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Klarheit und Unklarheit, wie wir sie hier verstehen, sind Begriffe der Dekoration, nicht der Imitation. Es gibt eine Schönheit der vollkommen klaren, unbedingt faßbaren Formerscheinung, und daneben eine Schönheit, die ihren Grund gerade in dem nicht völlig Faßbaren hat, in dem Geheimnisvollen, das sein Antlitz nie ganz enthüllt, in dem Unauflösbaren, das jeden Augenblick ein anderes zu sein scheint. Jenes ist der Typus der klassischen, dieses der Typus der barocken Architektur und Ornamentik. Dort das vollständige In-Erscheinung-Treten der Form, ein Unüberbietbares an Klarheit, hier eine Gestaltung, die zwar klar genug ist, um das Auge nicht zu beunruhigen, aber doch nicht so klar, daß der Beschauer je zu Ende kommen könnte. In dieser Art ist die Spätgotik über die Hochgotik hinausgegangen, der Barock über die klassische Renaissance. Es ist nicht wahr, daß der Mensch nur an dem absolut Klaren Freude hat, er verlangt alsbald vom Klaren hinweg nach dem, was nie ganz in anschaulicher Erkenntnis aufgeht. So vielgestaltig die nachklassischen Stilabwandlungen sein mögen, sie haben alle die merkwürdige Eigenschaft, daß die Erscheinung sich irgendwie der völligen Faßbarkeit entzieht.
Natürlich denkt hier jedermann zuerst an die Prozesse der Steigerung des Formenreichtums: wie die Motive – seien sie architektonischer oder ornamentaler Natur – immer reicher ausgebildet werden, weil eben das Auge von sich aus nach einer Erschwerung der Aufgabe verlangt. Allein mit der Feststellung eines Gradunterschiedes zwischen einfacheren und komplizierteren Sehaufgaben. ist das Wesentliche nicht ausgedrückt: es handelt sich um zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Kunst. Nicht ob etwas leichter oder schwerer aufzufassen sei, ist die Frage, sondern ob es vollständig faßbar sei oder nur unvollständig. Ein Stück Barock, wie etwa die Spanische Treppe in Rom, kann nie, auch nicht durch wiederholte Betrachtung, die Klarheit gewinnen, die wir vor einem Bauwerk der Renaissance 232 von Anfang an empfinden: sie behält ihr Geheimnis, selbst wenn man die Formen bis ins einzelne auswendig wüßte.
Nachdem die klassische Architektur einen letzten Ausdruck für Wand und Gliederung, für Säule und Gebälk, für Tragendes und Getragenes gefunden zu haben schien, kam der Moment, wo all diese Formulierungen als ein Zwang, als etwas Starres und Unlebendiges empfunden wurden. Man ändert nicht da und dort, im einzelnen, sondern man ändert im Prinzip. Es ist nicht möglich, lautete das neue Credo, ein Fertiges und Endgültiges hinzustellen, die Lebendigkeit und Schönheit der Architektur liegt in dem Unabgeschlossenen ihrer Erscheinung, darin, daß sie, ein ewig Werdendes, in immer neuen Bildern dem Beschauer entgegenkomme.
Nicht eine kindische Spiellust, die sich in allen möglichen Umstellungen ergeht, hat die einfachen und rationellen Formen der Renaissance zersetzt, sondern der Wille, die Beschränktheit der in sich geschlossenen Form aufzuheben. Man sagt wohl: die alten Formen sind ihres Sinnes entkleidet worden und werden willkürlich »des bloßen Effektes wegen« weitergebraucht. Diese Willkür hat aber eine ganz bestimmte Absicht: durch die Entwertung der einzelnen klaren Sachform entsteht der Schein einer geheimnisvollen allgemeinen Bewegung. Und wenn auch der alte Sinn der Formen sich verflüchtigt, so gibt das doch keinen Unsinn. Nur ist die Idee von architektonischem Leben, das sich im Dresdener Zwinger abspielt, kaum mehr mit denselben Worten zu bezeichnen, wie die eines Bramanteschen Baus. Um mit einem Vergleiche das Verhältnis klar zu machen: Das unfaßbare Strömen der Kraft im Barock verhält sich zu der bestimmt gefaßten Kraft der Renaissance wie die Lichtführung Rembrandts zur Lichtführung Lionardos: wo dieser in lauter klaren Formen modelliert, läßt jener das Licht in geheimnisvoll huschenden Massen über das Bild hingehen.
Anders ausgedrückt: Klassische Klarheit heißt Darstellung in letzten bleibenden Formen, barocke Unklarheit heißt, die Form als etwas sich Veränderndes, Werdendes erscheinen lassen. Alle Umbildung der klassischen Form durch Vervielfachung der Glieder, alle Entstellung der alten Form durch scheinbar sinnlose Kombinationen läßt sich diesem Gesichtspunkt unterordnen. In der absoluten Klarheit liegt ein Motiv jener Verfestigung der Gestalt, die der Barock als etwas Unnatürliches grundsätzlich floh. 233
Überschneidungen hat es immer gegeben. Aber es ist ein Unterschied, ob sie als unwesentliches Nebenergebnis der Anlage gefühlt werden oder ob ein dekorativer Akzent darauf liegt.
Der Barock liebt die Überschneidung. Er sieht nicht nur Form vor Form, die überschneidende vor der überschnittenen, sondern genießt die neue Konfiguration, die sich aus der Überschneidung ergibt. Darum bleibt es nicht nur dem Belieben des Beschauers überlassen, durch die Wahl des Standpunktes Überschneidungen hervorzurufen: sie sind als unumgänglich schon in den architektonischen Plan aufgenommen.
Jede Überschneidung ist eine Verunklärung der Formerscheinung. Eine von Säulen oder Pfeilern überschnittene Empore ist selbstverständlich weniger klar als wenn sie dem Blick ganz offen läge. Wenn nun aber der Beschauer in einem solchen Raum – man denke etwa an die Wiener Hofbibliothek oder an die Klosterkirche von Andechs am Ammersee – den Standort wiederholt zu wechseln sich angetrieben fühlt, so ist dabei nicht der Zwang, sich die Gestalt der verdeckten Form aufzuklären, das Wirksame – diese erscheint klar genug, um nirgends eine Beunruhigung aufkommen zu lassen –, man geht vielmehr herum, weil bei der Überschneidung immer neue Bilder entstehen. Das Ziel kann nicht liegen in einem schließlichen Aufdecken der überschnittenen Form, danach verlangt man gar nicht, sondern im möglichst vielseitigen Auffassen der potentiell vorhandenen Ansichten. Die Aufgabe bleibt aber eine unendliche.
Unter beschränktern Verhältnissen gilt dasselbe für ein barockes Ornament.
Der Barock rechnet mit der Überschneidung d. h. mit der verunklärten und daher unverfestigten Ansicht auch da, wo die architektonische Anlage, frontal betrachtet, sie gar nicht enthält.
Schon früher ist die Rede davon gewesen, daß der Barock der klassischen Frontalität ausweicht. Das Motiv muß hier unter dem Gesichtspunkt der Klarheit nochmals zur Sprache gebracht werden. Die nichtfrontale Perspektive wird immer leicht Überschneidungen herbeiführen, sie bedeutet aber eine optische Verunklärung schon dadurch, daß sie von den zwei gleichen Seiten (eines Hofes oder eines kirchlichen Innenraums) die eine notwendig größer erscheinen läßt als die andere. Niemand wird diese Täuschung unangenehm empfinden. Im Gegenteil: man weiß, wie die Sache in Wirklichkeit sich verhält und schlägt das abweichende Bild als Gewinn an. Dispositionen des barocken Schloßbaus, wenn etwa eine Reihe korrespondierender Gebäulichkeiten in weitem Halbkreis um das Mittelstück sich 234 herumlegen (Beispiel: Schloß Nymphenburg) sind durchaus auf diese Art von Betrachtung angelegt. Die frontale Perspektive ergibt das wenigst typische Bild. Wir sind berechtigt, so zu urteilen, nicht nur nach Maßgabe zeitgenössischer Abbildungen, sondern auch auf die Anweisung hin, die in der Führung der Zufahrtsstraßen uns gegeben ist (Vgl. Canalettos »Schloß mit Park«). Als Prototyp aller dieser Anlagen muß immer wieder auf Berninis Kolonnadenplatz von St. Peter hingewiesen werden.
Da die Klassik eine Kunst von tastbaren Werten darstellt, so muß es ihr eine Herzenssache sein, diese Werte in vollkommenster Sichtbarkeit erscheinen zu lassen: der wohlproportionierte Raum ist in seinen Grenzen ganz klar gehalten, die Dekoration ist bis in die letzte Linie völlig übersehbar. Umgekehrt gibt es für den Barock, der auch eine Schönheit der bloßen Bilderscheinung kennt, die Möglichkeit, auf die geheimnisvolle Verunklärung der Form, die verschleierte Deutlichkeit sich einzulassen. Ja, er wird erst unter diesen Bedingungen sein Ideal ganz verwirklichen können.
Worin die Schönheit eines Renaissanceraumes, dessen entscheidende Wirkung in den geometrischen Verhältnissen liegt, von der Schönheit eines Rokoko-Spiegelsaales sich unterscheidet, ist nicht nur eine Frage von Tastbarkeit und Nicht-Tastbarkeit, sondern auch eine Frage von Klarheit und Unklarheit. Ein solcher Spiegelsaal ist außerordentlich malerisch, aber auch außerordentlich unklar. Gestaltungen der Art setzen voraus, daß die Ansprüche an die Klarheit der Erscheinung sich vollkommen gewandelt haben, daß es, was für die Klassik paradox klingt, eine Schönheit des Unklaren gibt. Mit der Einschränkung freilich, die überall zu machen ist: daß die Unklarheit nicht bis zum Beunruhigenden sich steigert.
Für die Klassik fällt Schönheit und absolute Sichtbarkeit zusammen. Es gibt hier nichts von geheimnisvollen Durchblicken, von dämmerigen Tiefen, nichts vom Geflimmer einer im einzelnen unerkennbaren Dekoration. Alles zeigt sich vollständig und zeigt sich dem ersten Blick. Der Barock dagegen vermeidet es grundsätzlich, mit der völligen Darlegung der Form auch ihre Begrenztheit zu offenbaren. Er führt in seine Kirchen nicht nur das Licht als Faktor von neuer Bedeutung ein – was ein malerisches Motiv ist –, sondern gestaltet seine Räume so, daß sie etwas Unübersehbares und Unauflösbares behalten. Selbstverständlich: auch der Bramantische St. Peter läßt sich im Innern von keinem Standpunkt aus ganz übersehen, aber man weiß immer, was man zu erwarten hat. Jetzt ist es gerade auf eine 235 Spannung abgesehen, für die es nie eine volle Aufklärung geben soll. Keine Kunst ist erfindungsreicher in überraschenden Raumkombinationen dieser Art als die deutsche des 18. Jahrhunderts, namentlich in den großen Kloster- und Wallfahrtskirchen Süddeutschlands. Aber auch auf ganz beschränkten Grundrissen ist diese Wirkung des Geheimnisvollen erreicht worden. So ist die Johann-Nepomuk-Kapelle der Brüder Asam (München) etwas für die Phantasie schlechthin Unerschöpfliches.
Es war eine Neuerung der Hochrenaissance gewesen gegenüber den Primitiven, nur so viel an Ornament zu geben, als im Anblick des Ganzen wirksam werden könnte. Der Barock basiert auf demselben Grundsatz, kommt aber zu anderen Resultaten, weil er die Forderung der absoluten, in allem Detail zu bewährenden Deutlichkeit der Erscheinung nicht mehr stellt. Die Dekoration des Residenz-Theaters in München verlangt nicht im einzelnen gesehen zu werden. Das Auge faßt Hauptpunkte, dazwischen bleiben Zonen von schwebender Deutlichkeit übrig und es ist durchaus nicht die Meinung des Architekten gewesen, man müsse sich die Form durch Nahbetrachtung aufklären. Mit der Nahbetrachtung würde man nur eine leere Hülse in die Hand bekommen, die Seele dieser Kunst offenbart sich nur dem, der dem reizenden Geflimmer des Ganzen sich hinzugeben vermag.
Mit all dem bringen wir nun eigentlich nichts Neues, es galt nur die früheren Erörterungen unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Deutlichkeit zusammenzufassen. In jedem Kapitel bedeutete der barocke Begriff eine Art von Verunklärung.
Wenn im malerischen Bild die Formen zum Eindruck einer durchgehenden selbständigen Bewegung sich einigen, so kann das doch nur geschehen, wenn sie sich nicht zu stark als Eigenwerte fühlbar machen. Was ist das aber anders als eine Herabsetzung der Sachklarheit? Das geht so weit, daß die Dunkelheit einzelne Teile vollkommen verschlingt. Das Prinzip des Malerischen muß es so wünschbar finden und das gegenständliche Interesse erhebt keinen Einspruch dagegen. Und so ergänzen sich die übrigen Begriffspaare mit dem gegenwärtigen. Das Gegliederte ist klarer als das Ungegliederte, das Begrenzte klarer als das Unbegrenzte usw. Was die sogenannte Verfallskunst an Motiven der Unklarheit aufwendet, ist ebensosehr aus einer künstlerischen Notwendigkeit hervorgegangen wie die Gebarung der klassischen Kunst.
Voraussetzung bleibt, daß der Formenapparat hüben und drüben der 236 gleiche ist. Die Form als solche muß vollkommen bekannt sein, bevor sie in die neue Erscheinung übergeführt werden kann. Selbst in den kompliziertesten Giebelbrechungen des Barock lebt immer noch die Erinnerung an die Ausgangsform weiter, nur daß eben die alten Formen ebenso wie die alten Fassaden- und Raumgestaltungen nicht mehr als ganz lebendig empfunden worden sind.
Erst für den neuen Klassizismus sind die »reinen« Formen auch wieder die lebendigen gewesen.
Als Illustration zu diesem ganzen Abschnitt geben wir nichts anderes als das Nebeneinander von zwei Gefäßen: Holbeins Zeichnung zu einer Kanne (radiert von W. Hollar) und eine Rokokovase aus dem Schwarzenberggarten in Wien. Dort die Schönheit einer Form, die sich vollständig offenbart, hier die Schönheit des Nie-ganz-Faßbaren. Modellierung und Füllung der Flächen sind dabei gleich wichtig wie die Führung des Umrisses. Bei Holbein geht die plastische Form in eine vollkommen klare und vollkommen erschöpfende Silhouette ein und die ornamentale Musterung füllt nicht nur die in der Hauptansicht gegebene Fläche genau und reinlich aus, sondern zieht ihre Wirkung überhaupt aus der vollständig übersichtlichen Erscheinung. Der Künstler des Rokoko dagegen hat grundsätzlich das gemieden, was dort gesucht ist: man kann es anstellen, wie man will, die Form läßt sich nie völlig erfassen und festlegen, das »malerische« Bild behält etwas Unerschöpfliches. 237