedacht hatte oder sagen wollte, und ich fand froh diese Übereinstimmung, weil sie mir zeigte, wie ich mir durch das Leben mit ihm, durch das Verfolgen seines Geistes seine Ideen angeeignet hatte.

April 1807. So sehr ich wünsche, daß meine Kinder einst an jedem Ort der Welt sich durch das Gefühl einheimisch finden mögen, ihre Pflicht zu tun und ihr treu zu bleiben, wo sie auch das Schicksal hinstellt; so wünschte ich, daß, die einst ihrem Herzen und Vertrauen am nächsten sein werden, wenn ich nicht mehr bin, ihnen eine heilige Ehrfurcht und Liebe für ihr Vaterland gern erhalten und sie an diese Wünsche meines Herzens mahnen mögen. Auch der Ort, der die heiligen Überreste ihres geliebten Vaters verwahrt, sei ihrem Herzen immer am heiligsten; die frühen Bande, die den Menschen an seine ersten Verhältnisse knüpfen, sind ohnehin die heiligsten. Der, der sich gewöhnt, seine Wünsche schnell von einem Ort zum andern zu leiten, der nicht das süße Gefühl in sich bewahrt, einem Boden anzugehören, der wird leichtsinnig neue Verhältnisse suchen, neue Freunde, und wird sich isoliert fühlen in einer Zeit, wo er nicht mehr durch der Jugend Phantasien und Erinnerungen der ihm fremd werdenden Welt angehört und angehören kann. Auch sind meine Kinder mehr wie jeder andere Mensch den frühen Verhältnissen ihrer Jugend Dankbarkeit und Ehrfurcht schuldig. Wenn sie ihre Eltern lieben, wie jene sie liebten, so wird ihnen der Umkreis von den wenigen Meilen, wo diese sich fanden und liebten, immer ein geheiligter Platz seyn. Es haften jetzt schreckenvolle Erinnerungen an den äußeren Gegenständen, und der Tod hat auf fürchterliche Weise Denkmale aufgerichtet in dem glücklichen Tal, wo wir liebten und lebten. Aber es sei dieser Platz den Herzen meiner geliebten Kinder immer heilig, und gern mögen sie sich einst, wenn das Schicksal sie auch nicht ungekränkt entläßt, zu dem Ruheplatz ihrer Eltern flüchten.

Wenn einst die Welt euch herzlos, kalt verstößt,
So flüchtet, Liebe, zu dem stillen Grab,
Dort rufet eurer Eltern Gottheit an,
Denn Götter sind wir dann und schützen euch.

Wohl uns, wenn dieser Gedanke prophetisch ausgesprochen; wenn wir uns vollkommen und selig einst über unserer Gruft begegnen; wenn mein Geist durch seine Liebe vermag dir nachzuschwingen, ewiger geliebter Geist! Ich kann dir nicht fern bleiben und sein, wenn ich leben soll im höhern Leben.

1807, April … Wenn man sich kultivierte Nationen denkt, die in ruhigen Zeiten nach der höchsten Verfeinerung streben, und sie plötzlich in den schreckenvollen Kriegszustand versetzt sieht, da ist aller Glaube an moralische Steigerung der Vollkommenheit plötzlich vernichtet, wenn Mensch gegen Mensch steht, wenn er sein Leben verteidigt, sein Individuum retten will, wird er sich alle Grausamkeiten gegen den, der ihn anfällt, erlauben; er wird wie ein Raubtier nur sein eigenes Wesen retten wollen.

Solange Kriege möglich sind, solange es einzelne wagen können, an ihrem Vorteil das Glück ihrer Völker zu wagen; wenn kein Herrscher fühlt, daß das Glück des ruhigen Bewohners seines Eigentums mehr wert ist als ein schreckenvoller Ruhm der Siege: solange sind wir immer nur auf einer eingebildeten Höhe. Wenn fremde Menschen für einen elenden Lohn für ihren erkauften Herrn streiten, wenn Verbrecher, denen nichts mehr heilig ist in der Welt, dadurch wieder Mitglieder der Gesellschaft werden, daß sie Soldaten werden, solange wird ein Krieg immer das schrecklichste Phänomen in der moralischen Welt sein. Ein losgebundener Zustand, ein Leben, wo nur rohe Kraftäußerung etwas gilt, wie kann der Menschen bilden und zur Moralität zurückführen?

Den 17. Oktober 1808. Wie der Glaube an Gott, an seine wirkende Kraft uns immer lebendiger macht, je länger wir auf dem Schauplatz stehen und die Welt beobachten, so wächst auch der Glaube an eine höhere reifere Existenz nach diesem Leben. Sollten wir nur vor den Wundern der Natur als müßige Zuschauer stehen? Nichts ist befriedigend in unserer jetzigen Existenz. Ein Schleier umhüllt unsern Eintritt ins Lebens so geheimnisvoll, als sich der werdende Mensch bildet im Schoße der Mutter, so wundersam seine Geburt, so wundersam erscheint ihm die Welt und die Dinge um ihn herum; so wundersam verlischt die Flamme des Lebens, und dieser Schritt in die Dunkelheit sollte uns nicht in das Licht führen, wie unsere Geburt uns ins Leben führt? – Nein, nein! sagt Karl Moor. Es ist noch etwas mehr; ich bin noch nicht glücklich gewesen; du ewiger geliebter Geist, weißt es nun! dir ist der Schleier zerrissen, der diese Welt von der andern scheidet. Du bist der Schutzgeist deiner Lieben, du liebtest uns nicht für ein Leben allein.

Erde mag zurück zur Erde stäuben,
Flieht der Geist doch aus dem morschen Haus;
Seine Asche mag der Sturmwind treiben,
Seine Liebe dauert ewig aus.

25. Dezember 1809. Das Weihnachtsfest ist eines der größten für die Menschheit. Es ist der Bund des Unsichtbaren mit dem Sichtbaren, denn der Glaube an das Höchste wird dadurch verwirklicht. So stellte uns Gott das höchste Vorbild der göttlichen Natur, die in der menschlichen sich ausspricht, auf. So sollen wir ringen, seinem Sohne uns nachzubilden, um zu werden wie Er, und durch dieses Streben des Lebens mit Ihm in der Unendlichkeit würdig zu werden. Das ist das Fest, das den Glauben an die unmittelbare Hilfe und Nähe der Gottheit uns offenbarte. Durch Christus kommen wir zum Vater, nur wenn wir leben, leiden, fühlen wie Er, hoffen auf Gott wie Er in den Stunden seines Todes, sollen wir die Seligkeit erlangen, von den kleinsten menschlichen Begebenheiten an führt uns Seine Geburt, Sein Leben, Sein Tod.

Den 11. März 1815. Der Unsegen, den der verderbliche Einfluß Frankreichs auf die deutsche Nation brachte, wird noch lange die Gemüter verunreinigen, wenn auch schon längst die Spuren des unheilvollen Krieges verschwunden sein werden.

Diese kalte, egoistische Nation hat wie ein Mehltau ihre Ansichten in die Seelen gehaucht und gelehrt, daß der Mensch sich selbst in seinem Willen und Wünschen seine Welt ist, um sich es wohl machen zu können, alles fremde Interesse zum Opfer zu bringen fähig sein muß.

Die Deutschen, die lange gewohnt sind einen fremden Einfluß aufzunehmen, die so lange unter diesen Fesseln schmachteten, haben leider diesen Egoismus, weil er ihrer Natur wohl machte, in sich aufgenommen; sie haben es sich überredet; denn ohne eigene Überzeugung handeln sie nicht leicht, obgleich es nicht die Überzeugung des Guten ist.

Diese Geschmeidigkeit, fremde Vorstellungen sich aneignen zu können, ist aus dem Reichtum ihrer Einbildungskraft entstanden und ist, gut angewendet, eine höchst verehrliche Eigenschaft. Aber in dem innern Streit der Meinungen, in dem Streben nach Gewalt, ohne Opfer bringen zu wollen, liegt das Unheil der Zeit und der Mangel an Empfänglichkeit für das Große, welches ausgeübt werden sollte. Auch der Glaube ist zerstört, den die witzigen Nachbarn für Schwärmerei halten. Die Liebe hat der Anblick so vieles Bösen zerstört. Die Freiheit ist unterdrückt worden, die Wahrheit mit einem Schleier umhüllt.

Daher so viele für das Gute empfängliche Gemüter Haß, Neid, Streit suchen, weil sie nicht groß genug sind, um freien Sinnes das Gute zu ergreifen. Sie glauben lieber, daß das Gute nicht da sei, ehe sie es in ihren ungleichartigen Herzen aufsuchen. Sie wähnen sich mit ihren Gefühlen das Opfer der Zeit, während sie das Edelste, Beste aufsuchen sollten und das Heilige suchen und glauben, damit es komme.

Wer es glaubt, dem ist das Heilige nahe.

Dieser Trost muß dem Herzen bleiben, wenn es sich in den schönsten Hoffnungen und Erscheinungen getäuscht sieht!« – – –

In dem Nachlaß Charlottens haben sich dann noch einige Aufsätze gefunden, die über den Rahmen bloß tagebuchartiger Aufzeichnungen hinausgehen. Der ausführlichste davon ist überschrieben: »Erinnerungen an Wieland, Herder, Goethe, Schiller.« Es sind die vier Männer, die sie in Weimar täglich vor Augen hatte und deren Entwicklung und Wirken jedem Mitglied der weimarischen Gesellschaft interessant war. »Was in einem kleinen, wenig umfassenden Kreis erschaffen werden kann, zeigt uns die Epoche der weimarischen Welt an.« Sie faßt ihre Aufgabe historisch, beginnt mit Wielands Übersiedlung nach Weimar, indem sie zugleich die große Bedeutung der Herzogin-Mutter würdigt. Der Reiz dieser Erörterungen liegt darin, daß sie Augenzeugin des Berichteten gewesen ist, und daß sie darum manche Entwicklungseinflüsse mit erkannt hat, die dem fernerstehenden, bloß literarhistorischen Berichterstatter leicht verborgen bleiben, so z. B. die Einwirkung, die auf Wieland von seinem eigenen häuslichen Kreise geübt worden ist, insbesondere von seiner Frau, der »guten schwäbischen Jungfrau«. Wirklich feinsinnig sind Charlottens Bemerkungen über Herder und Goethe. Sie sucht aus dem Lebensgange die Deutung ihrer Charaktere. Herders schwere Jugend ist ihr der Schlüssel zu seinem Wesen, zu manchen seiner späteren Lieblingsneigungen, »Weil er fühlte, wie viel Schwierigkeiten er selbst zu überwinden hatte, war das Schulwesen ihm ein wichtiges Geschäft.« Aber sie deutet sich auch wieder aus seinem, durch frühen Kampf und schwere Widerstände hindurchgegangenen Wesen, daß die Erfolge auf keinem Gebiete seinen idealistischen Anforderungen entsprachen. Sie hat einen feinen Sinn für die Natur Herders, die darum nicht glücklich geworden ist, weil sie das Glück immer in etwas Fernem, etwas anderem suchte. Charlottens tiefste Überzeugung war, daß, wenn es überhaupt ein dauerndes Glück geben kann, es in der resignierenden Abfindung mit den gegenwärtigen Verhältnissen bestehe. »Herders Sehnsucht nach ausgebreiteter Wirksamkeit, nach einer Lehrstelle auf einer Universität wurde nicht erfüllt, und vielleicht sehr zu seinem eigenen Frieden.« Mit feinem Verständnis zeichnet sie die Stellung Herders zu den Frauen des Hofes, Anna Amalia und Luise, sowie sie auch Worte schönster Würdigung für das eigenartige Wesen von Karoline Herder findet.

Den breitesten Raum nimmt ihre Würdigung Goethes ein. Wir spüren es dieser Darstellung auf Schritt und Tritt an, wie vertraut sie mit den Einzelheiten von Goethes innerer Entwicklung, mit den Wandlungen seiner Anschauungs- und Stimmungswelt ist. Wie fein weiß sie die völlig umgestaltende Wirkung, die die italienische Reise auf Goethe hervorbrachte, zu schildern! Wie sicher findet sie die Hemmungen heraus, die Goethes Entwicklung durch manche äußeren Verhältnisse, aber auch durch gewisse Erscheinungen seines eigenen Innern erfuhr! Auch über die einzelnen Werke Goethes, insbesondere die Iphigenie, die Charlotten nach ihrer ganzen Natur am sympathischsten sein mußte, macht sie treffende Bemerkungen. An allen Werken interessiert sie immer nur das Menschliche, nie das Technische, der ethische, selten bloß der ästhetische Gehalt.

Charakteristisch ist folgende Stelle aus der Beurteilung der Eugenia in der »Natürlichen Tochter«: »Daß sie bei der Aufführung nicht den Effekt macht, wie ein Stück mit lebendig fortgehender Handlung, da nur Reflexion und Empfindung erscheint, wird auch den Dichter selbst nicht befremdet haben; denn er weiß zu gut, wohin er den größeren Teil der Zuhörer hinstellen soll, und was von dem Urteil der Menge zu halten ist. Aber auch selbst Gelehrte, denen die Griechen befreundet sind, die Geschmack und Bildung über ihr Zeitalter wegführen sollte, haben Stellen getadelt, die die höchste reinste Schönheit haben, wie

Das Leben ist des Lebens Pfand, es ruht
Nur auf sich selbst.

Wer sich erst fragen muß, ob er eine solche Stelle recht fühle, der beurteile keine poetischen Werke.«

Die Schlußbemerkung dieses Aufsatzes über die Glanzzeit Weimars, die sie ja selbst als täglich Schauende und Handelnde miterlebt hatte, ist sehr merkwürdig; wir sehen die Schatten in dem lichten Bilde schweben:

»Die Zusammenwirkung so reich begabter Menschen war von unendlichem Einfluß; und wenn die Umgebungen, teils zu sehr mit sich und ihrem kleinlichen Leben beschäftigt, allen Vorteil aus diesem reichen Blütenkranz hätten ziehen können, so wäre dieses enge von der trüben Ilm durchflossene Tal der reichste Fleck der Welt geworden.

Die Klasse von Menschen, die Goethe in Wilhelm Meister Anempfindler nennt, die so viel Sinn haben, das Gute zu erkennen, doch nicht das Schlechte abzuwehren, die, wenn der Dichter sie auf die Höhen der Menschheit erhebt, mit eigenen Schwingen zu schweben sich dünken: diese Klasse machte eine der Hauptumgebungen aus. Wie eine reich gestaltete Blume, die Krone und Blätter im schönsten Ebenmaß erzeugt; wo es nicht Bedingung ist, daß eine Blume zugrunde gehen muß, damit der übrige Teil sich reicher ausbilden könne: so stand alles bunt nebeneinander. Wenn ein kleiner ausgebildeter Kreis sich still sammelte, um ein entstandenes Kunstwerk zu vernehmen, wenn der Dichter in dem engen Kreis seine Welt sich suchen mußte, so waren die andern des weiteren Kreises mit Weltbelustigungen zufrieden und hielten es mehr für Gewinn, in einem leeren Gespräch sich zu ergötzen, als stille Zuhörer zu sein, die von den Götterbildern nur die Namen kannten, denen in der Stille die Besseren huldigten. Eine durchgehende Bildung war für die Gesellschaft, die einesteils das Hofleben ergriffen hatte, andernteils ihre Pflichten für das öffentliche Leben abtragen mußte, unmöglich. Aber verwundern mußte es den Beobachter doch, wie groß der Abstand der Gesellschaft untereinander war, und wie jeder, der beide Gesellschaften zufällig teilte, in zwei verschiedenen Elementen zu leben genötigt war.«


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