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... Endlich ward die kleine Seele bezwungen, so sehr sie sich auch wehrte, so sehr sie auch entfliehen wollte aus dem kleinen, gebrechlichen Körper... Und dann wurde sie schließlich still ... so still und ruhig, daß man ihrer fast vergaß.
Aber der kleine Körper wurde gehegt und gepflegt ... Den vergaß man nicht ... Nie. Und so wuchs und gedieh er zur Freude der Eltern. Das kleine Neutrum wurde ein Femininum – nicht mehr »es«, sondern »sie«, und man nannte sie jetzt »Püppchen«.
Püppchen lernte Papa und Mama sagen, aber erst nach vieler Quälerei. Püppchen bekam weiße, schauderhaft gestärkte Kleidchen mit grellblauen oder grellrosa Achselbändchen, die sie mutwillig immer wieder aufband, vielleicht aus unbewußter Opposition eines angeborenen Geschmacks. Püppchen lernte »bitte, bitte« sagen und Knixe machen.
Gar bald lernte Püppchen noch etwas, was durchaus nicht im elterlichen Programm vorgesehen war: Püppchen lernte das Wörtchen »Ich will«.
Pädagogisch hieß es darauf: Kinder dürfen wünschen, nicht aber wollen.
Und Püppchen sagte von nun ab ganz artig:
»Ich wünsche will...«
Dabei blieb sie sehr lange, und weil es drollig klang, ließ man es dabei bewenden.
Mit Kinderpsychologie befaßte man sich nicht. Die Eltern gehörten ja zum Teil noch der alten guten Schule an: Ordnung, warme Füße, kühler Kopf. Dies waren die Grundprinzipien gedeihlicher physischer und psychischer Entwicklung. Püppchen war sieben Jahre alt, da wurde sie umgetauft. Es war ein lächerlicher Name: Iduna! In der Schule machte man sich lustig über ihn. Denn sie war klein und beweglich, wie mit schillernden, zitternden Flügeln ausgestattet, im Namen aber lag Ruhe, vornehme Abgeschlossenheit. Es fror sie beinahe, wenn ihre englische Gouvernante sie so nannte und dann das ewige: »go on« hinzufügte. Go on! Wie eine geistige Rute war es.
Mit großen, abgezählten Schritten ging die governess auf ein ganz bestimmtes Ziel zu – es war einfach eine mathematische Unmöglichkeit dies Ziel zu verfehlen. Die Spaziergänge sogar waren für Iduna eine Qual. Bis da oder dorthin in so und so viel Zeit. Die Zeit wechselte nach dem Stande des Thermometers. Go on, sagte die Miß und schleppte ihren Zögling durch Wald und Flur, blind für Licht- und Farbenstimmungen, taub für das Rauschen und Flüstern rings herum. Die Blumen waren da – allenfalls für die Botanisiertrommel.
» Go on«, hieß es bei jedem längeren traumverlorenen Verweilen, bei jedem sehnsuchtsvollen Aufblick ins dämmernde, silberne Grau...
Wenn Iduna die lange, stets in schwarz gekleidete Gestalt des Morgens an ihrem Bett erblickte, so zog sie das Bettlaken über den Kopf, als fürchte sie sich vor einem Strahl kalten Wassers über das Gesicht. Das ging so Jahre lang fort, bis eines Morgens ohne anderen Anlaß als das ewige » go on«, das Kind sich plötzlich im Bette aufrichtete und mit beiden hysterisch geballten Händen über die Gouvernante herfiel: » Well, now i will do it, i am going on!«
Am anderen Tage verließ die Engländerin das Haus, Iduna aber streifte ziellos im nahen Wäldchen umher, mit ausgebreiteten, emporgehobenen Armen, wie um jeden Sonnenstrahl aufzufangen, der sich durch die Zweige stahl.
Dann kam die Verliebtheit... ziel- und uferlos.
Ein phantasievolles Träumen, zu dem keine wirkliche Gestalt aus dem Leben recht passen wollte. Der längere, freundliche Blick eines Lehrers, der Händedruck eines Gymnasiasten, Bruders einer Schulfreundin, und der Roman war fertig. Ekstatische Anbetung, leidenschaftliche Liebe mit glühender Eifersucht, schlaflose Nächte, Tränen, todestrauriges Sehnen – all die zehrenden Qualen der Leidenschaft – bis zum zweiten oder dritten Wiedersehen. Dann plötzliche Ernüchterung, ja oft mehr als das: beinahe physischer Widerwille. Oft lag es an einem ungeschickt gebundenen Schlips, einem zufälligen schwarzen Rand unter dem Nagel, einem schiefgetretenen Absatz – und sie, die sich wenige Stunden vorher in Gedanken hätte töten lassen für ihren Romanhelden, zitterte nun vor Ekel bei dem Gedanken, ihm die Hand reichen oder ihm Rede und Antwort stehen zu müssen.
Und es kam einer, der sie »Dudi« nannte. Nur um weniges älter war er als sie. Von makelloser, durchgeistigter Schönheit, die harmonische Vollendung des Schönen, ohne Gegensätze und schroffe Übergänge. Wie ein weißer Marmor von Sonnenstrahlen durchglüht– die lebendig gewordene Sehnsucht, stand er vor ihr in seiner knabenhaften Weiche und Unreife.
Daß er einen Namen hatte wie andere Menschen auch – war ihr ein Wunder. Georg Stauff. Er war ihr zu hart, der Name, und sie nannte ihn Georgy, mit englisch weichem Sing-Sang.
Es war eine zarte, subtile Kinderliebe, ein Verweichlichen der Empfindung bis zur Erschlaffung des Willens, ein Kranken der Seele an heißem, unbefriedigtem Zueinanderstreben. Wenn sie – was selten geschah – einander die Hand gaben, so legten sich die beiden Flächen zusammen wie zwei Magnete. Sie mußten mit aller Willensstärke die Hände losreißen, und dann standen sie einander gegenüber, blaß und zitternd, keines Lautes fähig. Lange, lange sprachen sie kein Wort, und das schwüle Schweigen hüllte sie ein und drückte sie nieder, wie gewitterschwere Luft.
Die Großen verstanden das nicht, nur daß man sie trennen mußte, war ihnen klar. Und sie wurden getrennt. Rein Wort der Klage kam über ihre Lippen. Der Knabe wurde weit fortgeschickt, in eine andere Stadt, ins Gymnasium. Iduna blieb in ihrer alten Umgebung.
In einem großen finsteren Hause war sie aufgewachsen; von außen sah es verwittert aus und innen war es nach provinziellen Begriffen des Komforts eingerichtet. Keine weichen Linien und schillernden Flächen, keine seltenen Formen noch abgetönte Farben, nichts, woran das Auge genießend hängen blieb – alles für den täglichen Gebrauch, praktisch, nüchtern.
Nur ein wundervolles: ein Kamin. Ein mächtiger lombardischer Kamin mit weitvorspringendem, pyramidenförmigem Mantel. Im Winter wurden riesengroße Holzscheite darin aufgeschichtet und in Brand gesetzt. Sie stand daneben mit gefalteten Händen und andächtigen Gefühlen. Eine heilige Handlung war es für sie, dieses Feueranmachen. Der alte weißhaarige Knecht, zu dessen Obliegenheiten es gehörte, zu heizen, erschien ihr wie ein Priester.
Und wenn dann die Flammen züngelten, die rote Glut sich ausbreitete und stiebende Funken emporprasselten, dann kauerte sie sich zusammen auf dem dünnen Teppich, den Blick in sehnsuchtsvoller Trunkenheit in das Feuermeer getaucht, wie magnetisch angezogen von den ausgreifenden Stichflammen, erschauernd in Angst vor dem geheimnisvollen Zauber des rotglühenden Lichtes.
Stundenlang konnte sie so sitzen, ohne Gedanken, ohne Wunsch, wie aufgelöst in erfüllter Sehnsucht –
Man gab ihr einen Necknamen: Feueranbeterin. Erst später verstand sie seine Bedeutung, und da begriff sie auch, warum sie eine so schlechte Schülerin in der Katechismusstunde war – Formeln sagten ihr nichts, nur als von den züngelnden Flammen des heiligen Geistes die Rede war, leuchtete es verständnisvoll in ihren Augen auf.
Auch Georgy hatte manche Stunde mit ihr vor dem rotglühenden Kaminfeuer gesessen, vielleicht nur, weil er überhaupt gerne mit ihr zusammen war, unbekümmert um den Ort. Aber für sie verband sich die Vorstellung von ihm mit der Vorstellung vom Feuer, und als er fort war – da fand sie ihn wieder in den züngelnden Flammen, den stiebenden Funken, der roten Glut...
Und nur das war das Wesentliche ihrer Kinderzeit: das innere, phantastische Leben. Vater, Mutter, Onkel und Cousinen – es waren Scheinwesen für sie. Sie hatte kein Familiengefühl. Kaum wußte sie, wie sie aussahen. Der Vater: der übliche Mann, die Mutter: die übliche Frau, um einen halben Kopf kleiner, um acht Jahre jünger als er. Sie hatte sagen hören, daß ihre Eltern gut zueinander paßten. Es mußte auch wohl so sein – Streit gab es nie. höchstens mal rotgeweinte Augen bei der Mutter – aber so selten!
Es wurde guter Tisch geführt im Hause: reiche, gesunde Kost. Ihr wurde oft ganz schlecht, wenn sie die großen Braten auftragen sah. Die schönste Zeit für sie war es, als sie nach einer Krankheit auf einem Sofa vor dem geliebten Kamin liegend, winzige Steaks und zartes Geflügel bekam, dazu goldgelben Wein in schön geschliffenem, feinem Glase...
Sie hatte verlangt, daß der weißhaarige Knecht ihr das Essen brächte – man willfahrte dem Wunsche der Rekonvaleszentin, aber als der Knecht ungeschickter Weise einmal das Tablett fallen ließ und das feine, geschliffene Glas in Scherben am Boden lag – da verbat man sich »die unsinnigen Launen«.
Der Vater war Ökonom, er bewirtschaftete drei große fürstliche Güter, die Mutter war eine Gelehrtentochter. Sie hatte einen jüngeren Bruder, von dem sie mit furchtsamer Verehrung sprach. Selten geschah das. Aber dann veränderte sich etwas in dem stillen, unbedeutenden Gesicht, ein seltsamer Glanz kam in die wasserblauen Augen, die gefurchte Stirn schien sich zu wölben, und der Wortschatz, sonst so armselig, wurde reicher...
Iduna bekam ihn nie zu sehen, nur alle Jahre eine Postkarte, auf der nichts stand, als: »Ich lebe und grüße Euch.«
So geheimnisvoll klang das...
Ich lebe! Alles, was ein Mensch tat, dachte und fühlte – in dem einen Ausdruck gipfelte es: ich lebe!
Sie fing an zu forschen nach ihm, aber der Vater zuckte die Achseln und antwortete: »Kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen.«
Die Mutter sagte: »Das verstehst du nicht.«
»Dinge«, »das« ... Seltsame Ausdrücke für einen Menschen.
Und Iduna starrte in die Flamme des Kamins, als suche sie ihn dort, jenen rätselhaften Mann, der kein Mensch war für sie, nur ein abstrakter Begriff ...
Und die Flammen zauberten ihr ein wunderbares, märchenhaftes Leben vor, ein harmonisches Dahingleiten auf mondbeglänzten Bahnen, ohne Erdenstaub, ohne Erdenschmutz ...
Auch der Name, das einzige positive, was sie von ihm wußte, gefiel ihr: Julius Delten. Onkel Julius, Georgy – das waren die zwei Kardinalpunkte, um die sich ihr Empfindungsleben drehte.
Sie lernte viel – sie lernte, weil sie mußte. Ihre Mutter bestand darauf, ohne Erklärung dafür zu geben – vielleicht bloß, um sich an ihrem Kinde für die eigene geistige Vernachlässigung schadlos zu halten.
Lehrer gingen ein und aus: Sprachen wurden gepflegt, auf dem Programm standen neben Literatur und Geschichte – auch höhere Mathematik, Astronomie und Philosophie.
Sie erfaßte alles spielend und ließ es gleich wieder fallen. Keine Selbstdisziplin war in ihr, nur ein ewig ungestilltes Verlangen nach traumhaften unerreichbaren Sensationen, stiller Verliebtheit gleich, und dabei immer etwas Flatterndes, Hastendes, eine beständige Unruhe. Auch äußerlich – das zart eckige der Botticellischen Profile mit den dünnen, hochgewölbten Brauen und den hungrigen Augen, die weit aufgerissen nach Nahrung ausspähten – – –
Und es kam der Tag, da die Lehrer gingen und sie allein ließen mit ihrem ungestillten Hunger. Ihre Bildung aber galt für vollendet, und die Mutter schwang sich zu einer Phrase auf, wie sie deren selten in ihrem nüchternen Alltagsleben gebraucht:
»Äußere Glücksgüter werden wir dir nicht viele hinterlassen, die geistigen Schätze bleiben dir aber für immer unbenommen. Es sind die einzigen, die nicht enttäuschen.«
Fast schien es, als hätte die stille, einfache Frau nur diesen Moment abgewartet, um zu sterben: nach drei Tagen war sie eine Leiche – akute Lungenentzündung machte ihrem stillen, grauen Dasein ein Ende. Es war ihr gegangen, wie gewissen niedrig organisierten Insekten, die sterben, wenn sie ihre Eier gelegt, für die Fortpflanzung gesorgt: ihre einzige Bestimmung erfüllt haben.
Aber noch ein Vermächtnis hatte sie hinterlassen; einige Stunden vor dem Tode, in einem lichten Augenblick:
»Wenn du Hilfe brauchst, wende dich an meinen Bruder Julius.« Es erging Iduna bei diesen Worten wie einem Erben, der über dem Reichtum der Hinterlassenschaft kaum des Sterbenden gedenkt.
Die Mutter war noch nicht beerdigt, als sie ihren ersten Brief an ihren Oheim schrieb. Und als sie drei Handvoll Erde auf den Sarg der Mutter niederwarf, da fragte sie sich nur: wird er auch mir bloß schreiben: »ich lebe und grüße dich« oder wird er mehr sagen?
Noch stiller und finsterer wurde es im Hause. Zum prasselnden, glutroten Kaminfeuer flüchtete Iduna, wie zum einzigen, was ihr noch Leben, Licht und Wärme gab... Und vor dem Feuer, zusammengekauert wie früher als Kid, saß sie eines Tages und las einen Brief.
Kalte, gesunde Gletscherluft wehte aus diesem Briefe, die vornehme Stühle des vornehmen Gedankens.
Und es ward ihr zu warm, zum erstenmal zu warm vor dem Feuer. Das leise Knistern und Prasseln dünkte sie ein unerträglich lärmendes Geräusch, die züngelnden Flammen erschienen ihr wie böse Dämone, die ihren Geist verwirrten.
Sie lechzte nach dem Aufstieg in freie, kalte Regionen, Sehnsucht packte sie nach dem dünnen, reinen Äther, nach starrem, kühlem Frieden.
Und heiße glühende Worte waren es, in denen sie ihrem Sehnen nach Gletscherhöhen Ausdruck gab.
Die Liebe zu Georgy kam ihr jetzt unverständlich vor, wie ein Spuk ans Kindertagen – nur durch den Zauber eines mystisch verworrenen zu erklären. Es rang etwas in ihr nach Befreiung, nach Klarheit, und zugleich regte sich in ihr das Gefühl demütiger, tätiger Liebe.
Sie mußte anbeten können, es war ihr ein Bedürfnis... sich aufzulösen, ob in verzehrender Glut oder in erstarrender Kälte – gleichviel. Nur aufgehen ohne Rest und emporsteigen ins Unendliche...
Dann kam der letzte entscheidende Brief:
»Das Klügste für Dich wäre, Du heiratetest. Und da möchte ich Dir einen Rat geben: heirate mich. Es ist besser. Du gehst durch meine, als durch andere Hände. Ich weiß, Deine Ehe wird nur ein Übergangsstadium für Dich sein, ob zum Guten oder Bösen – wer kann es wissen. Jedenfalls wäre sie eine momentan sehr wünschenswerte Begrenzung Deiner geistigen Uferlosigkeit. Einen Romanhelden kann ich aus mir nicht machen. Dazu eigne ich mich weder äußerlich noch innerlich, wie Du aussiehst, kann ich mir beiläufig denken: klein, zart, mit gelblichem Teint. Gesunde Zähne, schöne Hände und Füße sind bei uns Deltens ja erblich. Auf weitere Details kommt es mir nicht an. Dir wohl auch kaum. Aber Dir nur aus dem Grunde, weil Du ja doch niemanden sehen wirst, wie er ist, sondern nur wie Du ihn Dir vorstellst.«