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Daß die plastische Figur als solche keinen andern Bedingungen untersteht als die Figur der Malerei, ist selbstverständlich. Das Problem von Tektonik und Atektonik wird ein besonderes für die Plastik erst als Problem der Aufstellung oder, anders ausgedrückt, als Problem der Beziehung zur Architektur.
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Es gibt keine Freifigur, die nicht in der Architektur ihre Wurzeln hätte. Der Sockel, die Anlehnung an eine Wand, die Orientierung im Raum – es sind alles architektonische Momente. Nun geschieht hier etwas Ähnliches, wie wir es im Verhältnis von Bildfüllung und Bildrahmen beobachtet haben: nach einer Periode gegenseitiger Rücksichtnahme fangen die Elemente an sich zu entfremden. Die Figur entwindet sich der Nische, sie will die Mauer im Rücken nicht mehr als verbindliche Macht anerkennen und je weniger in der Gestalt die tektonischen Achsen fühlbar bleiben, um so mehr reißt die verwandtschaftliche Beziehung zu jeder Art von baulicher Unterlage. Wir verweisen auf die Illustrationen des Sansovino und Puget aus dem Abschnitt »Das Lineare und das Malerische« zurück. Der Figur des Puget fehlen die Vertikalen und Horizontalen, alles ist Schräglinie und drängt damit aus dem architektonischen System der Nische heraus, aber auch der Raum der Nische wird nicht mehr respektiert. Es kommt zu Überschneidungen der Ränder und die vordere Ebene ist durchstoßen. Der Widerspruch ist aber noch nicht die Willkür. Das Element des Atektonischen kommt hier erst zur Geltung, indem es sich von einem gegensätzlichen Element abheben kann, und insofern ist dieser barocke Freiheitsdrang etwas 155 anderes als die lockere Haltung der Primitiven, die nicht wissen, was sie tun. Wenn Desiderio am Marsuppini-Grabmal in Florenz ein paar wappenhaltende Knaben einfach an die Pilasterfüße heranschiebt, ohne sie im Aufbau eigentlich zu verankern, so ist das ein Zeichen von noch unentwickeltem tektonischem Gefühl, die Art aber, wie der Barock mit seiner Plastik die Bauglieder überschneidet, ist bewußte Negation der tektonischen Schranken. In der römischen Kirche von S. Andrea beim Quirinal läßt Bernini den Titelheiligen aus dem Segmentgiebel emporschweben in den freien Raum. Man kann sagen, das liege in der Konsequenz einer Bewegungsdarstellung, allein das Jahrhundert erträgt auch bei ganz ruhigen Motiven nicht mehr das tektonisch Geschlichtete und die Konsonanz von Figur und baulicher Ordnung. Es ist trotzdem kein Widerspruch, wenn gerade diese atektonische Plastik sich von der Architektur gar nicht trennen kann.
Daß die klassische Figur sich mit so großer Entschiedenheit in die Fläche einstellt, läßt sich auch als tektonisches Motiv begreifen, ebenso wie die barocke Drehung der Figur, daß sie der Fläche sich entwindet, dem atektonischen Geschmack entsprechen mußte. Wo Figuren als Reihe aufgestellt sind, sei es am Altar oder an einer Wand, da wird es Regel, daß sie in einem Winkel zur Hauptfläche stehen. Es gehört mit zum Reiz einer Rokokokirche, daß die Plastik sich blumenhaft freigemacht hat.
Erst der Klassizismus führt wieder zur Tektonik zurück. Um von allen andern Äußerungen zu schweigen: als Klenze den Thronsaal der Münchner Residenz einrichtete und Schwanthaler die Ahnen des Königshauses modellierte, da konnte gar kein Zweifel sein, daß die Figuren mit den Säulen in Reih und Glied zu stehen hatten. Die analoge Aufgabe im Kaisersaal des Klosters Ottobeuern ist vom Rokoko so gelöst worden, daß von den Figuren je zwei sich immer etwas entgegenwenden, womit dann grundsätzlich die Unabhängigkeit von der Wandflucht bekundet ist, ohne daß die Figuren aufhörten, Wandfiguren zu sein.