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I.
Mädchenjahre

In dem stillen Tal von Rudolstadt haben sich die Kinderjahre Charlottens von Lengefeld abgespielt. Zwischen Wiesen schlängelt sich die Saale dahin, und den Blick begrenzen von allen Seiten sanftlinige Berge. Heute ist dieses Tal dem Weltverkehr vielfach erschlossen, Dampfwagen, die die rascheste der Verbindungen zwischen Nord und Süd herstellen, durchbrausen es fast stündlich. Damals führte noch nicht einmal eine Kunststraße an Rudolstadt heran. Die Ankunft eines Fremden war ein Ereignis, und das Dasein vollzog sich in jener Stille, die entweder den Philister oder den durch Reflexion sich selbst ausgestaltenden bedeutenden Menschen erzeugt.

»Ein einziger Tag meines früheren Lebens,« sagt Charlotte in ihren Aufzeichnungen, »ist die Geschichte aller. Dieser Gewohnheit an das Einförmige danke ich in späteren Jahren viel Genuß. Ich lernte dadurch auf mir selbst zu ruhen.« Und es mag sein, daß die Geschlossenheit des Wesens, das ruhige Gleichgewicht, das sich bei all den reichen späteren Eindrücken und bei aller geistigen Empfänglichkeit und Beweglichkeit stets als der hervorstechende Zug ihrer Persönlichkeit zeigt, in jenen still dahinfließenden Kinderjahren schon sich gebildet hat.

Charlotte stammte aus altansässigem thüringischem Adelsgeschlecht. Nicht reich begütert, aber gediegenen Wohlstandes sich freuend hatten ihre Vorfahren väterlicherseits in militärischen und bürgerlichen Ämtern Tüchtiges geleistet, wie Schillers Vater in späteren Lebensjahren sich dem Forstfach zuwendete, so hat Karl Christoph von Lengefeld dem Forstwesen die Arbeit seines ganzen Lebens gewidmet: von 1743 bis zu seinem Tode (1776) war er Oberforstmeister des Fürsten von Rudolstadt. Der Ruf seiner Tüchtigkeit drang weit über das kleine Land hinaus. Des Markgrafen Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Schwedt weite Waldungen in forstmännisch richtigen Betrieb zu setzen, war ihm eine gern ergriffene und glänzend gelöste Aufgabe; aber den Anträgen dieses Fürsten, bei glänzendem Gehalt ganz in seine Dienste zu treten, widerstand er; die Anhänglichkeit an die Heimat und an den heimischen Fürsten, bei dem man »freier reden« durfte, überwog. Noch einmal trat das Schicksal mit verführerischen Aussichten an ihn heran: er wurde i. J. 1763 zu Friedrich dem Großen nach Leipzig beschieden, und das Gespräch, das der König mit ihm führte, hat er uns selbst aufbewahrt: »Nach einem kurzen Verweilen wurde gerufen und Seine Königl. Majestät redeten mich folgendergestalt an: ›Ich habe Ihn kommen lassen, Er soll mir meine Marken in Ordnung bringen, Kämpe anlegen, Holz ansäen und neue Schläge einrichten‹ und dergleichen mehr, welches eine gute Zeit dauerte. Unter anderem auf die Vorstellung meines Unvermögens auf allerley weise etc. erfolgt die Antwort ›Er verstehet es.‹ Daß die Ausmessung höchst nötig sey ec. ›Meine Ingenieurs brauche bey der Armee, Er soll aber die Plane haben.‹ Daß dergleichen Holz Anbaue nicht alle geraten wollten. ›Wo gefolget worden, ist alles geraten, weil Er es versteht.‹ Daß es eine zu wichtige Arbeit werde. ›Ich weiß Er schreibt gut, und mir darf Er nur kurz schreiben, und hat mit niemand anders zu tun, weil die Cammern unter Ihn seyn sollen.‹« Und so drängte König Friedrich weiter, hohe Stellung und ein Gehalt von 6000 Talern anbietend. Aber auch diesmal siegten die Neigung zur Heimat und ein ehrenvolles Schreiben des Rudolstädter Fürsten.

Er ist ein tatkräftiger Mann gewesen, dieser Oberforstmeister von Lengefeld. Durch einen frühzeitigen Schlaganfall – der den noch nicht Dreißigjährigen traf – am rechten Arm und linken Bein gelähmt, so daß er auf allen Wegen von seinen Jägern, »deren er zahlreiche hatte«, geführt werden mußte, war er doch unablässig im Dienste. Am frühesten Morgen bereits, noch ehe die Seinigen aufgestanden waren, ging er in die Wälder, besah die Schläge, ordnete die Rodungen an.

Charlottens Mutter war achtundzwanzig Jahre jünger als der Vater. Aber es war eine sehr glückliche Ehe, die die Achtzehnjährige mit dem Sechsundvierzigjährigen 1761 begann. Auch Fräulein Luise Juliane Eleonore Friederike von Wurmb, so war ihr Mädchenname, gehörte einem alten Geschlechte an; aber die Glieder ihrer Linie lebten in beschränkten Vermögensumständen. Sie brachte die Sparsamkeit und Umsicht, zu denen solche Umstände zwingen, mit in die Ehe, so daß sie ihrem Hausstand in vorbildlicher Weise vorstand. Aber auch die höheren Eigenschaften waren reich entwickelt. Allen Menschen, mit denen das Leben sie in Verbindung brachte, trat sie mit gütigem Herzen entgegen; und allgemeine Verehrung war die Antwort darauf. Überall bedacht, klare Verhältnisse um sich zu haben, weil nur durch sie der Mensch imstande sei aufrecht durchs Leben zu gehen, wollte sie ihr und der Ihren Geschick auf die solidesten Grundlagen stellen, und als solche sah sie ganz besonders die Übereinstimmung aller Handlungen mit den erprobten Grundsätzen der Religion und der von den Besten gebilligten bürgerlichen Moral an. Das hat wohl hie und da, zumal als sie später Erzieherin der rudolstädtischen Prinzessinnen geworden war und eine besondere charge d'âmes übernommen hatte, zu starker Betonung der »Konvenienzen« geführt, aber die letzte Richtschnur ihres Handelns ist immer das Glück der anderen gewesen. Eine überaus getreue Mutter, und als solche das Vorbild, zu dem alle jungen Mütter ihres Kreises ehrfurchtsvoll aufschauten, gehörte sie doch nicht zu jenen sehr zahlreichen Frauen, die glauben, den Mann vernachlässigen zu dürfen, um den Kindern zu leben. Sie hat vielmehr das größte Gewicht darauf gelegt, Gedanken und Beruf des Mannes zu teilen; sie war täglich mit ihm in den Forsten und am Arbeitstisch, und Charlotte hat in ihren Kinderjahren durch sie das Bild einer fast vollkommenen Ehe in sich aufgenommen. In den Briefen jener Kreise – selbst den fernerstehenden heißt sie nicht anders als » chère mère«; mit leichtem Scherze über die Frau, die, wie wir sehen werden, um der Zukunft ihrer Tochter willen selbst noch mit ihr in französische Lande zog, verband sich in jener stehenden Bezeichnung die Verehrung und Zuneigung aller.

So hat Charlotte das gleiche Glück gehabt, wie ihr Gatte: sie ist unter der Obhut vortrefflicher Eltern aufgewachsen, in denen sich bürgerlich praktische Tüchtigkeit und reiches Gemütsleben zu schönem Einklang verband.

Als die Tochter dieses wohlgegründeten Hauses ist Charlotte von Lengefeld am 22. November 1766 geboren; eine Schwester war um dreiundeinhalbes Jahr älter: Karoline, die nachherzige Frau Wilhelms von Wolzogen, an Antlitz und innerem Wesen ihr unähnlich, aber durch das Leben und durch die Anziehung der Gegensätze ihr eng vertraut geworden. Auch einen Bruder haben Lotte und Karoline gehabt; aber er ist in ganz zartem Alter gestorben. Zusammen mit den beiden Schwester wurde eine etwas ältere Cousine, Amalie von Lengefeld, erzogen.

Es entsprach dem ernsten, auf die wahren Werte des Lebens gerichteten Sinne des Vaters, seinen Töchtern eine gediegene Erziehung zu geben, und die Mutter ging um so lieber auf diese Absicht ein, als sie sich nach der Lage der Dinge auf eine frühe Witwenschaft gefaßt machen mußte, die für die Töchter die Notwendigkeit wirtschaftlicher Selbständigkeit nach sich zog. Es wurde ein Lehrer gehalten, der regelrechten, auf Vor- und Nachmittag gelegten Unterricht erteilte. Eine gewisse Neigung zum Verweilen bei einmal Begonnenem, eine Abneigung gegen rasche Übergänge, die ihrem ruhigen, nach innerem Gleichgewicht verlangenden Wesen entsprach, scheint die von ihr selbst berichtete Tatsache anzudeuten, daß sie ungern die Stunde schlagen hörte, wenn der Lehrer eine »neue Materie des Unterrichts begann«. Sie hat übrigens dem geregelten Unterricht wenig Geschmack abgewinnen können; selbst Französisch, das ein eigener »Sprechmeister« erteilte und zu dessen Erlernung eine Zeitlang eine Französin gehalten wurde, gefiel Charlotte wenig, wenngleich uns die erfreute Äußerung eines Onkels, aus einem Brief an die chère mère, erhalten ist: »Es freut mich, daß die Möpsgens so schön französisch lernen.« Dagegen neigten beide Schwestern zu künstlerischer Betätigung: Charlotte hat recht gut gezeichnet, und Karoline war musikalisch veranlagt.

Das Beste aber zur allmählichen Bildung des Geistes kam, wie damals und heute so oft, nicht durch den Unterricht, sondern durch stille Miterzieher: Natur, Menschen, Bücher, wir schilderten schon das stille und schöne Rudolstädter Tal. Das Haus, in dem die Familie wohnte – es gehörte dem Gemahl der Frau Charlotte von Stein, der berühmten nachherigen Freundin Goethes – lag außerhalb der geschlossenen Stadt, am Ostabhange des Hügels, auf dem das weit ins Land schauende Schloß liegt, in freier Umgebung. »Vor uns lag ein fürstliches Lustschloß und rechts eine alte Kirche, deren schöner Turm mir manche Phantasien erweckte, und das Geläute der Glocken, das ich zu allen Stunden hörte, stimmte mich oft ernst und melancholisch. Ich stand stundenlang an meinem Kammerfenster, sah in die dunklen Fenster des Turms hinein, hörte den Glocken zu und sah die Wolken am Himmel sich bewegen. Mein Horizont war frei. In der Ferne sahen wir schöne Berge und ein altes Schloß auf dem Berge liegen, das oft das Ziel meiner Wünsche war. Ich stellte es mir auch gar zu hübsch vor, über die Heide, so hieß die Reihe von Bergen vor meinen Augen, zu wandern und da neue Dörfer, eine neue Welt zu suchen. Auch eine Hängebirke, die in einem der Gärten stand, die ich aus meinen Fenstern, meiner kleinen Welt, übersehen konnte, hat mir viel Anlaß zu Betrachtungen gegeben.« In dieser anmutigen Wald- und Berglandschaft sind die Mädchen weidlich umhergestreift; der Vater, selbst durch seinen Beruf der Natur dankbar verbunden, wünschte es, um der Gesundheit nicht minder als um der heilsamen inneren Wirkungen willen, die dem freien Spiel in der Natur entspringen; allerlei kleinen Unfällen, zerrissenen Kleidern, Abstürzen in die Dornen, Beulen und Quetschungen ließ man getrost ihre bildende Kraft. Dabei gingen alle die einfach ursprünglichen Tätigkeiten der Landkultur in den Anschauungskreis der Kinder ein: »Es war uns eine eigene Freude, die Ernte einfahren zu sehen, und an diese wiederkehrende Freude knüpften wir unsere Erinnerungen. Bald halfen wir Gemüse aufzubewahren, bald das Obst für den Winter legen, bald halfen wir einmachen. Alles wurde uns wichtig, und es wurde mit einer Art Wichtigkeit behandelt, wovon man nur in einer einfachen Lebensweise einen Begriff hat. Das ganze Haus hatte nur einen Gesichtspunkt bei einem ökonomischen Feste; alles war beschäftigt.«

Von den Menschen stand weit im Vordergrunde der Vater. »Alles geschah für ihn, und um ihn lebten wir alle am liebsten. Er war heiter, gesprächig, hatte viel Witz, Lebhaftigkeit des Geistes und etwas Genialisches in seinem ganzen Wesen und Treiben.« Vielbeschäftigt, gab er sich in den kurzen Stunden, die er der Familie widmen konnte, ganz dem Gespräch hin; er stand durch vielseitigen amtlichen Verkehr in mannigfaltiger Berührung mit der Außenwelt, und wichtige Fragen der Menschen- und Landeswohlfahrt beschäftigten seine Gedanken, mit deren Äußerung er um so weniger zurückhielt, als er bei seiner Frau ein feines Verständnis und liebevolles Eingehen fand. So kommt es, daß beide Schwestern, besonders die ältere, auch im Alter noch mit Freude und Wehmut an diese Stunden dachten, in denen ihrem eben erwachenden Geiste die ersten reizvollen Blicke in die Erfahrungswelt eines bedeutenden Mannes gewährt wurden.

Wenig zahlreich waren die Menschen, die außer Vater und Mutter auf die frühen Kinderjahre gewirkt haben. Dann und wann wurde ein alter Geistlicher, der »Beichtvater« der Familie, besucht, der ein überaus patriarchalisches Leben führte; an ihn bewahrte Charlotte eine jener Erinnerungen, wie wir alle sie wohl aus der Kindheit haben: nicht durch die Tatsachen bedeutend, die ihr zugrunde liegen, sondern durch die Stimmungswelt, die ihr anhaftet und die in unser Leben weiterwirkt, wie der Duft einer Blume. »Die runden Fensterscheiben im Zimmer, der große Schrank von Nußbaum, mit großen geschliffenen Gläsern besetzt, mit Kirschen von Glas und einer ruhenden Kuh von Porzellan, die eine Butterbüchse war, war mir so lieb als der Kohlkopf in Vossens Luise. Ein schöner bunter Teppich lag auf dem Kaffeetisch. An der Seite des Zimmers war ein Fensterchen, das in die Küche sehen ließ, wo der Kaffee uns entgegendampfte oder die schönen Kuchen gebacken wurden. Die Hoffnung, die Erwartung, was uns bevorstände, war für mich wichtig, wenn der Tisch recht mit den Gaben des Herbstes prangte, saß ich recht gemütlich und hörte den Gesprächen, die mit Einfalt im Gemüt gehalten wurden, zu und verlor mich in dieser Welt. Wenn um sechs Uhr die große Glocke schallte, wir mochten in welchem Gespräch wir auch wollten, begriffen sein, so faltete der gute alte Mann seine Hände und betete laut, wir beteten mit; die alte Frau Pfarrerin ging zu ihm, rief ihm laut ins Ohr, denn er war taub: glückseligen guten Abend, Papa! und das vorige Gespräch begann wieder. Um sieben Uhr verließen wir diesen langen Besuch, aber nicht ohne Rührung über die Güte und Einfalt, im edeln Sinn des Wortes, unserer Freunde.« Was sonst mit dem Lengefeldischen Hause in Beziehung stand, die verwandten oder befreundeten Familien des ringsum ansässigen Adels, die von Schardt, von Stein, von Wurmb, von Beulwitz und viele andere, erschienen wohl manchmal zu Besuch und wurden wieder besucht, aber es scheint davon wenig aus den Kinderjahren im Gedächtnis geblieben zu sein; sie boten wohl nichts Besonderes, denn »sie lebten alle wie wir«.

Charlotte hat ihr Lebtag viel gelesen. Wollte man all die Bücher zusammenstellen, die sie in ihren Tagebüchern und Briefwechseln erwähnt und beurteilt, es würde eine stattliche Bibliothek herauskommen. Das ist nicht nur bei ihr, sondern bei allen einigermaßen bedeutenden Frauen damals so gewesen. Die äußere Welt lenkte wenig ab. Der Jugendunterricht war dürftig, während er heute eine gewisse Übersättigung mit positivem Wissen selbst dem weiblichen Geschlechte bringt; man empfand damals deutlicher, wie groß die Welt des Wissens- und Denkenswerten ist, und der Begriff der »abgeschlossenen Schulbildung« übte nicht seinen banausisch machenden Einfluß. Die Frauen lasen gedankenschwere Bücher, sie scheuten nicht Lektüre als Arbeit, um innerlich zu wachsen und Werte für die Ausgestaltung der Persönlichkeit in sich aufzunehmen, Bücher von der Art, wie sie heute erst wieder durch den Einfluß der Frauenbewegung an die größere Menge der Frauen herangebracht werden. Wir werden davon zu sprechen später besondere Gelegenheit finden.

Diesen goût de la lecture, von dem der alte Fénelon als von einem der besten Ergebnisse der Erziehung spricht, empfing Charlotte schon in ihrer Kindheit. Wie der Vater den durch Naturell und Zurückgezogenheit des Lebens begünstigten allzu starken Reflexionsneigungen seiner Töchter durch den geregelten Unterricht entgegenzuwirken strebte, so übte er auch Einfluß auf die Lektüre; was jene Zeit an tüchtiger Nahrung für einen kindlichen Geist bot, holte er über die Schwelle: Gellert, Rabener, historische Sammlungen, dazu eine der guten »moralischen Wochenschriften«; aber es herrschte Maß, Vielleserei ließ er nicht aufkommen, vermutlich erst nach seinem Tode fand auch Richardson Eingang, der dann nachher allerdings sehr starken Einfluß besonders auf Lottens Entwicklung gewann. –

Der Landforstmeister von Lengefeld starb 1776. Die chère mère begann die Aufgabe, die sie gewissenhaft und kundig als beste Lebensarbeit durchgeführt hat: ihre Kinder gut zu erziehen. Karoline war dreizehn, Charlotte zehn Jahre alt; das stille Wirken der Mutter hatte ein noch dankbares Feld; freundliches Nachgeben in minder Wichtigem verbindend mit überzeugter Strenge in allem, was das wesentliche der Lebensführung angeht, hat sie es verstanden, jedes der Kinder seinem angeborenen Wesen gemäß sich entwickeln zu lassen und ihnen doch die Schmiegsamkeit in der Welt zu geben, verhältnismäßig früh schien sie der Sorge um Karoline überhoben: der Sechzehnjährigen wandte sich die Neigung eines Vetters zu, des Herrn von Beulwitz; nach langer Verlobungszeit hat sie ihn geheiratet. Aber obgleich er alles das aufweisen konnte, was nach altererbten Anschauungen am Manne zur Ehe wünschenswert ist, biedere Gesinnung, Gemüt, Ehrenhaftigkeit, glücklich ist sie nicht geworden; es fehlte die dauernde Übereinstimmung des Wesens, und Karoline hat später selbst, zugleich das Interesse des Mannes wahrnehmend, dieses Band gelöst. Ihr zweiter Mann war Wilhelm von Wolzogen. Charlottens Zukunft sollte auf sichere Grundlage gestellt werden, auch wenn sich kein Mann bot. Auf den Rat ihrer Freundin von Schardt, die seit 1764 Gemahlin des Oberstallmeisters von Stein war und genaue Beziehungen zum weimarischen Hofe seit lange pflegte, faßte sie den Plan ins Auge, Charlotte als Hofdame in die Umgebung der Herzogin Luise, der Gemahlin Karl Augusts, zu bringen. Frau von Stein selber war die Fürsprecherin bei der Fürstin, die, wie wir heute wissen, sich am Hofe vereinsamt fühlte; sie empfand anders als ihr Gemahl und auch anders als fast die ganze Hofgesellschaft; so kam sie dem Plane der langbewährten Freundin ihres Hauses zustimmend entgegen. Aber es fehlte Charlotten noch eine unerläßliche Vorbedingung zu solcher Stellung: die Beherrschung der französischen Sprache. Jener Onkel hatte wohl eine gar zu optimistische Meinung von den ›Möpsgens‹ gehabt, und des französischen Sprechmeisters didaktische Kunstfertigkeit scheint nicht weit gereicht zu haben. So entschloß sich denn die Mutter, Charlotten Aufenthalt in einem Lande französischer Zunge zu gewähren. Im Winter 1782 auf 1783 wurde das junge Mädchen zum erstenmal in die weimarischen Hofkreise eingeführt. Goethe selbst traf sie hier öfters und hat lebhaftes Interesse an ihr genommen. Im Frühjahr 1783 reisten Mutter, beide Töchter und dazu der Vetter von Beulwitz, damals noch Verlobter, ab. Das Ziel waren die Ufer des Genfer Sees. Aber man wollte auch vorher Land und Leute sehen, und so reiste man behaglich von Stadt zu Stadt, bald hier bald dort schöne Landschaften, merkwürdige Industrien, vielgenannte Männer und Frauen beschauend. Erst nach elf Tagen gelangte man nach Stuttgart, hier lebte ihnen, aus nah verwandtem Thüringer Geschlecht geboren, Henriette von Wolzogen, die Mutter jenes Wilhelm von Wolzogen, der später in Karolinens Leben eine so bedeutende Rolle spielen sollte und damals noch Karlsschüler war, die Mutter jener Charlotte von Wolzogen, die in Bauerbach des jungen Schiller erste Liebe wurde. Sie zeigte ihnen Stuttgart und seine liebliche Umgebung. Da wurden der Hohenasperg besucht, das finstere Staatsgefängnis, das den unglücklichen Schubart umschloß, die Akademie, aus der zwei Jahre zuvor Friedrich Schiller zur Armee entlassen worden war, das Schloß Hohenheim, nach dem Karl Eugen seine berühmte Franziska genannt hatte, und endlich auch die Solitüde, wo Schillers Eltern wohnten und die fremden Gäste als Freunde ihrer Freundin bei sich begrüßten. Noch in hohem Greisenalter entsann sich Schillers älteste Schwester der lieblichen Erscheinung Charlottens in ihrem »blauen Jäckelchen«. Dann ging es weiter über Schaffhausen nach Zürich, wo man natürlich den weltberühmten und von den Frauen angeschwärmten Lavater besuchte, der der Mutter denn auch ein paar salbungsvolle Worte ins Album schrieb; und endlich langte man in dem blütenreichen Vevey an. Der Aufenthalt hier hat sich bis zum Mai 1784 ausgedehnt. Charlotte verlebte im Genuß der herrlichen Natur, des lebhaften und anregenden Verkehrs mit bedeutenden Menschen, die sich im Hause des Landvogts Lentulus vereinigten, und unter dem belebenden Einfluß rascher Fortschritte in ihren Studien angenehme Monate. Noch spät klingt in ihren Briefen die Glücksstimmung jener Zeit an. Es scheint auch, daß in dieser Zeit die erste Neigung das Herz der Siebzehnjährigen berührt habe: Tagebuchblätter enthalten allgemeine Andeutungen, und einige Gedichte aus unmittelbar folgender Zeit atmen eine Sehnsucht wie nach, kaum gegrüßt, verlorenem Glück. So bildet dieses Jahr zu der Stille und Einförmigkeit in Rudolstadt einen Gegensatz und eine Ergänzung, die beide unendlich förderlich waren. Auch die Rückreise brachte noch große Fülle des Neuen und Anregenden. In Richterswyl trafen sie wieder mit Lavater zusammen, der den »lieben Lengefelds« noch einmal einen Orakelspruch mitgab und von nun an längere Jahre mit dem Kreise in gelegentlichem Briefwechsel blieb. In Colmar lernte man den behaglichen Pfeffel kennen, in Speyer Sophie von Laroche, und in Mannheim vollzog sich eine flüchtige Begegnung mit Friedrich Schiller, der damals als der Verfasser der drei Jugendstücke schon eine Sehenswürdigkeit war und zu dem Frau Henriette von Wolzogen die Beziehung verschafft hatte, wie im Vorjahre zu den Eltern auf der Solitüde. Schiller selbst begrüßte die Durchreisenden nur, weil sie von Frau von Wolzogen kamen; er schreibt am folgenden Tage an diese: »Sie glauben mir nicht wie teuer mir alles ist, was von Ihnen spricht und nach Ihnen verlangt.« Karoline hat dieses Besuches in ihrem Leben Schillers gedacht, aber auch sie bestätigt, daß abgesehen davon, daß die »hohe edle Gestalt« des Dichters sie frappiert habe, kein sonderlicher geistiger Eindruck geblieben sei. »Es fiel kein Wort, das lebhafteren Anteil erregte.«

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Caroline von Wolzogen, geb. von Lengefeld.
Gemälde im Besitz des Freiherrn Ludwig von Gleichen-Rußwurm.

Nach Rudolstadt zurückgekehrt, verarbeitete Charlotte die reichen Anregungen, die die Reise ihr gebracht hatte. Bei dem Heimatsinne und der stillen Freude auch an einfacheren Naturschönheiten fand sie sich bald wieder in die ruhigen Verhältnisse des Saaletales und seiner Menschen.

Aber die Ruhe ihres Herzens sollte auch hier eine Erschütterung erfahren. Durch Herrn von Knebel, den früheren Erzieher Karl Augusts, der mit Frau von Stein viel verkehrte, wurden in Kochberg zwei Engländer vorgestellt, Lord Inverary und ein Kapitän Heron, wie es scheint des Erstgenannten jüngerer Bruder. Frau von Stein machte diese beiden Herren, die sich auch in der weimarischen besten Gesellschaft guten Ansehens erfreuten, im Lengefeldischen Hause bekannt. Heron faßte zu Lotte eine Zuneigung, die von ihr erwidert wurde. Diese Neigung wuchs während der Wintermonate 1786 auf 1787, die Charlotte in Weimar verlebte, zu einer ernsten Liebe. Sie sahen sich oft in Gesellschaft, und ein beiden gemeinsamer Zug zu denselben englischen Schriftstellern, eine tiefere Übereinstimmung in vielen Fragen des Lebens und der Anschauungen verband sie. Das Verhältnis blieb den Näherstehenden nicht unbekannt und Karl August fand sogar besonderes Gefallen daran, es zu fördern. Ostern 1787 machte Heron in Rudolstadt einen Besuch, bei dem er, so wird berichtet, zugleich seine Liebe gestand und deren Hoffnungslosigkeit aussprechen mußte. Denn er hatte Order bekommen, sich zu einer Expedition nach Indien seiner Regierung zur Verfügung zu stellen. Wir sehen nicht klar in dieser ganzen Sache. Es scheint, daß Lord Inverary die frühzeitige Bindung des als jüngerer Sohn einer adligen Familie unbemittelten Bruders nicht gewünscht hat. Aber auch Frau von Lengefeld war einer solchen Verlobung abgeneigt, und vielleicht hat Frau von Stein selbst die Entscheidung herbeigeführt. Jedenfalls sahen sich die beiden jungen Leute hier zum letzten Male, bitteren Abschiedsschmerz in der Seele, der noch lange nachzittert. Das Tagebuch zeigt um jene Zeit melancholische Blätter und trübe Resignation:

» 't is sure the hardest science to forget.«

»Nein, nicht vergessen sollen wir, sondern stark die notwendigen Übel der Trennung tragen! Denn sie ist hoffentlich nicht ewig.« So hoffte sie noch. Aber die Hoffnung war vergebens. Sie haben sich nicht wiedergesehen. Man sagt, Heron sei durch einen Unfall in Ostindien ums Leben gekommen. Er selbst hat nach seiner Abreise noch vom Rheine und aus Holland an Charlotte geschrieben, Briefe voll sehnsuchtstrauriger Stimmung. Von den kanarischen Inseln schrieb er dann noch an Knebel. »Do you ever see or hear about Rudolstadt? There is a charm in the very name. O days, happy days, days of whose happiness I was not aware, but my friend we must labour this.«

Dieser Trennungsschmerz lebte auch noch in Lotte, als sie im Dezember 1787 Schiller kennen lernte. Er traf eine Rekonvaleszentin.


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