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Wie hat man nun so im allgemeinen dieses Theater, das nach Wagner »als ein Mahnzeichen in die deutsche Welt hinausragen« sollte, in der deutschen Welt, welche zugleich die moderne ist, bisher betrachtet und verstanden?
Das Verständnis äußerte sich besonders in drei immer wiederholten Urteilen. An erster Stelle begrüßte den Plan und Bau von Bayreuth im Publikum das alte vorwurfsvolle Münchener Wort: » Nur für Wagner!« Das heißt, entweder: der Künstler ist so hochmütig, daß er für seine Werke ein eigenes Theater verlangt, oder auch: die Werke sprechen so wenig für sich selbst, daß sie eines eigenen Theaters bedürfen. Dieses Urteil beruht auf einer Verwechslung der causa efficiens mit der causa finalis, wie der Philosoph sagt. Wohl war der Plan eines Festtheaters ursprünglich verbunden gewesen mit der Ausführung des Nibelungenwerkes, das sich an Inhalt und Form über das Gewöhnliche und Gewohnte in die Sphäre des Außerordentlichen erhob, das mit einem Wort keine Oper und nicht für die Operntheater geschaffen war, so wenig wie etwa die neunte Symphonie für die Wiener Tanzböden oder das Hermannsdenkmal für den Gemüsemarkt in Detmold. Der Nibelungenring also war zunächst die causa efficiens für die Theateridee. Nun schafft aber kein wahrer Künstler sein Werk für sich selbst, sondern aus sich selbst: es ist ein Teil seines Wesens, und in seinem Wesen, seiner Persönlichkeit, seinem Genie schafft sich die Kunst selbst einen neuen Ausdruck, eine neue Offenbarung. Beethoven hat dieser Wahrheit einmal den schönen Ausdruck verliehen: »Jede echte Erzeugung der Kunst ist unabhängig, mächtiger als der Künstler selbst; sie kehrt durch ihre Erscheinung zum Göttlichen zurück und hängt nur darin mit dem Menschen zusammen, daß sie Zeugnis gibt von der Vermittlung des Göttlichen in ihm!« Mit jedem Meister tut die Kunst selbst einen Schritt weiter zur Erfüllung ihres Berufes idealer Weltbeglückung. Alles, was der Künstler so aus sich tut, tut er für die Kunst und für das Volk, dessen Geist in der Kunst sich ausspricht. Die Erfüllung des Berufes der deutschen Kunst ist also die causa finalis einer Erscheinung, wie das Idealtheater Wagners; und mit dem vollen Bewußtsein solchen Berufes hat der Künstler dieser Schöpfung sein Leben geopfert. Man darf an diesen Prozeß doch nicht denselben Maßstab anlegen, womit Personen, die niemals etwas ähnliches wie ein Kunstwerk herzustellen vermocht hätten, ihre Bemühungen messen, sich etwa eine eigene Villa oder ein eigenes Kapital zu schaffen. Diese verfolgen dabei nur das eigene Interesse und nichts anderes; das eigenste Interesse eines großen Künstlers aber ist eben das der Kunst und des Volksgeistes. Das erkennt man an den Früchten. Die Erscheinung des Bayreuther Theaters bedeutet nun in der Tat ein großes Moment in der deutschen Kunst. Die Deutschen haben dies zunächst nicht erkannt, weil bei ihnen die Kunstauffassung, welche darin ihren höchsten Ausdruck fand, bisher nur mehr die Eigentümlichkeit einzelner großer Männer geblieben war. Mehr Verständnis zeigten die Fremden, besonders von der romanischen Rasse, weil in ihrer Zivilisation das künstlerische Kulturmoment seit langer Zeit mit einbegriffen gewesen; oder auch die Feinde, insofern sie wenigstens mit Bestimmtheit etwas anderes wollten, als was Wagner wollte, und in seinem Werke den Gegensatz dieses anderen mit Schrecken verspürten. Die Fremden sahen in Bayreuth einen Höhepunkt der deutschen Kunst; die Feinde hatten es dagegen leicht, die Deutschen darin zu bestärken, daß es nichts sei als ein Theater »nur für Wagner«. Nun, und das war ja natürlicherweise etwas ganz unerlaubt Minderwertiges. Jedes Stadttheater verdiente eine reichere Unterstützung: das war doch etwas »für uns selbst«, etwas für jedermann!
Von diesem »jedermann« hatte Wagner zeitlebens nur allzu genaue Kenntnis erhalten, und wenn er dennoch in seinem Vertrauen auf den deutschen Geist und das deutsche Volk nicht entmutigt ward, so schöpfte er dies nur immer wieder, wie er oft bekannte, aus seinen schönen Erfahrungen mit einzelnen Seelen. Es wäre also ganz in seinem Sinne, wenn diese einzelnen Seelen, denen gerade seine Kunst ein wahres Lebensbedürfnis geworden, denen sie die Sehnsucht nach dem Idealen stillt, auch alle wirklich zum Genusse dieser Kunst gelangten. Denn zu dem Ideal eines Kunstwerkes, wie es ihm vorschwebte, gehörte von jeher nicht allein das ideale Theater, sondern auch das ideale Publikum. Das Vorbild der Griechen schloß ganz ersichtlich auch das griechische Volk mit ein. Das aber war ein künstlerisches Volk gewesen, dasjenige gerade, was das deutsche Volk noch nicht hatte werden können, trotz seiner großen Anlagen, die in seinen Meistern so gewaltig wie sonst nur bei den Griechen sich kund gegeben haben. Eben darum nannte ja Wagner sein Ideal ein Kunstwerk der Zukunft, seine eigenen Werke nur erst Versuche, Vorbilder, Beispiele für etwas noch nicht Vorhandenes, nicht nur eine Erscheinung, sondern ein Leben der Kunst. Ohne die Verwirklichung jenes Ideales eines künstlerischen Volkes bleibt das ideale Kunstwerk immer nur ein Fremdling in der Welt der realen Gegenwart. Es sollte wohl auch schwer sein, den Anspruch aufrecht zu erhalten, daß die höchste und ernsteste Kunst überhaupt, daß die größten Kunstwerke, die wir besitzen, heutzutage schon in der Tat eine »Kunst für alle« wären. Weder von einem Faust noch von einer neunten Symphonie wird sich dies ehrlicher Weise behaupten lassen. Und wenn unser Opernpublikum heute vor allem für den Lohengrin schwärmt und ihm dadurch die höchste Aufführungszahl im Repertoire unserer Operntheater verschafft, so bleibt es doch sehr fraglich, ob diese schöne Vorliebe ihre Wurzeln viel tiefer geschlagen habe, als in die geheimnisvolle und rührende Romantik des Stoffes und in die bezaubernde Schönheit der Musik: von der eigentlichen, tief tragischen Bedeutung des Werkes, davon, was Wagner darin ausgedrückt wissen wollte: die Tragödie des Genius in der Welt, davon wird sicherlich der geringste Teil des schwärmenden Publikums nur erst eine Ahnung gewonnen haben. Nein, eine Kunst für alle ist eine Wagnerische Kunst überhaupt nicht, kann und soll sie nicht sein. Eine Kunst, die für alle ist, ist meistenteils nichts weniger als eine Kunst, und Wagner selbst schon hat über das »neue Humanitätsprinzip«, die »Demokratisierung des Kunstgeschmackes« gespottet, welche von dem stolzen Bewußtsein beseelt werde: »Nun seien die Kunst und ihre Erzeugnisse nicht mehr bloß für die Geister der bevorzugten Klassen vorhanden, sondern der geringste Bürger habe jetzt Gelegenheit, die edelsten Typen der Kunst sich auf seinem Kamine vor Augen zu stellen.« – Tritt also dem Vorwurfe: »Nur für Wagner« die gegensätzliche Forderung »für jedermann« zur Seite, so ist beides gleicherweise abzulehnen; es beruht auf demselben Grundirrtum, der die Kunst als ein Objekt des persönlichen Willens auffaßt, davon ein einzelner, sei es der Künstler, sei es der »jedermann«, etwas » haben« will. Auf den Gegensatz zwischen dem Ich und der Kunst läuft schließlich alles in den Bayreuther Fragen hinaus.
Doch Wagner wäre nicht Wagner gewesen, wenn er sein Kunstwerk nur gewissermaßen als ein edleres Genußmittel für einzelne ins Leben gerufen hätte. Der rastlos Wirkende und Einwirkende mußte auch dem Genusse eine Kraft verliehen wünschen. Sein Kunstwerk sollte nicht nur beglücken, es sollte auch erziehen. Es sollte eine Schule werden zur künstlerischen Erziehung – des Menschengeschlechtes, wie Schiller gesagt hätte –, des deutschen Geistes, wie Wagner sagt. Eine Art idealer Klosterschule, wenn man so will, da sie sich abseits der Welt halten mußte, um rein und frei wirken zu können; jedenfalls aber ein sehr ernst zu nehmendes Uebungsmittel, um wenigstens allmählich in unserem Volksgeiste die künstlerischen Anlagen stärker auszubilden. Gerade jetzt mußte eine solche Schule entstehen; – denn niemals war sie gewiß notwendiger als zu unserer Zeit, deren Kinder am entferntesten sich zeigen von dem Ideale eines künstlerischen Volkes. Man bezeichnet diese Zeit ausdrücklich als eine solche des Materialismus, des Industrialismus. Man klagt wohl darüber, aber man läßt sich's gefallen. Auch kann man es nicht ableugnen, daß sie selbst auf künstlerischem Gebiete es zu etwas gebracht hat. Man darf sie da wohl eine Zeit der Technik, eine Zeit des Kunstgewerbes nennen. Der Nützlichkeitszweck steht freilich dabei immer voran; doch regt sich zweifellos auch im Hinblick auf die Erreichung dieses Zweckes ein wachsendes künstlerisches Bestreben. Nur führt eben dieses vielmehr abseits von der großen Kunst. In solcher Zeit wird die Kunst bessernfalls zur Geschmackssache, zu einer Zierde der zivilisatorischen Außenseite des Lebens. Man sagt zu einer solchen modernen Kunsterscheinung wohl: » made in Germany«, aber nicht: » Germany«. Das gerade ist es aber, was der Ausländer zu Wagner, zu Bayreuth sagt: »In Deinem Lager ist Deutschland.« So ist es in der Tat gekommen, daß die Aufmerksamkeit der Franzosen auf Bayreuth einst jenen früheren, in Deutschland fast noch unbeachteten Festspielen das Leben einigermaßen sichern konnte. Doch das ist schon 17 Jahre her. Als dann Bayreuth seine Existenzmöglichkeit mit Mühe und Not, aber künstlerisch glücklich durch zehn, ja, durch zwanzig Jahre bewährt hatte, fing das größere deutsche Publikum an, nicht mehr nach jedem Festspiele von seinen geistigen Leitern unter dem Strich es einfach sich vorsagen zu lassen: »Bayreuth ist tot«; sondern es gab seinem jungen Glauben daran zunächst den Ausdruck eines neuen Vorwurfs. Bayreuth hatte man einst für nicht lebensfähig gehalten, weil es doch »nur für Wagner«, den lebendigsten unserer Künstler, geschaffen worden; jetzt hielt man es eher für lebensunwürdig in deutschen Landen, weil es nämlich » nur für Ausländer« sei.
Nun, es hat überhaupt, der Zahl nach, niemals mehr Fremde als Deutsche in Bayreuth gegeben, und seit Jahren ist das deutsche Element in ganz bedeutender Ueberzahl, bis zu Dreiviertel des ganzen Publikums, dort vertreten. Wenn aber die Fremden eher kamen, sollte man sie etwa dafür mit Zurückweisung bestrafen, daß sie den Deutschen vorangegangen sind, daß sie stets unbedingter die Bedeutung von Bayreuth anerkannt, sich oft verständnisvoller und begeisterter darüber geäußert, ihren Dank ausdrücklicher kund getan haben? – Daß sie damit am Ende eben so aufgefallen sind wie durch ihre Sprache, und also von außen gesehen und gehört, wie es die meisten tun, den Eindruck hervorgerufen haben, als spielten sie eine Hauptrolle, das ist nicht so unbegreiflich. Ernstlich aber behaupten, daß Bayreuth nur für die Ausländer da sei, dürften die Deutschen doch nur dann, wenn eben sie – nicht für Bayreuth da sein wollten! Damit hätten sie selber zwar das Publikum undeutsch gemacht: das Kunstwerk aber bliebe deutsch und einzig deutsch und teilte am Ende auch nichtdeutschgeborenen Seelen, die nach ihm innig verlangen, etwas vom wahren deutschen Geiste mit.