Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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Die Malerei

1.
Malerei und Zeichnung

Im Traktat von der Malerei warnt Lionardo die Maler zu wiederholten Malen, die Form nicht mit Linien zu umreißenVgl. Lionardo, Buch von der Malerei, ed. Ludwig 140 (116).. Das klingt wie ein Widerspruch zu allem, was bisher über Lionardo und das 16. Jahrhundert behauptet worden ist. Allein der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Was Lionardo meint, ist eine Sache der Technik und es ist leicht möglich, daß sich die Bemerkung auf Botticelli bezieht, bei dem die Manier des schwarzen Konturierens besonders im Schwange war, in einem höheren Sinn aber ist Lionardo viel linearer als Botticelli, trotzdem er weicher modelliert und das harte Aufsitzen der Figuren auf dem Grunde überwunden hat. Entscheidend ist eben die neue Gewalt, mit der der Umriß aus dem Bilde spricht 46 und den Beschauer zwingt, ihm zu folgen.

Indem wir somit zur Analyse von Bildern übergehen, empfiehlt es sich, den Zusammenhang von Malerei und Zeichnung nicht aus dem Auge zu verlieren. Wir sind so sehr gewöhnt, alles nach der malerischen Seite hin zu sehen, daß wir auch Kunstwerken der Linie gegenüber, die Form gern etwas laxer auffassen als sie gedacht ist, und wo gar bloße Photographien zur Verfügung stehen, ist der malerischen Verwischung noch weiterer Vorschub geleistet, von den kleinen Zinkklischees unserer Bücher (Reproduktionen nach Reproduktionen)nicht zu reden. Es gehört Übung dazu, Bilder so linear zu sehen, wie sie gesehen werden wollen. Die bloße gute Absicht genügt nicht. Selbst wenn man glaubt, der Linie sich bemächtigt zu haben, wird man nach einer Weile systematischer Arbeit finden, daß es zwischen linearem Sehen und linearem Sehen noch Unterschiede gibt und daß die Intensität der Wirkung, die von diesem Element der Formbezeichnung ausgeht, wesentlich gesteigert werden kann.

Man sieht ein Holbeinsches Porträt besser, wenn man vorher Holbeinsche Zeichnungen gesehen und auswendig gelernt hat. Die ganz einzige Steigerung, die der Linearismus hier erfahren hat, indem unter Auslassung alles anderen nur die Teile der Erscheinung, »wo die Form sich umbiegt«, auf Linie gebracht sind, wirkt in der Zeichnung am unmittelbarsten und doch beruht auch das gemalte Bild durchaus auf dieser Basis und das Schema der Zeichnung muß im Bildeindruck noch immer als das Wesentliche durchschlagen.

Wenn es aber schon für die bloße Zeichnung gilt, daß der Ausdruck linearer Stil nur den einen Teil des Phänomens deckt, weil doch, wie das bei Holbein so gut wie bei dem oben gebrauchten Beispiel Aldegrevers der Fall ist, die Modellierung auch mit nichtlinearen Mitteln gegeben werden 47 kann, so wird einem bei der Malerei erst recht zum Bewußtsein kommen, wie sehr die herkömmliche Stilbezeichnung sich einseitig auf ein einzelnes Merkmal stützt. Die Malerei stellt mit ihren alles deckenden Pigmenten grundsätzlich Flächen her und unterscheidet sich dadurch, auch wo sie monochrom bleibt, von jeder Zeichnung. Linien sind da und überall fühlbar, aber eben nur als die Grenzen der plastisch empfundenen und tastbar durchmodellierten Flächen. Auf diesem Begriff liegt der Nachdruck. Die Tastbarkeit der Modellierung entscheidet über die Einordnung einer Zeichnung auf seiten der linearen Kunst, auch wenn die Schatten vollkommen unlinear, als ein bloßer Hauch auf dem Papier liegen. Für die Malerei ist die Art von Abschattierung von vornherein selbstverständlich. Im Gegensatz zur Zeichnung aber, wo die Ränder der Flächenmodellierung gegenüber unverhältnismäßig stark zur Geltung kommen, ist hier das Gleichgewicht hergestellt. Dort funktioniert das Lineament wie ein Rahmenwerk, in das die modellierenden Schatten eingespannt sind, hier erscheinen beide Elemente als Einheit und die durchgehend gleiche plastische Bestimmtheit der Formgrenzen ist nur das Korrelat der durchgehend gleichen plastischen Bestimmtheit der Modellierung.

 

2.
Beispiele

Nach dieser Einleitung können wir ein paar Beispiele von linearer und malerischer Malerei einander gegenüberstellen. Der gemalte Kopf Dürers von 1521 ist auf einem ganz ähnlichen Grundriß aufgebaut wie der gezeichnete des Aldegrever, dessen Abbildung wir oben gebracht haben. Die Silhouette von der Stirn herunter sehr stark zum Sprechen gebracht, die Mundspalte eine sichere, ruhige Linie, Nasenflügel, Augen, alles gleichmäßig bestimmt bis in den letzten Winkel. Im gleichen Grade aber, wie die Formgrenzen für das Tastgefühl festgelegt sind, sind die Flächen im Sinne der 48 Auffassung durch die Tastorgane modelliert, glatt und fest, die Schatten als die der Form unmittelbar anhaftenden Dunkelheiten verstanden. Sache und Erscheinung gehen völlig ineinander auf. Der Anblick aus der Nähe gibt kein anderes Bild als der Anblick aus der Ferne.

Dürer: Bildnis des B. van Orley

       

Frans Hals: Männliches Bildnis

Demgegenüber ist die Form bei Frans Hals grundsätzlich der Greifbarkeit entzogen. Sie ist so wenig faßbar wie ein vom Winde bewegter Busch oder wie die Wellen eines Flusses. Nahbild und Fernbild treten auseinander. Ohne daß man den einzelnen Strich verlieren soll, fühlt man sich vor dem Bilde doch mehr auf eine Betrachtung von weitem hingewiesen. Der ganz nahe Anblick ist sinnlos. Die vertriebene Modellierung ist einer stoßweisen Modellierung gewichen. Die rauhen, zerklüfteten Flächen haben alle unmittelbare Vergleichbarkeit mit der Natur abgestreift. Sie wenden sich nur an das Auge und wollen nicht als tastbare Flächen zur Empfindung sprechen. Die alten Formlinien sind zertrümmert. Man darf keinen einzelnen Strich mehr wörtlich nehmen. Am Nasenrücken zuckt es, die Augen zwinkern, der Mund spielt. Es ist genau dasselbe System der formentfremdeten Zeichen, wie wir es früher bei Lievens analysiert haben. Unsere kleinen Abbildungen können natürlich den Tatbestand nur sehr unvollkommen deutlich machen. Vielleicht wirkt die Behandlung des Weißzeuges am überzeugendsten.

Läßt man die großen Stilgegensätze gegeneinander wirken, so verlieren die individuellen Unterschiede an Bedeutung. Man sieht dann, daß das, was Frans Hals gibt, im Grunde auch bei van Dyck und Rembrandt vorhanden ist. Es sind nur Gradunterschiede, die sie trennen, und verglichen mit Dürer, einigen sie sich zu einer geschlossenen Gruppe. Statt Dürer aber kann man auch Holbein setzen oder Massys oder Raffael. Andrerseits wird man bei isolierter Betrachtung des einzelnen Malers es nicht vermeiden können, die gleichen Stilbegriffe zur Kennzeichnung von Anfang und Ende seiner Entwicklung heranzuziehen. Die Bildnisse des jungen Rembrandt sind (relativ) plastisch und linear gesehen gegenüber den Bildnissen des reifen Meisters.

Wenn es aber immer die spätere Entwicklungsstufe bedeutet, sich der bloßen optischen Erscheinung überlassen zu können, so ist damit keineswegs gesagt, daß der reine plastische Typ am Anfang stehe. Der Linienstil Dürers ist nicht nur die Steigerung einer vorhandenen gleichlautenden Tradition, sondern bedeutet zugleich die Ausscheidung aller widersprechenden Elemente in der Stilüberlieferung des 15. Jahrhunderts. 49

Wie sich dann der Übergang vom reinen Linearismus zum malerischen Sehen des 17. Jahrhunderts im einzelnen vollzieht, läßt sich gerade am Porträt sehr klar nachweisen. Wir können hier aber nicht darauf eingehen. Allgemein darf man so viel sagen, daß es ein immer stärkeres Zusammengehen von Licht und Schatten ist, das der entschieden malerischen Auffassung die Wege bereitet. Was das heißt, wird jedem deutlich werden, der etwa einen Antonis Moor mit dem ihm ja immer noch verwandten Hans Holbein vergleicht. Ohne daß der plastische Charakter aufgehoben wäre, beginnen da doch schon die Helligkeiten und die Dunkelheiten zu selbständigerem Leben zusammenzutreten. Im selben Moment, wo die gleichmäßige Schärfe der Formenränder nachläßt, gewinnt das, was nicht Linie ist, eine stärkere Bedeutung im Bild. Man sagt wohl auch, die Form sei breiter gesehen: das heißt nichts anderes, als daß die Massen mehr Freiheit bekommen haben. Es ist dann, als ob Lichter und Schatten in lebhaftere Berührung miteinander gerieten und an diesen Wirkungen hat das Auge zunächst gelernt, dem Schein sich anzuvertrauen und schließlich eine vollständig formentfremdete Zeichnung für die Form selbst zu nehmen. –

Bronzino: Eleonore von Toledo

Wir fahren fort mit zwei Beispielen, die den typischen Gegensatz der Stile am Thema der Kostümfigur illustrieren. Es sind Beispiele der romanischen Kunst, Bronzino und Velasquez. Wenn sie nicht am selben Stamm gewachsen sind, so ist das ohne Belang für uns, die wir ja nur Begriffe deutlich machen wollen.

Velasquez: Infantin Margaretha Theresia

Bronzino ist gewissermaßen der Holbein Italiens. Sehr charakteristisch in der Zeichnung der Köpfe mit der metallischen Bestimmtheit von Linien und Flächen ist sein Bild namentlich interessant als Darstellung eines reich ornamentierten Kostüms im Sinne eines exklusiv linearen Geschmackes. Kein menschliches Auge kann die Dinge so sehen, ich meine mit dieser gleichmäßigen Bestimmtheit der Linie. Nicht auf einen Augenblick ist der Maler vom Pfade der unbedingten gegenständlichen Deutlichkeit abgewichen. Es ist, als ob man bei der Darstellung einer Bücherwand Buch um Buch und jedes gleich klar umrandet malen wollte, während doch ein auf die Erscheinung eingestelltes Auge nur den Schimmer aufnimmt, der über das Ganze hinspielt und wo die einzelne Form bald mehr bald weniger in diesem Schimmer untergeht. Ein solches auf die Erscheinung eingestelltes Auge hat Velasquez besessen. Das Kleidchen seiner kleinen Prinzessin war mit Zickzackmustern bestickt, aber was er uns gibt, ist nicht das Ornament an sich, sondern das flimmernde Bild des Ganzen. Einheitlich von weitem gesehen, 50 haben die Muster ihre Klarheit verloren, ohne doch undeutlich zu wirken. Man sieht durchaus, was gemeint ist, aber die Formen sind nicht zu fassen, sie kommen und gehen, sie werden überspielt von den Glanzlichtern des Stoffes und für das Ganze ist der Rhythmus der Lichtwellen entscheidend, der auch noch (in der Abbildung unerkennbar) den Grund erfüllt.

Man weiß, daß das klassische 16. Jahrhundert Stoffe nicht immer so gemalt hat wie Bronzino und daß auch Velasquez nur eine Möglichkeit malerischer Interpretation darstellt, aber neben dem großen Stilkontrast spielen die einzelnen Varianten keine große Rolle. Grünewald ist innerhalb seiner Zeit ein Wunder malerischen Stils und die Disputation des heiligen Erasmus mit Mauritius (in München) gehört zu seinen letzten Bildern, aber vergleicht man die goldgestickte Kasula dieses Erasmus auch nur mit Rubens, so ist die Kontrastwirkung so stark, daß man nicht daran denkt, Grünewald vom Boden des 16. Jahrhunderts ablösen zu wollen. 51

Die Haare bei Velasquez wirken mit vollendeter Stofflichkeit, dargestellt ist aber weder die einzelne Locke noch das einzelne Haar, sondern eine Lichterscheinung, die zu dem objektiven Substrat nur noch eine ganz lose Beziehung hat. So ist die Materie nie vollkommener dargestellt worden, als wenn der alte Rembrandt einen Greisenbart mit breit hingestrichenen Pigmenten gemalt hat und doch fehlt jene greifbare Aehnlichkeit der Form vollständig, um die sich Dürer und Holbein bemüht haben. Auch im graphischen Werk, wo die Versuchung nahe liegt, mit dem einzelnen Strich das einzelne Haar – wenigstens da und dort – herauszuholen, entfernen sich die späteren Radierungen Rembrandts durchaus von jeder Vergleichbarkeit mit dem Faßbar-Wirklichen und halten sich lediglich an den Schein des Ganzen. 52

Und so ist es – um auf ein anderes Gebiet überzugehen – mit der Darstellung der Blätterunendlichkeit von Baum und Busch. Die klassische Kunst hat auch da den Typus des reinen Blätterbaumes zu gewinnen gesucht, das heißt, wenn immer möglich, das Laub mit einzeln sichtbar gemachten Blättern gegeben. Aber diesem Verlangen sind natürlich enge Grenzen gezogen. Schon in geringer Entfernung schlägt die Summe der Einzelformen zur Massenform zusammen und kein noch so spitzer Pinsel kann da detaillierend nachkommen. Und doch hat die bildende Kunst des linearen Stils auch hier sich durchgesetzt. Wenn es nicht möglich ist, das einzelne Blatt mit begrenzter Form zu geben, so gibt man eben den Blattbüschel, die einzelne Laubgruppe mit begrenzter Form. Und aus solchen zunächst klar geschiedenen Blattbüscheln ist dann allmählich, befördert durch eine immer lebhafter werdende Strömung zwischen den hellen und den dunklen Massen, der unlineare Baum des 17. Jahrhunderts hervorgewachsen, wo einzelne Farbflecke nebeneinander gesetzt sind, ohne daß der einzelne Fleck Anspruch machte, mit der zugrunde liegenden Blattform kongruent zu sein.

Schon der klassische Linearismus hat aber auch eine Darstellungsart gekannt, wo der Pinsel eine Formzeichnung in ganz freien Linien und Tupfen gibt. Albrecht Altdorfer hat, um ein hervorragendes Beispiel zu nennen, das Laubdickicht seiner Georgslandschaft in der Münchner Pinakothek (1510) so behandelt. Sicher, diese zierlichen Linienmuster decken sich nicht mit einem körperlichen Tatbestand, aber es sind eben doch Linien, klare ornamentale Muster, die für sich gesehen werden wollen und sich nicht nur im Eindruck des Ganzen behaupten, sondern auch dem nächsten Nahblick standhalten. Darin liegt der grundsätzliche Unterschied zum malerischen Baumschlag des 17. Jahrhunderts.

Wenn man von Vorahnungen des malerischen Stils reden will, so findet man sie eher im 15. als im 16. Jahrhundert. Dort gibt es, trotz der vorherrschenden Richtung auf das Lineare, in der Tat einzelne Ausdrucksweisen, die zum Linearismus nicht stimmen und später denn auch als unrein ausgeschieden worden sind. Sie haben auch in die Graphik Eingang gefunden. So kommen zum Beispiel im alten Nürnberger Holzschnitt (Wohlgemut) Gebüschzeichnungen vor, die mit ihrer formentfremdeten, wirren Linie einen Eindruck machen, den man kaum anders als impressionistisch bezeichnen kann. Erst Dürer hat dann – wie gesagt – den ganzen Inhalt der Sichtbarkeit konsequent der formbezeichnenden Linie unterworfen. 53

Dürer: Hieronymus im Gehäus
 

       

Ostade: Malerwerkstatt
(Radierung von W. Unger)

Abschließend stellen wir noch den Hieronymus-Stich Dürers als lineares Interieurbild mit der malerischen Fassung des gleichen Motivs bei Ostade zusammen. Das gewöhnliche Abbildungsmaterial reicht nicht mehr aus, wenn man an einem szenischen Ganzen die Linearität in ihrer vollen Bestimmtheit demonstrieren will. Alles erscheint verwischt in den kleinen Nachbildungen nach Gemälden. Wir müssen schon zu einem Stich greifen, um es deutlich zu machen, wie der Geist der festgerandeten Körperlichkeit über die Einzelfigur hinaus sich auf der tiefen Bühne behauptet. Und trotz der Ungleichartigkeit bringen wir das Bild Ostades in einer (modernen) Radierung, weil auch hier die Photographie zu viel schuldig bleibt. Aus einem solchen Vergleich springt dann das Wesentliche des Gegensatzes mit großer Kraft hervor. Ein und dasselbe Motiv – geschlossener Raum mit seitlich einfallendem Licht – ist hüben und drüben zu ganz verschiedener Wirkung gebracht. Dort alles Grenze, tastbare Fläche, isolierte Gegenständlichkeit, hier alles Übergang und Bewegung. Das Licht hat das Wort, nicht die plastische Form: ein dämmeriges Ganzes, in dem 54 einzelne Gegenstände deutlich werden, während man dort die Gegenstände als die Hauptsache, das Licht als etwas Dazutretendes empfindet. Was Dürer in erster Linie gesucht hat, die einzelnen Körper nach ihren plastischen Grenzen fühlbar zu machen, ist hier grundsätzlich vermieden: alle Ränder sind unfest, die Flächen entziehen sich der Tastbarkeit, und das Licht wogt frei dahin, wie ein Strom, der seine Dämme durchbrochen hat. Das Gegenständliche ist nicht unerkennbar, allein es ist gewissermaßen in eine übergegenständliche Wirkung aufgelöst. Man sieht den Mann an der Staffelei und sieht in seinem Rücken die vorspringende dunkle Ecke, beide deutlich genug, aber die dunkle Masse der einen Form bindet sich mit der dunklen Masse der anderen und leitet mit den dazwischen erscheinenden Lichtflecken eine Bewegung ein, die, mannigfaltig sich verzweigend, den Bildraum als eine selbständige Kraft durchwaltet.

Kein Zweifel: dort spürt man eine Kunst, die auch Bronzino umschließt, und hier heißt die Parallele – trotz aller Unterschiede – Velasquez.

Dabei ist nicht zu verkennen, daß der Stil der Darstellung zusammengeht mit einer auf die gleiche Wirkung hinzielenden Anordnung der Form. Wie das Licht als einheitliche Bewegung wirkt, so ist die gegenständliche Form in einen ähnlichen Strom von Bewegung einbezogen. Die Starrheit ist umgesetzt in das lebendig Sich-Rührende. Die Kulisse links, bei Dürer ein toter Pfeiler, ist eigentümlich flackernd geworden, die Decke nicht mehr glatt und geschlossen, sondern bewegt im Verfall und von Anfang an vielfältig in der Form, die Winkel nicht mehr klar und sauber, sondern geheimnisvoll verstellt mit vielerlei Gerümpel – ein Musterbeispiel »malerischer Anordnung«. Das im Raum verdämmernde Licht ist an sich ein stofflich-malerisches Motiv im ausgezeichneten Sinn.

Malerisches Sehen ist nun aber – wie schon gesagt – an eine malerisch-dekorative Szenerie nicht notwendig geknüpft. Das Thema kann viel einfacher sein, ja des pittoresken Charakters völlig entbehren und es kann durch die Behandlung doch einen Reiz von unendlicher Bewegung erhalten, der über alles Malerische, das im Stoff liegt, hinausgeht. Gerade die eigentlich malerischen Talente haben das »Pittoreske« immer bald abgestreift. Wie wenig davon ist bei Velasquez zu finden! 55

 

3.
Farbe

Malerisch und farbig sind zwei ganz verschiedene Dinge, aber es gibt eine malerische und eine nichtmalerische Farbe und davon soll hier noch – wenigstens andeutungsweise – die Rede sein. Der Mangel an Demonstrationsmöglichkeiten mag die Kürze der Behandlung entschuldigen.

Die Begriffe Tastbild und Sehbild sind hier nicht mehr direkt verwendbar, aber der Gegensatz von malerischer und nichtmalerischer Farbe geht doch auf einen ganz ähnlich gearteten Unterschied der Auffassung zurück, indem die Farbe das eine Mal als festgegebenes Element genommen wird, das andere Mal aber der Wechsel in der Erscheinung wesentlich ist: das einfärbige Objekt »spielt« in den verschiedensten Farben. Schon immer hatte man nach der Stellung zum Licht gewisse Wandlungen der Lokalfarbe angenommen, jetzt aber geschieht mehr: die Vorstellung von gleichmäßig sich behauptenden Grundfarben ist erschüttert, die Erscheinung oszilliert in den mannigfaltigsten Tönen und über der Gesamtheit der Welt liegt die Farbe nur noch wie ein Schein, als etwas Schwebendes und Ewig-Bewegtes.

Wie in der Zeichnung erst das 19. Jahrhundert die ferneren Konsequenzen einer Erscheinungsdarstellung gezogen hat, so ist auch in der Behandlung der Farbe der neuere Impressionismus weit über den Barock hinausgegangen. Immerhin kommt in der Entwicklung vom 16. zum 17. Jahrhundert der grundsätzliche Unterschied schon vollkommen klar zutage.

Für Lionardo oder Holbein ist die Farbe die schöne Materie, die auch im Bilde eine körperliche Wirklichkeit besitzt und ihren Wert in sich selbst trägt. Der gemalte blaue Mantel wirkt durch dieselbe materielle Farbe, die der Mantel in Wirklichkeit hat oder haben könnte. Trotz gewisser Unterschiede in den lichten und dunklen Teilen bleibt die Farbe im Grunde sich selbst gleich. Darum verlangt Lionardo, daß die Schatten nur durch eine Beimischung von Schwarz zur Lokalfarbe gemalt werden sollten. Das sei der »wahre« SchattenLionardo, a. a. O., 729 (703): qual' è in se vera ombra de' colori de' corpi..

Das ist um so merkwürdiger, als Lionardo die Erscheinung von Komplimentärfarben in den Schatten bereits genau kannte. Es fiel ihm aber nicht ein, von dieser theoretischen Einsicht einen künstlerischen Gebrauch zu machen. Genau so hatte schon L. B. Alberti beobachtet, daß eine Person, die über eine grüne Wiese geht, sich grün färbt im GesichtL. B. Alberti, della pittura libri tre ed. Janitschek p. 67 (66)., allein auch ihm ist diese Tatsache als unverbindlich für die Malerei vorgekommen. Man sieht hier, 56 wie wenig der Stil durch Naturbeobachtungen allein bestimmt wird und daß es immer dekorative Grundsätze sind, Überzeugungen des Geschmacks, denen die letzte Entscheidung zusteht. Daß der junge Dürer in seinen farbigen Naturstudien sich so ganz anders benimmt als in seinen Gemälden, hängt mit demselben Prinzip zusammen.

Wenn nun umgekehrt die spätere Kunst diese Vorstellung vom Wesen der Lokalfarbe aufgibt, so ist das nicht ein bloßer Erfolg des Naturalismus, sondern ist durch ein neues Ideal von farbiger Schönheit bedingt. Es wäre zuviel gesagt, es gäbe keine Lokalfarbe mehr, allein gerade darauf beruht die Wendung, daß der einzelne Stoff in seiner materiellen Existenz zurücktritt und das, was an ihm geschieht, zur Hauptsache wird. Rubens so gut wie Rembrandt springen im Schatten in eine ganz andere Farbe über und es ist nur ein gradueller Unterschied, wenn etwa diese andere Farbe nicht selbständig, sondern nur als Mischungskomponente erscheint. Wenn Rembrandt einen roten Mantel malt – ich denke an den Überwurf der Hendrickje Stoffels in Berlin –, so ist das Wesentliche nicht das Rot der Naturfarbe an sich, sondern wie die Farbe dem Beschauer sich gleichsam unter den Augen verändert: in dem Schatten stehen intensive grüne und blaue Töne und nur auf Momente hebt sich das reine Rot ans Licht empor. Man merkt, daß der Akzent nicht mehr auf dem Sein liegt, sondern auf dem Werden und Sich-Wandeln. Dadurch hat die Farbe ein ganz neues Leben bekommen. Sie entzieht sich der Bestimmbarkeit und ist an jedem Punkt und in jedem Augenblick wieder eine andere.

Dazu kann dann die Zersetzung der Fläche kommen, wie wir sie schon früher beobachtet haben. Während der Stil der ausgesprochenen Lokalfarbe vertreibend modelliert, können hier die Pigmente unvermittelt nebeneinander stehen. Dadurch verliert die Farbe noch mehr das Materielle. Das Wirkliche ist nicht mehr die Farbfläche als etwas Positiv-Existierendes, sondern das Wirkliche ist jener Schein, der sich von den einzelnen Farbflecken, -strichen. -punkten ablöst. Es ist dabei wohl notwendig, den Standpunkt in einiger Ferne zu nehmen, aber doch ist die Meinung nicht die, daß nur der verschmelzende Fernblick berechtigt wäre. Es ist mehr als ein bloßes Vergnügen für den Techniker, wenn man das Nebeneinanderstehen der Farbstriche wahrnimmt: in letzter Linie ist es auf jene Wirkung des Unfaßbaren abgesehen, die wie in der Zeichnung so hier im Kolorit ganz wesentlich bedingt ist durch die formentfremdete Faktur.

Will man sich an einem elementaren Phänomen die Entwicklung bildlich klar machen, so stelle man sich das Schauspiel vor, wenn in einem Gefäß das 57 Wasser bei bestimmter Temperatur in Wallung kommt. Es ist noch immer dasselbe Element, aber aus dem ruhenden ist ein bewegtes geworden und aus dem Faßbaren ein Unfaßbares. Und nur in dieser Gestalt hat der Barock das Lebendige anerkannt.

Wir hätten den Vergleich schon früher brauchen können. Gerade das Ineinanderströmen von Helligkeiten und Dunkelheiten im malerischen Stil muß auf solche Vorstellungen führen. Was aber jetzt bei der Farbe neu ist, ist die Mehrheit der Komponenten. Licht und Schatten ist schließlich etwas Einheitliches, im Kolorit aber handelt es sich um das Zusammengehen verschiedener Farben. Unsere bisherige Darlegung setzt diese Mehrheit noch nicht voraus, wir sprachen von der Farbe, nicht von Farben. Wenn wir jetzt den Gesamtkomplex ins Auge fassen, so sehen wir von der farbigen Harmonie ab – das ist der Gegenstand eines späteren Kapitels – und halten uns nur an die Tatsache, daß in der klassischen Farbgebung die einzelnen Elemente als etwas Isoliertes nebeneinanderstehen, während beim malerischen Kolorit die einzelne Farbe im allgemeinen Grunde so verankert erscheint wie die Seerose im Grunde des Teiches. Das Email der Holbeinschen Farben sondert sich voneinander wie die einzelnen Zellen einer Schmelzarbeit, bei Rembrandt bricht die Farbe stellenweise aus geheimnisvoller Tiefe hervor, wie wenn – um ein anderes Bild zu brauchen – ein Vulkan den glühenden Strom entläßt, wobei man weiß, daß im nächsten Moment der Schlund an einer neuen Stelle sich öffnen könnte. Die verschiedenen Farben sind getragen von einer einheitlichen Bewegung und dieser Eindruck geht offenbar auf dieselben Ursachen zurück wie die einheitliche Bewegung in Licht und Schatten, die wir kennen. Man spricht dann von einer tonigen Haltung des Kolorits.

Indem wir diese weitere Bestimmung des Farbig-Malerischen geben, wird freilich der Einwand gemacht werden, das sei nicht mehr Sache des Sehens, sondern nur noch Sache einer bestimmten dekorativen Anordnung. Hier liege eine gewisse Farbenwahl vor, nicht eine besondere Auffassung der Sichtbarkeit. Wir sind auf diesen Einwand gerüstet. Gewiß gibt es ein Objektiv-Malerisches auch auf dem Gebiet der Farbe, aber die Wirkung, die mit den Mitteln der Auswahl und Anordnung gesucht wird, ist doch nicht unvereinbar mit dem, was das Auge der bloßen Wirklichkeit entnehmen kann. Auch das farbige System der Welt ist nichts Festes, sondern läßt sich so oder so interpretieren. Man kann auf isolierte Farbe hin sehen und kann auf Bindung und Bewegung hin sehen. Freilich enthalten einzelne farbige Situationen von 58 vornherein einen höheren Grad von einheitlicher Bewegung als andere, aber schließlich läßt sich alles malerisch auffassen und man braucht nicht in eine farbverzehrende, dunstige Atmosphäre auszuweichen, wie das gewisse holländische Meister des Übergangs gerne tun. Daß aber auch hier das imitative Verhalten von einer bestimmten Forderung des dekorativen Gefühls begleitet ist, ist ja nur in der Ordnung.

Gemeinsam mit dem Bewegungeffekt der malerischen Zeichnung ist dem malerischen Kolorit, daß, wie dort das Licht, so hier die Farbe ein von den Gegenständen abgelöstes Leben bekommt. Daher denn auch diejenigen Naturmotive vorzugsweise malerisch genannt werden, wo die Sachunterlage der Farbe schwerer erkennbar geworden ist. Eine ruhig hängende Fahne mit drei farbigen Streifen ist nicht malerisch und auch eine Versammlung solcher Fahnen ergibt noch kaum einen malerischen Anblick, obwohl in der Wiederholung der Farbe mit perspektivischen Abstufungen ein günstiges Moment liegt; sobald aber die Fahnen im Winde wehen, die klar begrenzten Bahnen sich verlieren und nur da und dort einzelne Farbstücke erscheinen, ist das volkstümliche Urteil bereit, ein malerisches Schauspiel anzuerkennen. Noch mehr ist das der Fall beim Anblick eines belebten bunten Marktes: die Buntheit tut es nicht, wohl aber das Durcheinanderschießen der Farben, die kaum mehr auf einzelne Objekte lokalisiert werden können und wo man, im Gegensatz zum bloßen Kaleidoskop, von der gegenständlichen Bedeutung der einzelnen Farbe doch überzeugt ist. Es geht das zusammen mit Beobachtungen über malerische Silhouette und dergleichen, wie sie früher schon angestellt worden sind. Umgekehrt gibt es im klassischen Stil keinen Farbeneindruck, der nicht an einen Formeindruck gebunden wäre.

 


 


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