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I.
Das Ideal.

Den Gipfel der Kunst erkannte Wagner und mußte ihn seiner ganzen Anlage nach erkennen: in der lebendigen Verbindung aller Künste zum Drama, also darin, was wir im Theater sehen. Vom Theater aber sagte er, man erblicke darin »den dämonischen Abgrund von Möglichkeiten des Niedrigsten wie des Erhabensten«. Ihm nun bedeutete es von je her allein die Möglichkeit des Erhabensten.

Um eine so hohe Auffassung vom Theater zu verstehen, muß man allerdings das bestehende Theater sich erst einmal ganz wegdenken. Man muß an die seltenen Momente denken, in denen man im Theater das Theater vergaß. Die größten theatralischen Wirkungen in der Kunstgeschichte muß man sich vergegenwärtigen. Man muß sich vor allem daran erinnern, was unseren größten Meistern die Kunst gewesen ist, und welch ein Geist in ihr und durch sie sich hat aussprechen und gestalten wollen.

Das war gewiß ein Geist, wie Wagner ihn einmal charakterisiert hat: »der zwar nicht aus der Welt hinausführt, der aber innerhalb des Lebens uns über dieses erhebt und es selbst als ein Spiel erscheinen läßt«. Die Kunst ist für den Künstler die einzige, von der Wirklichkeit streng unterschiedene Welt, welche ihm auf der Welt selbst, als Moment des Lebens, eine Erhebung und Befreiung der Seele gewährt, die er sonst in aller Welt nicht finden kann. Ueber die Welt hinaus führt allein die Religion. Doch eine Ahnung dessen, was diese ewige Befreiung bedeute, verschafft uns eine ideale Kunst. Denn sie deutet mit sinnfälligster Symbolik auf diejenigen Kräfte hin, welche in uns wirksam sein können, um uns zu unserer vollen Menschenwürde zu erheben, nämlich zu dem Range derjenigen Geschöpfe Gottes, die selbst am ewigen Wesen, an ewigen Werten teilhaben, deren wahre Heimat »nicht von dieser Welt« ist. »Was wir als Schönheit hier empfunden, wird einst als Wahrheit uns entgegengeh'n,« sang Schiller vor hundert Jahren.

Nicht nur ein Bild, nein, eine lebendige, eine empfundene Ahnung vom erhobenen und befreiten Dasein der Menschenseele schafft also die Kunst. Sie verschafft es aber zunächst und zuhöchst dem Künstler. Darum ist sie diesem etwas »Heiliges«. So sprach es auch Wagner aus, als er sein Bayreuth begründete: »Die Phänomene der dramatischen Kunst können nicht hoch und heilig genug gehalten werden!« Und jemehr die Kunst dem Künstler heilig ist, um so weniger wird er sie der Welt, wie sie ist, nur eben preisgeben wollen. Er will ja vielmehr damit auch nur wiederum eine befreiende und weihende Wirkung ausüben. Dies allein ist im Grunde seiner Seele sein Verlangen, wenn er dennoch bemüht bleibt, die ideale Welt, die er gestaltet hat, nun auch den Seelen der Mitmenschen zu erschließen, wenn er ihnen wie Schiller das befreiende Wort zuruft: »Werft die Angst des Irdischen von Euch – flüchtet aus dem engen dumpfen Leben in des Ideales Reich!« Keineswegs eine widersinnige Vermischung mit dem Religiösen hat ein solches »Hoch- und Heilighalten« der Kunst gegenüber der Welt zu bedeuten, wohl aber berührt sich hier das Künstlerische unmittelbar mit dem Moralischen; und wieder können wir Wagner darüber sich äußern hören: »Das Gute in der Kunst ist ganz gleich dem moralisch Guten, das auch keiner Absicht, keinem Anliegen entspringen kann. Unmöglich kann etwas wirklich gut sein, wenn es von vornherein auf eine Darbietung für das Publikum berechnet war. Daß Werke, deren Entstehung und Ausführung der Absicht einer Darbietung an das Publikum durchaus fernliegen mußten, dennoch dem Publikum dargeboten werden, ist ein dämonischer, in der tiefsten Nötigung zur Konzeption solcher Werke aber begründeter Schicksalszug, durch den das Werk von seinem Schöpfer der Welt gleichsam abgetreten werden muß. Fraget den Autor, ob er sein Werk als ihm noch angehörig betrachtet, wenn es in die Wege sich verliert, auf welchen nur das Mittelmäßige angetroffen wird, und zwar das Mittelmäßige, welches sich für das Gute gibt?«

So tief also empfand Wagner das Mißverhältnis zwischen dem Mitteilungsbedürfnis des Künstlers und dem Charakter der einzig möglichen Mitteilungsart.

»Diesen Prozeß dem Walten des Zufalls zu entziehen und ungestört vor sich gehen zu lassen, gab mir Plan zu den Bühnenfestspielen von Bayreuth ein.« Dies war der Zielpunkt seiner Lebensarbeit; und zweifellos wird man danach Wagners Eigenart als Künstler am meisten gerecht werden, wenn man ihm zugesteht, daß von allen großen Meistern deutscher Kunst er am unbedingtesten und am bewußtesten sein Leben lang alle seine Kräfte darauf gerichtet hat, die größtmögliche Verwirklichung jener idealen Welt zu erreichen, in welcher die Kunst ihre eigene Heimat und ihre volle Freiheit fände.

Für diesen Zentralgedanken all seines Strebens und Schaffens waren ihm da von Anfang an die Griechen das höchste Vorbild. Auch darin, wie in seiner ganzen ernsten und strengen idealen Kunstauffassung bezeugt er sich uns als nächster Geistesverwandter des begeisterten Sängers der »Götter Griechenlands«. Wer heute an Wagners Gedanken Anstoß nimmt oder den Kopf darüber schüttelt, der hat den Lieblingsdichter des deutschen Volkes noch nie verstanden, der hat auch seinen Schiller noch niemals ernst genommen. Wagner aber nahm gleich ihm die Kunst der Griechen ernst. Er schwärmte nicht nur für ihre Schönheit, etwa als eine ästhetische Norm; er erkannte vielmehr in ihr den reinsten Ausdruck des Wesens idealer Kunst als einer Lebensmacht, die edelste Bewahrerin der »Menschenwürde«, welche Schiller in die Hand »des Künstlers« gegeben fand. »Vor welcher Erscheinung,« ruft er aus, »stehen wir mit demütigenderen Empfindungen als vor der Kunst der Hellenen?« »Die Natur stellt uns den Hellenen hin mit Mutterstolz und ruft uns Menschen allen aus Mutterliebe zu: das tat ich für Euch, nun tut Ihr, aus Liebe zu Euch, was Ihr könnt!« Dies erinnert an jenes andere Wort Wagners, welches ein Menschenalter später von der jungen Bayreuther Festbühne herab ins deutsche Publikum drang, und von ihm noch so wenig verstanden ward, als wenn es mindestens »griechisch« gewesen wäre: »Wir haben Euch gezeigt, was wir können, nun wollet Ihr, dann haben wir eine Kunst!« Jene Kunst nämlich, von der Wagner gesagt hat: »Die Kunst bleibt an und für sich immer, was sie ist – wir müssen nur sagen, daß sie in der modernen Oeffentlichkeit nicht vorhanden ist.« Also nicht etwa einzelne Kunstwerke oder Künstler, sondern eben die Stellung der Kunst zur Oeffentlichkeit überhaupt kommt dabei in Betracht. Und wieder blickt Wagner nach den Griechen zurück: »Halten wir die öffentliche Kunst des modernen Europa in ihren Hauptzügen zu der öffentlichen Kunst der Griechen, um uns deutlich den charakteristischen Unterschied vor die Augen zu stellen. Die öffentliche Kunst der Griechen, wie sie in der Tragödie ihren Höhepunkt erreichte, war der Ausdruck des Tiefsten, des Edelsten des Volksbewußtseins: das Tiefste und Edelste unseres menschlichen Bewußtseins ist der reine Gegensatz, die Verneinung unserer öffentlichen Kunst.« Aber er bleibt nicht bei diesem trostlosen Vergleiche stehen, sondern er schreitet weiter fort mit der bestimmten, eine Entscheidung fordernden Frage: »Ist es möglich, daß dem durch die Wiedergeburt der Kunst (in der neuen Zeit, durch die deutschen Meister) neugestalteten Leben ein Theater entstehe, welches den innersten Motiven seiner Kultur in der Weise entspricht, wie das griechische Theater der griechischen Religion entsprach?«

Die hier geäußerten Erwägungen, von den Griechen ausgegangen, aber alsbald den Deutschen zugewandt, durchziehen in Wagners Leben einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Diese ganze Zeit ist ungefüllt mit Versuchen, jene Möglichkeit zu erweisen, – Versuchen einerseits: auch in Deutschland das bestehende Theater auf eine edlere Höhe zu erheben, andererseits aber – da dies immer und immer wieder versagen mußte –: auch in Deutschland eine besondere Stätte zu schaffen, wo das Theater, aus dem wahrhaftigen Bedürfnisse nach der idealen Welt hervorgewachsen, sich frei zum Beispiel einer solchen Welt für sich gestalten könnte. Nicht litt es ihn länger bei Schillers wehmütiger Klage: »Mühsam späh' ich im Ideenlande, fruchtlos in der Sinnlichkeit«, noch auch bei Schillers fast verzweifelter Bitte an den Hellenengeist: »Dir nachzuringen, gib mir Flügel – Wagen, dich zu wägen!« Wagner erkämpfte sich die Erfüllung, die Verwirklichung, wie er es in der Widmung seines Nibelungenringes sagt: »im Vertrauen auf den deutschenGeist«.


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