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XIII.

Es ist eine Woche nach dem Begräbnis des alten Flößner.

Iduna sitzt, in ein dickes, warmes Tuch eingehüllt, seitwärts vom Kamin. Sie ist sehr blaß, ihre Wangen sind eingesunken, und ihre Finger zupfen nervös an den Fransen.

Georg Stauff steht am Fenster, die Hände in den Taschen seines großkarierten Reiseanzugs. Sein schönes, regelmäßiges Gesicht ist leicht gerötet, die Stirn unmutig gefaltet.

Er wirft ab und zu einen heimlichen Blick auf Idunas zusammengesunkene Gestalt und fährt sich dann mit der Hand durch die Haare.

»Aber Dudi, so sei doch vernünftig«, sagt er endlich und nähert sich ihr. »Ich kann nicht länger bleiben, ich habe ja so wie so schon den Termin überschritten. Mit einer solchen Stellung darf man doch nicht spaßen ...«

»Und ich, ich kann allein hier bleiben, in meiner Lage ... Das große, stille Haus, bloß die Werner und das Kind ... Und dann werden Briefe kommen, Papiere ...«

»Ja, das muß doch alles sein, Dudi, wenn wir zum Ziel kommen wollen.« »Ach, zum Ziel, zum Ziel... Mein Ziel ist erreicht, wenn ich da bin, wo du bist; weiter hinaus will ich nichts ... Du sagtest erst selbst, du dächtest nicht ans Heiraten – und jetzt – ein Zeremoniell wie bei Chinesen. Liebst du mich denn nicht, Georgy?«

Er schlingt den Arm um sie und zieht sie an sich.

»Wie du nur fragst, Dudi ... nie war mir eine Frau, was du mir bist ...«

»Ja, aber du liebst mich so ... so bürgerlich.«

»Dudi, Kind, ich liebe deine Stimme, deine Augen, deine süßen, weißen Hände, dein wundervolles Haar, dein seltsames Wesen ... alles liebe ich an dir – alles. Fühlst du's denn nicht? Verliebt bin ich in dich, recht wie ein Narr verliebt, in meine kleine Jugendfreundin.«

»So verliebt, daß du nicht einen Tag zugeben kannst, wenn ich dich darum bitte ...«

»Ich denke doch an uns dabei, Dudi, an unser Glück, unsere Zukunft. Was machst du denn mit einem Mann, der keine Stellung hat ... nichts ... Du bringst ihm dein Vermögen mit und er ...«

»Du rechnest so kleinlich, wie ein Krämer. Du hast keinen Mut. Du glaubst nicht an dich. Tausend äußerliche Dinge müssen es dir sagen, was du bist, und auch von mir müssen es dir äußere kleine Dinge erzählen.«

Er legt ihren Kopf an seine Schulter und schließt ihr den Mund mit einem heißen Kuß, dann sagt er leise beschwichtigend:

»Doch, doch ... du bist für mich die kleine Dudi Flößner, meine Jugendliebe – aber dazu bist du noch ein süßes, holdes Weib, auf das ich voll Stolz zeigen will als auf meine Frau, über die niemand ein böses Wort sagen darf. Niemand ...«

Iduna lacht hart auf.

»Ja, weil von diesem bösen Wort aus fremdem Munde deine ganze Liebe fortfliegen würde ... deshalb!! ... O, ich habe mir das alles ganz anders gedacht ... ganz anders ...«

Sie sinkt wieder in sich zusammen und vergräbt den Kopf in den Händen.

»Du bist eine kleine, romantische Person, Dudi. Das Leben hat seine Gesetze, und wir müssen uns diesen Gesetzen fügen. Sei gut, Dudi, und vernünftig. In einer Stunde geht mein Zug. Laß uns fröhlich scheiden. Alle paar Monate besuche ich dich, und im Sommer, da treffen wir uns irgendwo in Italien, und so vergeht die Zeit ...«

Iduna nickt wie geistesabwesend.

»Ja, die Zeit wird vergehen ... und wenn wir uns dann heiraten werden ... werden wir nicht wissen, warum wir es eigentlich tun. Nur um ein Versprechen einzulösen?«

Er fährt sich mit beiden Händen an den Kopf.

»Ja, was sollen wir denn machen?«

»Zusammenbleiben.«

Seine großen blauen Augen werden förmlich schwarz vor innerer Erregung, und eine Ader schwillt ihm an der Stirn auf.

»Also gut, gut ... bleiben wir zusammen ... bitte ... du wirst ja schon sehen, was das für Folgen haben wird ... Bitte, bitte ... dein Kind wird größer ...«

»Laß das Kind aus dem Spiel.«

»Und meine Stellung ... soll ich die auch aus dem Spiele lassen, ja? Soll ich herumzigeunern mit dir? Oder soll ich dich in der Gesellschaft kompromittieren? Ich muß ja doch mein Brot verdienen ... ich hab' ja keine Renten wie du! Soll ich von deinem Geld leben, ja? ... Von deinem Geld?«

»Ja. Wenn du mich liebtest, würdest du nicht fragen, von wem das Geld kommt: von dir oder von mir. Du würdest nicht fragen, was du heute von mir annähmst, du könntest es mir in ein paar Jahren zehnfach zurückgeben. Du hast doch deine Kunst ... deine freie, schöne Kunst, du bist doch kein Beamter, der zittern muß, wenn er seine Stellung verliert ...«

»Ja doch, doch ich bin ein Beamter«, fällt Georg keuchend vor Aufregung ein. »Ich bin ein Beamter. Vor allem anderen ein Beamter; Be–am–ter –« wiederholt er wütend.

»Und du mußt deinen Vorgesetzten vielleicht um Erlaubnis bitten, mich heiraten zu dürfen?«

Sie sagt das so beißend, ironisch wie nur möglich. Sie erkennt ihre eigene Stimme nicht mehr.

Sie versteht gar nicht, wie das möglich ist, daß sie so spricht ... sie mit ihm! Mit Georgy! Sie sieht den großen, schönen Mann an, der vor ihr steht, und eine sinnlose Wut packt sie gegen diesen Mann. Sie hört immer nur das Wort: »Beamter, Beamter ...«

Ein Mann, wie hunderttausend andere – der an jedem ersten sein Gehalt bekommt, auf Orden spekuliert und seine Pension nicht verlieren will. Ein Mann, der eine brave Hausfrau braucht, eine Repräsentantin für sein Haus ... Das ist Georgy!

Jetzt lächelt sie wieder. Es ist so seltsam im Leben ... diese furchtbare, große Enttäuschung – und sie kann doch lächeln darüber.

Er sieht dieses Lächeln und deutet es auf seine Art.

»Na Dudi, bist du jetzt wieder meine kluge, süße, kleine Frau? Ja?«

Da sie nicht antwortet, sondern immer nur still vor sich hinlächelt, nähert er sich ihr wieder und beugt sich über ihre Hände, um sie zu küssen.

»Bist du mir bös, Dudi? Nein, nicht wahr, du verstehst mich? Und es ist gut, daß ich abreise, denn sonst ... Dudi, ich bin ja kein Held ... ein einziger unbeherrschter Augenblick und unser ganzes Glück wäre zerstört.«

Sie sieht ihn wieder an mit großen Augen und lächelt wieder.

»Ja ... so ...«

Das Glück! Das große Glück, auf das sie so viele Jahre gewartet hat und das nun lebendig vor ihr steht. Leise wiederholt sie: »– Das Glück wäre zerstört.«

Dann sprechen sie miteinander ganz ruhig über die Abreise.

»Acht Stunden Fahrt, da wird man durchgerüttelt«, sagt er.

»Weiß man bei dir, daß du nach Hause kommst?«

»Ja, ich schreibe immer eine Woche früher, ich liebe die Unordnung nicht. Und dann, Dudi, nicht wahr, es ist abgemacht, du läßt dich photographieren und schickst mir dein Bild? Ich will es auf meinen Schreibtisch stellen. Ich will dich immer vor Augen haben, wenn ich an dich schreibe.«

»Ich sehe nie gut aus auf einer Photographie.«

»Macht nichts ... es ist doch etwas Greifbares.«

»Ist es denn besser, das Greifbare? Glaubst du, daß ein Pappstück dich mir näher bringt, als deine Gedanken?«

»Geh, Dudi, philosophier' nicht so viel. Was wärst du für ein reizender Kerl, wenn du ein bißchen mehr wie ... wie andere Frauen wärest.«

Er umarmt sie und bedeckt ihr Gesicht mit langen, heißen Küssen.

»Ich werde mich ja sehnen nach dir ... sehnen, und plötzlich, paß auf, werde ich wieder da sein, ganz plötzlich. Und dann noch was, Dudi ... wenn du einen Rat brauchst – du weißt, ich bin immer da. Nicht wahr, das weißt du doch? Vor allem, mein geliebtes Herz, laß dich nicht ins Boxhorn jagen, verstehst du. Wenn er dir mit großen Phrasen kommen wird – das ist alles Unsinn. Er ist nicht der Mann, den du brauchst. Du brauchst einen jungen, lebendigen Menschen, mit gesunden, natürlichen Ansichten, keinen Bücherwurm ...«

Dann sagt er ihr noch einige Trostworte, dazwischen küßt er sie immer wieder, daß sie kaum atmen kann, und dann ist er aus dem Zimmer, und Iduna hört nur mehr noch seine Schritte.

Sie weint nicht. Sie ist auch nicht traurig. Sie hat nur das Gefühl, daß sie allein ist, ganz allein. Und daß sie auch allein wäre, wenn er zurückkäme, um bei ihr zu bleiben.

Die Werner kommt herein, mit Lolo, die ihr weißes Pelzmäntelchen anhat.

»Ist der Herr Georg schon fort?« fragt die Wärterin.

»Ja.«

Iduna fällt es erst jetzt auf, daß er nicht nach dem Kind gefragt hat, um es vor der Abreise zu küssen. Ja, es fällt ihr jetzt sogar ein, daß er das Kind nie geküßt und nie mit ihm gespielt hat. Er hatte in den acht Tagen keinen einzigen Augenblick für das Kind übriggehabt. Es war ihm nicht mehr, als ein junger Hund, eine junge Katze, für die man kein besonderes Interesse hat.

Iduna möchte das Kind in die Arme nehmen, es herzen. Aber sie fühlt noch Georgs Küsse auf Mund und Wangen, und so beugt sie sich nur über die Kleine und fährt ihr mit der schmalen, nervösen Hand über das Gesicht.

Dabei gleitet ihr das Tuch die Schultern hinab auf den Boden. Die Werner hebt es auf.

»Das Zimmer ist im Winter nicht zum Erheizen«, sagt sie. »Wollen Sie wirklich den ganzen Winter hierbleiben, Frau Doktor?«

Iduna sieht ratlos um sich.

»Ja, wohin denn, Werner, wohin denn?«

Die Frau blickt zu Boden.

»Wenn Sie es einmal so beschlossen haben, dann können Sie ja fahren ... wohin Sie wollen, dann hängen Sie ja von niemand ab.«

Iduna schüttelt den Kopf.

»Nein, Werner ... ich kann nicht, wie ich will. Ich kann nie, wie ich will ... Ich muß immer, ich muß ...«

Die Werner versteht nicht. Sie rückt dem Kind das Pelzmützchen zurecht und fragt leise:

»Werden Sie den Herrn Georg heiraten ... nachher?«

Iduna nickt.

»Wirklich, Frau Doktor?«

Die junge Frau fährt auf, plötzlich erweckt durch den stillen Widerstand, den sie aus der Frage herausfühlt.

»Ja ... warum soll ich ihn nicht heiraten. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit ... ich habe ihn immer ...«

Sie sucht das Wort. Sie kann auf einmal nicht mehr das Wort »geliebt« aussprechen. Sie tastet und sucht ...

»... Ja und immer ... war er ... es ... schon als Kinder waren wir immer zusammen. Ach, Werner, das verstehen Sie alles nicht, das ist alles gar nicht einfach.«

»Ach Gott, ach Gott«, seufzt die Werner.

»Pazieren, pazieren!« ruft Lolo ungeduldig. »Lolo will Sneeballen pielen. Tomm, Wener, tomm ...«

»Ja, Lolochen, ich komme ja schon ... gleich werden wir Schneeballen spielen, gleich ...«

Das Kind jubelt auf und läuft voraus zur Tür, die Werner folgt. Ihr Gesicht ist bekümmert, ihre Augen sind voll Sorge, aber ihre Lippen wiederholen mechanisch im jauchzenden Rhythmus des Kindes:

»Jawohl ... Schneeballen spielen, Schneeballen ...«


Iduna lebt ganz einsam in dem großen Haus, das Christine nach wie vor bewirtschaftet. Der Weg zum Friedhof ist verschneit, und sie hat auch kein Bedürfnis, an einem Grabe zu beten. An den Vater denkt sie kaum mehr.

Es ist ja alles vorbei ... Eine Stütze war er ihr nicht – mehr ein Begriff. Kein freundlicher Begriff. Nur wenn sie daran denkt – wie er in seiner Sterbestunde geglaubt hatte, Delten stünde mit an seinem Bett ... daß er das so selbstverständlich gefunden ... Sie kann es immer nicht begreifen ... Aber vor Georg hatte es sie damals so peinlich berührt ... Sie hatte immer gefürchtet, er würde ihr sagen: »Sieh, Dudi, es ist ein Fingerzeig« ... Zum Glück hatte er das nicht gesagt – und sie sah ihm an, wie befangen er war, bis zur Kindlichkeit befangen, daß sie ihn plötzlich so heiß lieb hatte und sich schämte, einem anderen Manne je angehört zu haben ...

Sie muß immer an diese Stunde denken, wenn sie eine dunkle kalte Leere in sich fühlt – wie wenn etwas von einem Platz fortgekommen, auf dem es Jahre und Jahre hindurch gestanden.

Georg schreibt fleißig. Lustige und verliebte Briefe, kleine Zettel, kurz vor dem Schlafengehen oder eine Karte vom Biertisch. Manchmal ein Wort über Delten, kurz und beinahe wegwerfend, und Iduna versteht nicht, warum dieses Wort sie trifft und verletzt und zum Widerspruch reizt. Wie wenn sie selbst entwertet würde dadurch. Sie schreibt ihm jeden Tag, jede Nacht.

Es sind keine Briefe, es sind Selbstgespräche. Aber sie schickt nicht alles ab, was sie schreibt – das Schönste und Beste davon, was am meisten sie selbst ist – was sie am hellichten Tage in den Stunden ihrer großen Einsamkeit über sich weiß und in klaren, offenen Worten ausspricht – das behält sie zurück.

Das liest sie durch, einmal und noch einmal ... und dann geht sie zum Kamin und wirft es ins Feuer. Und dann steht sie davor und freut sich über die züngelnde Flamme, und es ist ihr, als stünde sie selbst mitten im Feuer und als löse das Feuer sie auf in reine Atome.

Dann geht sie spazieren, ganz allein, mit großen, festen Schritten, und es ist ihr, als wäre sie nie so gesund gewesen, nie so frei, nie so ruhig. Denn sie ist stolz darüber, daß sie sich so gut kennt, beinahe kindisch eitel, daß sie so tief in ihre Seele hinabsteigen kann. Und da kommt sie sich so überlegen vor, so erhaben über die anderen, die nichts wissen von sich und im Dunkel tappen – alles dem Zufall überlassen. – Und es ist ihr alles neu in der Natur, alles jung und neu, als geschehe alles zum erstenmal, nur für sie – und sie hätte den Schlüssel des Welträtsels in der Hand ...

Sie lächelt und grüßt die Vorübergehenden mit der herablassenden Huld einer Königin. Denn sie ist sehr reich und sehr weise. Sie weiß alles. Warum die Menschen leiden, warum sie sich freuen – sie könnte es ihnen ganz genau auseinandersetzen, sie hätte die Kraft, ihnen all ihren Schmerz zu nehmen und sie das »Leben« zu lehren. Sie beobachtet sich fortwährend, jede ihrer Bewegungen, und sie kontrolliert genau, ob sie auch zu dem stimmt, was sie selbst über sich geschrieben hat. Sie gibt oft Almosen – und sie knüpft eine lange Reihe von Betrachtungen an diese Handlung, und jede Betrachtung ist ihr von unendlicher Wichtigkeit. Sie möchte sie am liebsten aufschreiben, nur um sie nicht zu vergessen für den morgigen Brief an Georg. Sie muß ihm doch imponieren mit so einem klugen, gehaltvollen Brief ...

Sie ist ja weit klüger als er, sie ist so klug, daß selbst Delten überrascht wäre. Denn sie denkt, sie denkt beständig – es ist nicht mehr ein Träumen wie früher ... o nein!

Und nun wird es dämmerig, und sie kommt nach Hause.

Christine schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.

»Aber, Frau Doktor, der Kaffee steht schon seit einer Stunde in der Röhre – wenn er nur nicht kalt ist ...«

Die Werner brummt:

»Sie haben die Überschuhe vergessen, Frau Doktor, Sie können sich den Tod holen; die dünnen Stiefel! Na ja, natürlich, die Strümpfe sind auch naß ... das geht nicht, Frau Doktor, ich bringe Ihnen gleich andere Strümpfe ...«

Dann hüpft Lolo herein:

»Sneemann hat Nase verloren, Nase kaput, Arme kaput, das hat Lolo Sneemann tot demacht!«

Iduna wechselt Schuh und Strümpfe, geht zum Kaffeetisch, auf dem ihre einsame Tasse steht, spricht mit der Kleinen, steckt ihr ein Stück Zucker in den Mund, und dann muß sie an ein kleines Mädchen denken, das immer rief: »Aufheben, Otto, aufheben ... ich will die Nase!« ... Und sie sieht das Bildhaueratelier und zwei kleine Kinder in grauen Kittelchen, die zwischen den Blöcken und Figuren mit Gipsabfällen spielen. Und dann hört sie, wie der Junge sagt: »Wenn Sie Papa wollen – er ist beim schwarzen Doktor ...«

Und nun sieht sie weiter ... den kahlen, hellen Raum, und sich selbst mit ihrem leidenschaftlichen Ausbruch, und Deltens strenge Güte, seine leidenschaftslose Ruhe ... Und immer weiter, immer weiter fliegen die Gedanken ... Ihr Hochzeitstag ... das seltsame Märchen, das Delten ihr abends erzählt, die heißen Stunden in ihrem lauschig-stillen Zimmer ... dann ihr kindisches Aufbäumen gegen allen Ernst der Tage, die allmähliche Entfremdung ... die Sehnsucht ... die Sehnsucht ... das Kind ... und wieder Sehnsucht und Haß ... Haß, erbitterter Haß ... ohne Grund ... nur aus Sehnsucht nach anderem ... dann die Abreise, beinah eine Flucht ... und dann ... dann ...

»Lolo hat kein Zucker mehr.«

Iduna blickt auf das Kind, das mit den Händchen in der Zuckerdose wühlt und mit der rosigen, spitzen Zunge den weißen Rand um die Lippen ableckt.

Und plötzlich fühlt sich Iduna weder reich noch weise ... Nur ganz entsetzlich arm und verlassen.

Es ist so furchtbar, alles wieder zu durchleben, so furchtbar ... Sie weint still vor sich hin ... Und dann reißt sie ein Blatt Papier irgendwo ab – die Rückseite einer Rechnung oder der Traueranzeige, und schreibt in fliegender Hast, mit Bleistift, tolle, ganz sinnlose Worte der Sehnsucht, der hingebendsten Leidenschaft, sie überschreibt diese Zeilen: »Mein über alles Geliebter« und zeichnet: »Dein bis zum letzten Atemzug«. Dann adressiert sie diesen Brief an Herrn Georg Stauff, Düsseldorf, Malerakademie, und ruft die Werner:

»Schnell den Brief in den Kasten, Werner ... schnell ... es ist sehr wichtig.«

Die Werner weiß – es ist gar nicht wichtig. Aber sie lächelt nicht und macht keine Bemerkung. Sie geht selbst bis an die nächste Straßenecke und wirft den Brief in den Kasten. – –

Von Delten hört Iduna gar nichts. Es sind schon zwei Wochen her, daß sie ihm geschrieben hat – und noch immer keine Antwort.

Eines Tages entschließt sie sich, zu dem Rechtsfreund ihres Vaters zu gehen. Es ist ein alter Herr, der sie noch als Kind gekannt hat, früher eine von den unzähligen Respektspersonen für sie, denen sie scheu auswich wie den Tanten und weniger beliebten Lehrern.

Während der Krankheit ihres Vaters hatte sie den alten Herrn ein paarmal flüchtig gesprochen; ungern, denn er hatte ihr gegenüber eine protegierende Art: »Na, kleine Frau? was macht die Laune?« oder: »Große Sehnsucht nach dem Herrn Gemahl? he?« Ihr war das sehr widerwärtig, diese Provinzintimität.

Und doch, sie wußte sich keinen Rat. Sie mußte jetzt zu ihm hinauf.

»Dr. Lehmann, Notar und Rechtsanwalt,« stand in fetten, breiten Buchstaben auf dem schon rissigen Porzellanschild. Es war die echte Provinzwohnung. Große Stuben mit einer so nackten Einrichtung – unglaublich viel Kommoden, und auf den Kommoden Akten in verblaßten blauen Leinwandmappen. Ein dumpfer Geruch von Seifenwasser, Küche, Tabak und staubigem Papier.

In der Kanzlei – einem einfenstrigen Zimmer – saßen zwei Männer mit gerunzeltem Gesicht und unsauberen Kragen an einem langen Tisch, dessen ehemals grünes Tuch voller Bücher war. Dr. Lehmann saß im Zimmer nebenan im neuen schwarzen Gehrock, der viel zu weit war für seine hagere Gestalt. Die Manschetten standen auf dem Schreibpult, und unter den Ärmeln blickte das graue Jägerhemd hervor.

»Oh ... kleine Frau, was verschafft mir die Ehre?«

Er schlug den Rock übereinander, wie wenn es ein Schlafrock wäre, und Iduna vermutete, daß er heute nur ausnahmsweise den schwarzen Rock trug.

Sie hatte sich auf dem Wege hierher eine kurze, klare Rede zurechtgelegt, aber nun hatte sie alles vergessen, so widerte sie all die Umgebung an.

»Setzen Sie sich, kleine Frau, womit kann ich Ihnen dienen? Der liebe Papa hat ja alles in bester Ordnung hinterlassen. Er war kein Krösus, aber ... nicht wahr, Sie sind doch ganz zufrieden. Über Erwarten, he? War ein sehr kluger Herr, Ihr Papa. Tat immer, wie wenn er kaum zu leben hätte, und dabei ... Ja, ja. So sollten's alle Eltern machen. So eine Überraschung nach dem Tode ... da hat man sie auf einmal wieder gern, die Eltern, die guten Eltern...«

Er zwinkerte mit den kleinen grauen Augen und führte ein großes buntes Taschentuch zur Nase.

»Ja, kleine Frau, ich bin sozusagen der älteste Freund Ihres Papas gewesen. Ich wußte alles... immer. Und daß der Papa lange Zeit sehr böse auf Sie gewesen ist... ja... ja. Aber da sagte ich immer: ›Flößner, mein Freund, du hast nur ein Kind und an diesem Kind mußt du wie ein Vater handeln‹. Aber er hat lange, lange nichts von Ihnen wissen wollen. Aber dann, wie er Großvater wurde – da hat er sich gefreut! Herrgott, hat er sich da gefreut! Eine Bowle hat er gebraut und ein paar Herren zu sich geladen und immer von Ihnen gesprochen, und... was ist denn, kleine Frau?«

Iduna atmete schwer und drängte mit Mühe die aufsteigenden Tränen zurück. Jedes Wort schien ihr eine Anklage, und der Vater stand plötzlich nah und lebendig vor ihr.

Der Notar schüttelte den Kopf.

»Das haben Sie wohl alles nicht gewußt, kleine Frau? Er war eben sehr eigen, der Papa. Sehr eigen. Aber gut dabei... o ja! Und stolz auf Sie. ›Doktor‹, sagte er mir oft, ›Doktor, weißt du, mein Mädel, die hat's doch in sich. Ein Charakter ist sie. Und daß sie mit meinem Schwager auskommt, dem Delten – das ist keine Kleinigkeit. Es muß doch eine ganz vernünftige Ehe geworden sein... alle Achtung. Hätt' mich nicht gewundert, wenn sie Reißaus genommen hätte nach den ersten paar Monaten – aber so ... braver Kerl. Sie ist eben mehr der Mutter nach geraten. Die hatte auch die hohen Ideen alle – aber dann hat sie sich bequemt, und 's ist leidlich geworden. Ich mag die Frauenzimmer nicht, die alles gleich hinwerfen – das ist sehr leicht, das Hinwerfen – aushalten ist schwer. Aushalten. Braver Kerl, mein Mädel, braves Frauenzimmer.« Vor der Krankheit da sprach er öfters davon, daß er nach Berlin kommen wollte, Sie besuchen – aber dann plötzlich die Krankheit – alles war anders ...«

Iduna schluchzte leise vor sich hin.

Das bunte Taschentuch stieg jetzt bis zu den kleinen grauen Augen.

»Nun, kleine Frau, jetzt sagen Sie mir, womit ich Ihnen dienen kann ...«

Iduna streckte dem alten Mann herzlich die Hand entgegen.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor ... Sie haben mir sehr wohl getan, sehr wohl ... und auch ein wenig weh ... aber das konnten Sie nicht wissen. Nur verzeihen Sie mir, wenn ich heute nicht offen mit Ihnen reden kann, heute nicht ... Ich habe nie viel von meinem Vater gewußt, auch daß er mich so liebgehabt hat ... Hab ich nicht gewußt. Es ist schrecklich, das so nachher zu erfahren, nachher ...«

Es fiel ihr ein, wie sie sich losgerissen hatte an dem letzten Tag vor seinem Tode ... wie er sie am Ärmel festhalten wollte und wie sie wegstürmte und fortblieb bis zur Nacht ... bis zu dem Augenblick, da sie an sein Sterbelager gerufen wurde. Sie konnte nicht mehr mit dem alten Freund ihres Vaters über ihre Ehe reden, über ihre Absicht, sich scheiden zu lassen. Der würde am Ende auch sagen: Hinwerfen, hinwerfen ist leicht ... aber aushalten! ...

Und wenn er dann fragen würde: »Warum« – und sie ihm alles sagen möchte, dann würde er gar meinen: »Und das ist alles? Fakta, Fakta!?«

Sie nahm hastig Abschied und ließ den dichten Crepeschleier herab, damit die Kanzleibeamten ihre geröteten Augen nicht sähen.

Vom Notar ging sie auf den Friedhof – zum erstenmal seit dem Begräbnis. Die Eltern lagen in einer Gruft. Sie hatte das Bedürfnis, sich bei ihnen auszuweinen. Der Vater stand ihr plötzlich so nah, so menschlich nahe, und sie sehnte sich nach ihm mit bangender Zärtlichkeit wie ein Kind ...

Aber als sie vor dem Grab stand, da wußte sie nicht mehr, was sie da sollte. Unter dem schweren Stein lagen verwesende Leichen –

Sollte sie vor Knochen und Würmern knien?

Es kam ihr so äußerlich und kindisch vor, dies Beten an der Gruft ... und sie wandte sich zum Gehen.

Auf dem Heimwege dachte sie nach über sich. Es war etwas Kaltes und Beobachtendes in ihr – etwas nahezu Zersetzendes. Delten fiel ihr ein. Das hatte sie von ihm angenommen – das war sein Einfluß.

Zu Hause kam ihr die Werner mit einem Brief entgegen von ihrem Mann.

Iduna wurde sehr blaß, als sie das Kuvert aufriß. Es waren nur wenige Zeilen:

»Mein liebes Kind! Dein zweiter Brief, der eine sachliche Bestätigung des ersten ist, zwingt mich, an Deinen ernsten Willen zu glauben, dich von mir scheiden zu lassen. Ich habe gestern einen Rechtsanwalt gesprochen und ihn gebeten, sich zu Deiner Verfügung zu stellen. Ich mache Dich darauf aufmerksam, daß eine Scheidung sehr lange dauert – aber daß die Schwierigkeiten, die sich bieten könnten, nicht von mir ausgehen werden. Das Kind mache ich Dir nicht streitig. Nur verlange ich, die Erziehung des Kindes kontrollieren zu können, und behalte mir eventuelle Erziehungsbestimmungen vor. Keine von ihnen wird die Trennung des Kindes von Dir erstreben. Im Gegenteil. In unserem beiderseitigen Interesse bitte ich, Deinen Groll gegen mich nicht geflissentlich zu nähren, vergiß nicht, daß ich – bevor ich Dein Mann wurde, der Bruder Deiner Mutter war und – auch nachdem ich aufgehört habe, Dein Mann zu sein – der Vater Deines Kindes bleibe.

Dein Freund
Julius Delten.«

Die Werner sah ihre junge Herrin unverwandt an.

Als Iduna aufgehört hatte, zu lesen, ließ sie den Arm mit dem Brief langsam herabsinken.

»Werner ...« »Ja, Frau Doktor ...«

»Er ist doch gut, Werner.«

Die Werner senkte den Kopf. Sie wartete noch auf etwas. Aber es kam nichts mehr.

Iduna saß im Lehnsessel am Fenster und überlas den Brief noch einmal.

Die Werner seufzte auf, zog eine Ansichtskarte aus ihrer Schürzentasche und legte sie leise auf den Tisch.

»Von Herrn Georg...«

Iduna blickte nicht auf von dem Brief, nickte nur zerstreut, und die Werner verließ das Zimmer.


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