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Das Prinzip der geschlossenen Form setzt schon die Auffassung des Bildwerkes als einer Einheit voraus. Erst wenn die Gesamtheit der Formen als ein Ganzes gefühlt ist, kann man sich dieses Ganze gesetzmäßig geordnet denken, gleichgültig, ob nun eine tektonische Mitte herausgebildet ist oder eine freiere Ordnung waltet.
Dieses Gefühl für Einheit entwickelt sich nur allmählich. Es gibt nicht einen bestimmten Moment in der Kunstgeschichte, wo man sagen könnte: jetzt ist es da; auch hier muß man mit lauter relativen Werten rechnen.
Ein Kopf ist ein Formganzes, das die florentinischen Quattrocentisten gewiß ebenso wie die alten Niederländer als solches, nämlich als Ganzes, gefühlt haben. Wenn man aber einen Kopf des Raffael oder des Quinten Massys zur Vergleichung heranzieht, so fühlt man sich einer anderen Anschauung gegenüber und sucht man den Gegensatz zu fassen, so ist es im letzten Grunde doch der Gegensatz eines Sehens im einzelnen und eines Sehens im ganzen. Nicht daß jenes kümmerliche Zusammenstellen von Einzelnheiten gemeint sein könnte, über die der Lehrer den Malschüler mit immer erneuter Korrektur hinwegzubringen versucht – derartige Qualitätsvergleiche fallen hier ganz außer Betracht, allein die Tatsache bleibt, daß im Vergleich mit den Klassikern des 16. Jahrhunderts diese alten Köpfe uns immer mehr im Detail beschäftigen und ein geringeres Maß von Zusammenhang zu besitzen scheinen, während man dort von jeder Einzelform gleich aufs Ganze gewiesen wird. Man kann nicht das Auge sehen, ohne die größere Form der Augenhöhle wahrzunehmen, wie sie zwischen Stirn und Nase und Backenknochen eingebettet ist, und der Horizontalität des Augenpaares und des Mundes antwortet gleich die Vertikalität der Nase: es ist eine Kraft in der Form, das Sehen aufzuwecken und zu einer einheitlichen Auffassung des Vielen zu zwingen, der sich auch ein stumpfer Betrachter kaum entziehen kann. Er wird munter und fühlt sich plötzlich als ein anderer Kerl. 164
Und derselbe Unterschied waltet zwischen einer Bildkomposition des 15. und des 16. Jahrhunderts. Dort das Zerstreute, hier das Zusammengefaßte; dort bald die Armut des Vereinzelten, bald die Unentwirrbarkeit des Allzuvielen, hier ein gegliedertes Ganzes, wo jeder Teil für sich spricht und faßbar ist und doch sofort in seinem Zusammenhang mit dem Ganzen, als Glied einer Gesamtform sich zu erkennen gibt.
Indem wir auf diese Dinge hinweisen, die den Unterschied der klassischen und der vorklassischen Zeit ausmachen, gewinnen wir erst die Grundlage für unser eigentliches Thema. Allein hier macht sich nun gleich der Mangel an unterscheidenden Worten aufs empfindlichste geltend: im selben Moment, wo wir die Einheit des Komponierens als ein wesentliches Merkmal der Cinquecentokunst nennen, müssen wir sagen, daß wir gerade das Zeitalter Raffaels als eine Epoche der Vielheit der späteren Kunst mit ihrer Tendenz nach Einheit gegenüberstellen wollen. Und diesmal ist es nicht ein Aufsteigen von der ärmeren zur reicheren Form, sondern es sind zwei verschiedene Typen, die, jede für sich, ein letztes darstellen. Das 16. Jahrhundert wird nicht diskreditiert durch das 17., denn hier handelt es sich nicht um einen Unterschied der Qualität, sondern um etwas generell Neues.
Ein Kopf des Rubens ist nicht besser im ganzen gesehen als ein Kopf von Dürer oder von Massys, aber die selbständige Ausbildung der einzelnen Teile ist aufgehoben, die hier das Formganze doch als eine (relative) Vielheit erscheinen läßt. Die Seicentisten visieren auf ein bestimmtes Hauptmotiv, dem sie alles andere unterordnen. Nicht mehr die einzelnen Elemente des Organismus, wie sie sich gegenseitig bedingen und in Harmonie halten, werden im Bilde wirksam, sondern aus dem in einheitlichen Fluß gebrachten Ganzen heben sich einzelne Formen als die unbedingt führenden heraus, so aber, daß auch diese führenden Formen für den Blick nichts Trennbares, nichts was sich absondern ließe, bedeuten.
Im vielfigurigen Historienbild läßt sich das Verhältnis vielleicht am sichersten klarmachen.
Der biblische Bilderkreis kennt als eines seiner reichsten Motive die Kreuzabnahme des Herrn, ein Geschehen, das viele Hände in Bewegung setzt und starke psychologische Kontraste enthält. Wir besitzen eine klassische Redaktion des Themas in dem Bilde des Daniele da Volterra in Trinità dei Monti in Rom. Hier hat man immer bewundert, wie die Figuren als lauter selbständige Stimmen ausgebildet sind und doch so ineinandergreifen, daß jede ihr Gesetz vom Ganzen aus zu empfangen scheint. Eben das ist 165 renaissancemäßige Fügung. Wenn später Rubens, als Wortführer des Barock, in einem Frühwerk denselben Stoff behandelt, so ist das erste, worin er vom klassischen Typ abweicht: das Zusammenschmelzen der Figuren zu einer einheitlichen Masse, aus der die einzelne Figur kaum mehr herausgelöst werden kann. Unterstützt von Mitteln der Lichtführung, läßt er einen mächtigen Strom von hoch oben her schräg durch das Bild gehen. Bei dem weißen Leintuch, das vom Querbalken herkommt, setzt es ein, der Körper Christi liegt in derselben Bahn und die Bewegung mündet in der Bucht der vielen Gestalten, die sich drängen, den Herabgleitenden zu empfangen. Nicht mehr wie bei Daniele da Volterra die zurücksinkende Maria als zweites Interessezentrum abgelöst vom Hauptvorgang – sie steht und ist der Masse am Kreuz durchaus eingebunden. Will man die Veränderung der anderen Figuren mit einem allgemeinen Wort bezeichnen, so kann man nur sagen: es hat jede einen Teil ihrer Selbständigkeit zugunsten der Allgemeinheit geopfert. Der Barock rechnet grundsätzlich nicht mehr mit einer Vielheit selbständiger Teile, die harmonisch zusammengreifen, sondern mit einer absoluten Einheit, in der der einzelne Teil sein Sonderrecht verloren hat. Dabei akzentuiert sich aber das Hauptmotiv mit einer bisher unerhörten Kraft.
Man darf nicht einwenden, das seien weniger Unterschiede der Entwicklung, als Unterschiede des nationalen Geschmacks. Gewiß hat Italien eine Vorliebe für den klaren Einzelteil immer bewahrt, aber der Unterschied behauptet sich auch in jeder Vergleichung des italienischen Seicento mit dem italienischen Cinquecento, oder wenn man im Norden Rembrandt und Dürer zusammenstellt. Obgleich die nordische Phantasie, im Gegensatz zu 166 Italien, immer mehr auf das Ineinander der Glieder ausgegangen ist, so wirkt eine Dürersche Kreuzabnahme eben doch, verglichen mit Rembrandt, als der vollkommen ausgeprägte Gegensatz einer Komposition mit selbständigen Figuren gegenüber einer Komposition mit unselbständigen Figuren. Rembrandt reißt die Geschichte zusammen auf das Motiv von zwei Lichtern, ein starkes, steiles oben links und ein schwächeres, liegendes unten rechts. Damit ist schon alles Wesentliche angedeutet: der nur in Teilstücken sichtbare Leichnam wird herabgelassen und soll ausgebreitet werden auf dem am Boden liegenden Bahrtuch. Das »Herab« der Kreuzabnahme ist auf einen kürzesten Ausdruck gebracht.
Es stehen sich also gegenüber die vielheitliche Einheit des 16. Jahrhunderts und die einheitliche Einheit des 17. Jahrhunderts, mit anderen Worten: das gegliederte Formensystem der Klassik und der (unendliche) Fluß des Barock. Und wie aus den vorigen Beispielen ersichtlich ist, spielen bei dieser barocken Einheit zwei Dinge zusammen: die Auflösung der selbständigen Funktion der Einzelformen und die Herausbildung eines dominierenden Gesamtmotivs. Das kann mit mehr plastischen Werten geschehen wie bei Rubens oder mit mehr malerischen wie bei Rembrandt. Das Beispiel der Kreuzabnahme ist auch nur für einen Einzelfall bezeichnend, die Einheit erscheint unter vielen Formen. Es gibt eine Einheit der Farbe wie der Lichtführung und eine Einheit der figürlichen Komposition wie der Formauffassung bei einem einzelnen Kopf oder Körper.
Das ist das Interessanteste: Das dekorative Schema wird zu einer Form der Naturauffassung. Nicht nur daß die Bilder des Rembrandt nach einem anderen System gebaut sind als die Bilder Dürers, die Dinge sind anders gesehen. Vielheit und Einheit sind gleichsam Gefäße, in denen der Inhalt der Wirklichkeit aufgefangen wird und Gestalt annimmt. Nicht so ist das zu verstehen, daß eine beliebige dekorative Formel der Welt über den Kopf gestülpt würde: der Stoff spricht schon mit. Man sieht nicht nur anders, sondern man sieht eben auch anderes. Aber alle sog. Naturnachahmung hat nur dann eine künstlerische Bedeutung, wenn sie von dekorativen Instinkten eingegeben ist und wieder dekorative Werte erzeugt. Daß der Begriff einer vielheitlichen und einer einheitlichen Schönheit auch losgelöst von allem imitativen Inhalt existiert, beweist die Architektur.
Die zwei Typen stehen als selbständige Werte nebeneinander und es geht nicht an, die spätere Form nur als graduelle Steigerung der ersten aufzufassen. Selbstverständlich war der Barock überzeugt, daß er erst die 167 Wahrheit gefunden habe und die Renaissance nur eine Vorform bedeute, aber der Historiker wird anders urteilen. Die Natur läßt sich auf mehr als eine Art interpretieren. Und darum hat es geschehen können, daß gerade im Namen der Natur die barocke Formel am Ende des 18. Jahrhunderts verdrängt und wieder durch die klassische ersetzt wurde.
Von dem Verhältnis der Teile zum Ganzen ist also in diesem Kapitel die Rede. Daß der klassische Stil seine Einheit gewinnt, indem er die Teile zu freien Gliedern verselbständigt, und daß der barocke Stil die gleichmäßige Selbständigkeit der Teile zugunsten eines mehr einheitlichen Gesamtmotivs aufhebt. Dort Koordination der Akzente, hier Subordination.
Alle bisherigen Kategorien haben diese Einheit vorbereitet. Das Malerische ist die Erlösung der Formen aus ihrer Isoliertheit, das Prinzip des Tiefenhaften ist kein anderes als die Folge getrennter Schichten durch einen einheitlichen Tiefenzug zu ersetzen, und der atektonische Geschmack löst das starre Gefüge geometrischer Verhältnisse ins Fließende auf. Es läßt sich nicht vermeiden, stellenweise schon Bekanntes wieder zu sagen, der wesentliche Gesichtspunkt der Betrachtung bleibt doch ein neuer.
Es geschieht nicht von selber und von Anfang an, daß die Teile als freie Glieder eines Organismus funktionieren. Bei den Primitiven ist der Eindruck dadurch unterbunden, daß die Teilform entweder zu zerstreut bleibt oder wirr und ungeklärt erscheint. Erst wo das Einzelne als notwendiger Teil des Ganzen wirkt, spricht man von organischer Fügung und erst da, wo das Einzelne, eingebunden in das Ganze, doch als unabhängig funktionierendes Glied empfunden wird, hat der Begriff von Freiheit und Selbständigkeit einen Sinn. Das ist das klassische Formsystem des 16. Jahrhunderts und es bedingt, wie gesagt, keinen Unterschied, ob wir unter dem Ganzen einen einzelnen Kopf verstehen oder eine vielfigurige Historie.
Der Dürersche Holzschnitt des Todes der Maria (1510) läßt dadurch alles ältere hinter sich, daß die Teile ein System bilden, wo jeder an seiner Stelle vom Ganzen bedingt erscheint und dabei doch vollkommen selbständig wirkt. Das Bild ist ein vorzügliches Beispiel tektonischer Komposition – alles ist auf klarsprechende, geometrische Kontraste gebracht –, aber daneben will dieses Verhältnis der (relativen) Koordination selbständiger Werke immer auch als etwas Neues begriffen sein. Wir nennen es das Prinzip der vielheitlichen Einheit. 168
Der Barock würde die Begegnung reiner Horizontalen und Vertikalen vermieden oder unscheinbar gemacht haben, man hätte nicht mehr den Eindruck eines gegliederten Ganzen: die Teilformen, sei es der Betthimmel oder eine der Apostelfiguren, wären in eine das Bild beherrschende Gesamtbewegung eingeschmolzen worden. Will man an das Beispiel von Rembrandts Radierung des Marientodes sich erinnern, so wird man auch verstehn, wie sehr hier die empordampfenden Wolken dem Barock ein willkommenes Motiv gewesen sind. Das Spiel der Gegensätze hört nicht auf, aber es hält sich mehr versteckt. Das offene Nebeneinander und das klare Gegenüber sind ersetzt durch ein Ineinander. Die reinen Kontraste werden gebrochen. Das Begrenzte und Isolierbare verschwindet. Von Form zu Form schlagen sich Stege und Brücken, auf denen die Bewegung ununterbrochen forteilt. Aus solchem barock-einheitlichen Strom hebt sich dann aber da und dort ein Motiv heraus mit so starkem Akzent, daß es die Blicke auf sich sammelt wie die Linse die Lichtstrahlen. Es sind in der Zeichnung jene Stellen sprechendster Form, die analog der Zuspitzung in Licht und Farbe, von der wir gleich sprechen werden, barocke Kunst von klassischer Kunst grundsätzlich trennen. Dort die gleichmäßige Betonung, hier der eine Haupteffekt. Es sind nicht einzelne Stücke, die man herausbrechen könnte, diese höchstakzentuierten Motive, sondern nur letzte Hebungen einer allgemeinen Bewegung.
Für die einheitliche Bewegung von mehr figuralem Charakter liefert Rubens 169 die typischen Beispiele. Überall die Umsetzung des vielheitlichen und sondernden Stils in das Zusammengefaßte und Fließende mit Unterdrückung selbständiger Einzelwerte. Die Himmelfahrt der Maria ist nicht nur darum ein barockes Stück, weil das klassische System Tizians – die Hauptfigur als Vertikale der Horizontalform der Apostelversammlung entgegengesetzt – im Sinn einer durchgehenden Diagonalbewegung umredigiert worden ist, sondern weil man die Teile nicht mehr isolieren kann. Der Licht- und Engelkreis, der die Tiziansche Assunta zentral füllt, klingt bei Rubens noch nach, allein erst im Zusammenhang des Ganzen bekommt er einen ästhetischen Sinn. So wenig es zu loben ist, wenn die Kopisten die Mittelfigur Tizians für sich allein auf den Markt bringen, eine gewisse Möglichkeit dazu ist immerhin vorhanden; bei Rubens verfiele kein Mensch auf einen derartigen Gedanken. Im Bilde Tizians halten die Apostelmotive rechts und links sich gegenseitig im Gleichgewicht: der Emporschauende und der mit den Armen Emporstrebende, bei Rubens spricht nur noch eine Seite, die andere ist inhaltlich bis zur Gleichgültigkeit entwertet, eine Dämpfung, die den einseitig rechts sitzenden Akzent natürlich um so intensiver wirken macht.
Ein zweiter Fall: Die Kreuztragung des Rubens, die wir schon früher mit dem Raffaelschen Spasimo zusammengestellt haben. Beispiel der Umsetzung vom Flächenhaften ins Tiefenhafte, ja; aber ebensogut Beispiel der Umsetzung der gegliederten Vielheit in 170 die ungegliederte Einheit. Dort der Scherge, Christus und Simon, die Frauen – drei einzelne, gleichmäßig betonte Motive; hier stofflich dasselbe, aber die Motive ineinandergeknetet und Vorderes und Rückwärtiges in einheitlichen Bewegungszug übergeführt, ohne Zäsur. Baum und Berg arbeiten mit den Figuren zusammen und der Lichtgang vollendet die Wirkung. Alles ist eins. Aus dem Strom aber hebt sich die Woge da und dort in überragender Stärke empor. An der Stelle, wo der herkulische Scherge die Schulter unter das Kreuz stemmt, ist so viel Kraft konzentriert, daß das Gleichgewicht des Bildes bedroht erscheinen könnte – nicht der Mann als Einzelmotiv, sondern der ganze Komplex von Form und Licht bedingt den Eindruck –, das sind die typischen Knoten des neuen Stils.
Um einheitliche Bewegung zu geben, ist es nun freilich nicht nötig, daß die Kunst über die plastischen Mittel verfüge, wie sie diese Rubensschen Kompositionen enthalten. Sie braucht keinen Zug von Menschen, die sich bewegen, die Einheit kann erzwungen werden durch die bloße Lichtführung.
Auch das 16. Jahrhundert hat schon zwischen Hauptlichtern und Nebenlichtern unterschieden, aber – wir berufen uns auf den Eindruck eines Schwarzweiß-Blattes, wie den Dürerschen Marientod – es ist doch immer ein gleichmäßiges Gewebe, das die der plastischen Form anhaftenden Lichter bilden. Bilder des 17. Jahrhunderts dagegen werfen ihr Licht gern auf einen Punkt oder sammeln es wenigstens in ein paar Stellen höchster Helligkeit, die dann unter sich zu einer leicht faßbaren Konfiguration zusammentreten. Damit ist aber erst die Hälfte gesagt. Das höchste Licht oder die höchsten Lichter des Barock erwachsen aus einer allgemeinen Vereinheitlichung der Lichtbewegung. Ganz anders als vorher fluten die Helligkeiten und Dunkelheiten in gemeinsamer Strömung dahin und wo sich das Licht zu einer letzten Höhe hebt, da wächst es eben aus der großen Gesamtbewegung empor. Jene Konzentration auf einzelne Punkte ist nur eine abgeleitete Erscheinung aus der primären Tendenz zur Einheit, der gegenüber die Lichtführung der Klassik immer als eine vielheitliche und sondernde empfunden wird.
Es muß recht eigentlich ein barockes Thema sein, wenn im geschlossenen Raum das Licht nur aus einer Quelle fließt. Die Malerwerkstatt Ostades, die wir früher schon brachten, gibt dafür ein anschauliches Beispiel. Immerhin hängt der barocke Charakter nicht am Stoff allein, aus einer ähnlichen Situation hat Dürer in seinem Hieronymusstich bekanntlich ganz andere Konsequenzen gezogen. Wir wollen aber von solchen Spezialfällen 171 absehen und ein Blatt von weniger zugespitztem Lichtcharakter unserer Analyse zugrunde legen. Nehmen wir Rembrandts Radierung mit dem lehrenden Christus.
Die eindrücklichste optische Tatsache ist hier wohl die, daß eine große Masse zusammengeballten höchsten Lichtes an der Mauer zu Füßen Christi vorhanden ist. Diese dominierende Helligkeit steht in unmittelbarster Verbindung mit den andern Helligkeiten, sie läßt sich nicht als etwas einzelnes herauslösen, wie man das bei Dürer tun kann, sie deckt sich auch nicht mit einer plastischen Form, im Gegenteil, das Licht läuft über die Form weg, es spielt mit den Dingen. Alles Tektonische verliert dadurch das Augenfällige und die Figuren auf der Bühne werden in der merkwürdigsten Weise auseinandergerissen und wieder zusammengefaßt, als ob nicht sie, sondern das Licht das eigentlich Reale im Bilde sei. Eine diagonale Lichtbewegung geht von vorn links über die Mitte durch den Torbogen in die Tiefe, allein was bedeutet diese Feststellung gegenüber dem unfaßbaren Zucken von Hell und Dunkel durch den ganzen Raum hin, jenem Lichtrhythmus, mit dem Rembrandt wie kein anderer seinen Szenen ein zwingendes einheitliches Leben gibt.
Selbstverständlich wirken hier noch andere Faktoren im Sinne der Vereinheitlichung, wir übergehen, was nicht zur Sache gehört. Ein 172 wesentlicher Grund, warum die Geschichte mit so bedeutendem Nachdruck sich vorträgt, liegt darin, daß der Stil auch das Deutliche und das Undeutliche in den Dienst der Wirkungssteigerung stellt, daß er nicht überall gleichmäßig klar spricht, sondern Stellen sprechendster Form aus einem Grunde von stummer oder weniger sprechender Form hervorgehen läßt. Wir kommen darauf zurück.
Die Entwicklung der Farbe bietet das analoge Schauspiel. An Stelle des »bunten« Kolorits des Primitiven mit ihrem Nebeneinander von Farben ohne systematischen Zusammenhang, tritt im 16. Jahrhundert die Auswahl und die Einheit, das heißt eine Harmonie, wo sich die Farben gegenseitig in reinen Kontrasten balancieren. Das System kommt klar heraus. Jede Farbe hat eine Rolle in bezug auf das Ganze. Man spürt, wie sie als ein unentbehrlicher Pfeiler den Bau trägt und zusammenhält. Das Prinzip mag mit größerer oder geringerer Folgerichtigkeit ausgebildet sein, jedenfalls scheidet sich die klassische Epoche als eine Epoche des grundsätzlich vielheitlichen Kolorits sehr bestimmt von den auf tonige Bindung gerichteten Absichten der Folgezeit. Wo immer wir in einer Galerie vom Saal der Cinquecentisten zu den Barockmalern hinübertreten, da ist die Überraschung die: daß das klare offene Nebeneinander aufhört und die Farben in einem gemeinsamen Grunde zu ruhen scheinen, in dem sie manchmal versinken bis zu fast völliger Monochromie, in dem sie aber auch, wenn sie kräftig herauskommen, auf geheimnisvolle Art verankert bleiben. Man mag schon im 16. Jahrhundert einzelne Maler als Meister des Tons bezeichnen und einzelnen Schulen schon damals eine tonige Haltung allgemein zusprechen, das hindert nicht, daß auch in solchen Fällen das »malerische« Jahrhundert eine Steigerung bringt, die durch ein eigenes Wort unterschieden bleiben müßte.
Die tonige Monochromie ist nur eine Übergangsform, man lernt sehr bald tonig und farbig zugleich sein und dabei einzelne Farben zu einer Wirkung steigern, daß sie analog den höchsten Lichtern als Stellen stärkster Farbigkeit die ganze Physiognomie der Bilder im 17. Jahrhundert grundsätzlich neu gestalten. Statt der gleichmäßig verteilten Farbe haben wir jetzt die einzelne Farbenpointe, einen farbigen Zweiklang – es kann auch ein Drei- und Vierklang sein –, der das Bild unbedingt beherrscht. Das Bild ist jetzt, wie man zu sagen pflegt, auf einen bestimmten Ton gestimmt. Damit verbindet sich ein partielles Verneinen der Farbigkeit. Wie die Zeichnung auf das gleichmäßig Deutliche verzichtet, so liegt es im Interesse der koloristischen Wirkungskonzentration, die reine Farbe aus der Dumpfheit 173 der Halb- oder Nicht-Farbe hervorgehen zu lassen. Nicht als etwas Einmaliges oder Isolierbares bricht sie hervor, sondern von weit her vorbereitet. Die Koloristen des 17. Jahrhunderts haben dieses »Werden« der Farbe verschieden behandelt, immer aber ist das der Unterschied zum klassischen System der farbigen Komposition, daß dort gewissermaßen mit fertigen Stücken gebaut wird, während jetzt die Farbe kommt und geht und wieder kommt, dort stärker, hier leiser, das Ganze nicht zu fassen ohne die Vorstellung einer durchgehenden einheitlichen Bewegung. In diesem Sinne sagt das Vorwort des großen Berliner Gemäldekatalogs, die Art der Farbbeschreibung habe sich dem Gang der Entwicklung anzupassen versucht: »Von der ins einzelne gehenden Angabe der Farben ist allmählich zu einer auf die Gesamtheit des koloristischen Eindrucks gerichteten Darstellung übergegangen worden.«
Aber auch das liegt in der Konsequenz barocker Einheit, daß eine Farbe jetzt als einsamer Akzent vorgetragen werden kann. Das klassische System kennt nicht die Möglichkeit, ein einzelnes Rot in die Szene zu werfen wie Rembrandt auf seinem Susannenbild in Berlin es tut. Das antwortende Grün fehlt nicht ganz, aber es wirkt nur gedämpft aus der Tiefe heraus. Es ist nicht mehr auf Koordination und Gleichgewicht abgesehen, die Farbe 174 soll einsam wirken. Man hat die Parallele in der Zeichnung: auch für den Reiz der einsamen Form – ein Baum, ein Turm, ein Mensch – hat erst der Barock Platz gemacht.
Und so kommen wir von der Einzelbetrachtung wieder auf das Allgemeine zurück. Die Theorie der wechselnden Akzente, wie wir sie hier entwickelt haben, wäre nicht denkbar, ohne daß die Kunst auch nach der inhaltlichen Seite die gleichen Unterschiede der Typen aufwiese. Es kennzeichnet die vielheitliche Einheit des 16. Jahrhunderts, daß die einzelnen Dinge im Bild als relativ gleiche Sachwerte empfunden worden sind. Die Erzählung scheidet wohl zwischen Haupt- und Nebenfiguren, man sieht – im Gegensatz zur Erzählung der Primitiven – sehr klar und auf alle Weite, wo der Kern des Geschehnisses liegt, aber was so entstanden ist, sind eben doch Gebilde von jener bedingten Einheit, die dem Barock als Vielheit erschienen. Die Nebenfiguren haben doch alle noch eine eigene Existenz. Der Betrachter wird über dem Einzelnen das Ganze nicht vergessen, aber das Einzelne kann für sich gesehen werden. An der Zeichnung des Dirk Vellert (1524), wie der kleine Saul zum Hohepriester kommt, läßt sich das gut demonstrieren. Der das gemacht hat, ist nicht einer von den führenden Geistern im 16. Jahrhundert gewesen, aber auch keiner von den Zurückgebliebenen. Im Gegenteil, das durch und durch Gegliederte der Darstellung ist rein klassischer Stil. So viel Figuren aber, so viel Aufmerksamkeitszentren. Das Hauptmotiv wohl herausgehoben, aber doch nicht so, daß den Nebenpersonen nicht Platz bliebe, an ihrer Stelle ein eigenes Leben zu führen. Auch das Architektonische so behandelt, daß es ein Interesse für sich in Anspruch nehmen muß. Es ist immer noch klassische Kunst und nicht zu verwechseln mit dem zerstreuten Vielerlei der Primitiven, alles hat seine deutliche Beziehung zum Ganzen, aber wie anders würde ein Regisseur des 17. Jahrhunderts die Szene auf das Unmittelbar-Packende zusammengestrichen haben! Wir sprechen nicht von Qualitätsunterschieden, aber auch die Fassung des Hauptmotivs entbehrt für den modernen Geschmack des Charakters von wirklichem Geschehen.
Das 16. Jahrhundert, auch wo es ganz einheitlich ist, gibt die Situation breit, das 17. Jahrhundert auf das Momentane verengt. Erst dadurch aber bekommt die historische Darstellung das Eigentlich-Sprechende. Beim Bildnis erleben wir das gleiche. Für Holbein ist der Rock so viel wert wie der Mann. Die psychische Situation ist nicht zeitlos, aber auch nicht als Fixierung eines Momentes des freifließenden Lebens zu verstehn. 175
Die klassische Kunst kennt nicht den Begriff des Momentanen, nicht die Pointierung, Zuspitzung im allgemeinsten Sinn; sie hat einen verweilenden, breiten Charakter. Und obwohl sie durchaus vom Ganzen ausgeht, rechnet sie doch nicht mit dem Eindruck des ersten Augenblicks. Nach beiden Seiten hat sich für den Barock die Auffassung verschoben.
Mit Worten läßt sich' s nicht leicht klar machen, wieso bei einem festgegebenen Ganzen wie einem Kopf die Auffassung das eine Mal vielheitlich, das andere Mal einheitlich sein kann. Schließlich bleiben die Formen sich selbst gleich und die Verbindung ist ja schon im klassischen Typ eine einheitlich zusammennehmende. Aber jede Vergleichung wird doch fühlbar machen, wie bei Holbein die Formen als selbständige und relativ koordinierte Werte nebeneinander stehen, während bei Frans Hals oder Velasquez gewisse Formgruppen die Führung übernehmen, das Ganze einem bestimmten Bewegungs- oder Ausdrucksmotiv unterstellt ist und in diesem Zusammenhang die Teilstücke nicht mehr eine eigene Existenz im alten Sinne behaupten können. Es ist nicht nur das malerisch verbindende Sehen im 176 Unterschied zur linearen Umgrenzung des einzelnen Teils: dort sperren sich die Formen gewissermaßen gegeneinander und sind durch Betonung der immanenten Gegensätze auf ein Maximum selbständiger Wirkung gebracht, während hier mit der Dämpfung der tektonischen Werte auch die einzelne Form an Selbständigkeit und Eigenbedeutung verloren hat. Aber auch damit ist nicht alles gesagt. Was immer für Mittel aufgeboten seien, der Bedeutungsakzent der einzelnen Teile innerhalb des Ganzen will erfaßt sein, wie stark die Form einer Wange zum Beispiel neben Nase und Auge und Mund zur Geltung kommt. Neben dem einen Typus relativ reiner Koordination gibt es unendlich viele Modalitäten von Subordination.
Es kann zur Klärung beitragen, wenn man sich die Zurüstung eines Kopfes nach Haartracht und Kopfbedeckung vergegenwärtigt, wo die Begriffe von Vielheit und Einheit eine dekorative Geltung erhalten. Wir hätten schon im vorigen Kapitel davon sprechen können. Die Verbindung mit Tektonik und Atektonik ist eine ganz nahe. Erst das klassische 16. Jahrhundert bringt in flachen Hüten und Mützen, die die Breitform der Stirn aufnehmen, den gefühlten Gegensatz zur Hochform des Gesichts und im schlichten Fall der Haare wird aller Horizontalität im Kopf ein kontrastierender Rahmen geschaffen. Die Tracht des 17. Jahrhunderts hat dieses System nicht annehmen können. So stark die Mode wechselt, es läßt sich 177 doch in allen Varianten des Barock ein durchgehender Zug nach der einheitlichern Bewegung feststellen. Nicht nur in den Richtungen, auch in der Flächenbehandlung ist es weniger auf Scheidung und Gegensatz als auf Verbindung und Einheit abgesehen.
Noch deutlicher wird das in der Darstellung des Gesamtkörpers. Hier handelt es sich um Formen, die in frei beweglichen Gelenken hängen und darum haben die Möglichkeiten geballter oder freier Wirkung einen großen Spielraum. Ein Inbegriff renaissancemäßiger Schönheit ist Tizians liegende Bella, die den Typus des Giorgione aufgenommen hat. Lauter klar begrenzte Einzelglieder zu einer Harmonie gefügt, in der der einzelne Ton als solcher vollkommen deutlich weiterklingt. Jedes Gelenk kommt rein zum Ausdruck und jeder Abschnitt zwischen den Gelenken ist eine Form, die in sich geschlossen wirkt. Wer wollte hier von Fortschritten in der anatomischen Wahrheit sprechen! Aller naturalistisch-stoffliche Inhalt tritt zurück gegenüber der Vorstellung einer bestimmten Schönheit, die die Auffassung geleitet hat. Wenn irgendwo, sind bei diesem Zusammenklingen schöner Formen musikalische Gleichnisse am Platz.
Der Barock hat ein anderes Ziel. Er sucht nicht die gegliederte Schönheit, die Gelenke werden dumpfer empfunden, die Anschauung verlangt nach dem Schauspiel der Bewegung. Es braucht nicht der 178 italienisch-pathetische Schwung des Leibes zu sein, an dem sich der junge Rubens begeistert hat, auch Velasquez, der mit dem italienischen Barocco nichts zu tun haben will, hat diese Bewegung. Wie anders ist das Grundgefühl in seiner liegenden Venus als bei Tizian. Ein Körper, der noch feiner gebaut ist, aber die Wirkung nicht abgestellt auf das Nebeneinander getrennter Form, vielmehr das Ganze zusammengenommen, einem führenden Motiv unterworfen und die gleichmäßige Betonung der Glieder als Sonderteile preisgegeben. Man kann das Verhältnis auch anders ausdrücken: es sei der Akzent auf einzelne Stellen gesammelt worden, die Form sei auf einzelne Pointen gebracht worden – es sagt jeder Ausdruck dasselbe. Voraussetzung aber bleibt, daß von vornherein das System des Körpers anders, das heißt weniger »systematisch« empfunden worden ist. Für die Schönheit des klassischen Stiles ist die gleichmäßig klare Sichtbarkeit aller Teile selbstverständlich, der Barock kann darauf verzichten, wie das Beispiel des Velasquez zeigt.
Das sind nicht Unterschiede des Himmels und der Nation. Wie Tizian hat Raffael und Dürer den Körper dargestellt und mit Velasquez gehen Rubens und Rembrandt zusammen. Selbst da, wo Rembrandt nichts als klar sein will, wie etwa in der Radierung des sitzenden Jünglings, die so stark auf das Gegliederte im Akt eingeht, kann er die Akzente des 16. Jahrhunderts nicht mehr brauchen. – Von solchen Beispielen aus mag denn auch auf die Behandlung des einzelnen Kopfes ein aufklärendes Licht zurückfallen.
Richtet man aber den Blick auf das Bildganze, so wird schon bei diesen einfachen Aufgaben als grundsätzliche Eigenschaft klassischer Kunst die Isolierbarkeit der einzelnen Figur im Bild erkennbar werden als die natürliche Konsequenz klassischer Zeichnung. Man kann eine solche Figur ausschneiden und sie wird zwar weniger vorteilhaft aussehen als innerhalb ihrer alten Umgebung, aber sie fällt doch nicht um. Die barocke Figur dagegen ist in ihrer Existenz durchaus an die übrigen Motive des Bildes gebunden. Schon der einzelne Porträtkopf ist unlösbar verflochten in die Bewegung des Hintergrundes und sei es die bloße Bewegung von Hell und Dunkel. Noch mehr gilt das von einer Komposition im Sinne der Venus des Velasquez. Während die Tiziansche Schöne einen Rhythmus in sich allein besitzt, vollendet sich die Erscheinung für die Figur des Velasquez erst durch das, was im Bilde dazukommt. Und je mehr diese Ergänzung notwendig ist, um so vollkommener ist die Einheit des barocken Kunstwerks.
Für das mehrfigurige Bild liefert zunächst das holländische 179 Gruppenporträt lehrreiche Entwicklungsreihen. Die Schützenstücke des 16. Jahrhunderts, tektonisch aufgebaut, sind Gesamtheiten mit lauter koordinierten Werten. Es kann der Hauptmann einen Vorsprung besitzen vor den anderen, das Ganze bleibt doch ein Nebeneinander von Figuren mit gleichem Akzent. Den extremen Gegensatz zu dieser Weise bildet die Redaktion, die Rembrandt dem Thema in seiner »Nachtwache« gegeben hat. Hier findet man einzelne Figuren, ja Figurengruppen bis zu fast völliger Unerkennbarkeit hinabgedrückt, dafür aber springen die paar faßbaren Motive mit um so größerer Energie als die führenden heraus. Das gleiche ist, bei geringerer Figurenzahl, mit den Regentenstücken geschehen. Es bleibt ein unvergeßlicher Eindruck, wie der junge Rembrandt in der »Anatomie« von 1632 das alte Schema der Koordination zusammenreißt und die ganze Gesellschaft einer Bewegung und einem Licht unterordnet, und jedermann wird dieses Verfahren als typisch für den neuen Stil empfinden. Hier aber liegt die Überraschung darin, daß Rembrandt bei dieser Lösung nicht geblieben ist. Die »Staalmeesters« von 1661 sind ganz anders. Der späte Rembrandt scheint den jungen Rembrandt zu verleugnen. Das Thema: Fünf Herren und dazu der Diener. Aber von den Herren ist einer so viel wert wie der andere. Nichts mehr von der doch etwas krampfhaften Konzentration der »Anatomie«, sondern eine lässige Reihung gleicher Glieder. Kein künstlich gesammeltes Licht, sondern Hell und Dunkel frei zerstreut 180 über die ganze Fläche hin. Ist das ein Rückfall in archaische Manier? Durchaus nicht. Die Einheit liegt hier in dem absolut zwingenden Bewegungszusammenhang des Ganzen. Man hat mit Recht gesagt, daß der Schlüssel zum Gesamtmotiv in der ausgebreiteten Hand des Sprechers liegt (Jantzen). Mit der Notwendigkeit einer natürlichen Geste entfaltet sich die Reihe der fünf großen Figuren. Kein Kopf könnte anders stehen, kein Arm anders liegen. Jeder scheint für sich zu agieren, aber erst der Zusammenhang des Ganzen gibt der Einzelaktion Sinn und ästhetische Bedeutung. Natürlich sind es nicht die Figuren allein, die die Komposition ausmachen. Die Einheit wird gleichmäßig getragen von Licht und Farbe. Von großer Wichtigkeit ist das hohe Licht am Teppich, das sich bisher jeder Photographie versagt hat. So kommen wir denn auch hier auf jene barocke Forderung zurück, die Figur im Bildensemble so aufgehen zu lassen, daß die Einheit nur im ganzen von Farbe und Licht und Form empfunden werden kann.
Über diesen Formmomenten im engeren Sinn wird man nicht übersehen dürfen, was die neue Ökonomie der geistigen Akzente zugunsten der Einheit geleistet hat. Sie spielt ihre Rolle in der »Anatomie« wie bei den »Staalmeesters«. Dort mehr äußerlich, hier mehr innerlich ist der geistige Gehalt des Bildes auf ein einheitliches Motiv gebracht, wie es das ältere Gruppenporträt mit seinem Nebeneinander selbständiger Köpfe vollständig vermissen läßt. In diesem Nebeneinander liegt nicht eine besondere 181 Rückständigkeit, als ob die Kunst gerade dieser Aufgabe gegenüber an primitive Formeln gebunden gewesen wäre, vielmehr entspricht es durchaus der Vorstellung von der Schönheit koordinierter Akzente, die die Regie ja auch da festhält, wo sie freiere Hand hatte, wie im Sittenbild.
Die Fastnachtsbelustigung des Hieronymus Bosch ist ein solches Bild des alten Stils, nicht nur im Hinblick auf die Figurenfügung, sondern gerade im Hinblick auf die Verteilung des Interesses. Keine Interessenzerstreuung, wie das bei den Primitiven vorkommen kann, alles vielmehr einheitlich gefühlt und im ganzen wirksam, aber doch eine Folge von Motiven, die die Aufmerksamkeit gleichmäßig für sich in Anspruch nehmen. Das ist dem Barock unerträglich. Ostade arbeitet mit beträchtlich reicherem Personal, aber der Einheitsbegriff ist schärfer angespannt. Aus dem Knäuel des Ganzen hebt sich die Gruppe der drei Stehenden heraus, die höchste Welle im Gewoge des Bildes. Nicht losgelöst aus der Gesamtbewegung, aber doch ein übergeordnetes Motiv, das sofort einen Rhythmus in die Szene bringt. Obwohl alles laut ist, besitzt diese Gruppe doch 182 offenbar den lebhaftesten Ausdrucksakzent. Das Auge stellt sich auf diese Form ein und darnach ordnet sich das Übrige. Der Wirrwarr der Stimmen steigert sich an dieser Stelle zur faßbaren Rede.
Das hindert nicht, daß gelegentlich auch das bloße ununterscheidbare Stimmengesumme der Straße oder des Marktes dargestellt wird. Dann sind eben alle Motive in ihrer Bedeutung hinuntergeschraubt und das Einheitliche ist dann der Masseneffekt, etwas ganz anderes als das Nebeneinander selbständiger Stimmen in der alten Kunst.
Bei solcher Geistesrichtung mußte natürlich am allermeisten die Historie ihr Gesicht verändern. Der Begriff der einheitlichen Erzählung ist schon im 16. Jahrhundert festgelegt worden, aber erst der Barock hat die Spannung des Augenblicks empfunden und erst von da an gibt es die dramatische Erzählung.
Lionardos Abendmahl ist ein historisch einheitliches Bild. Ein bestimmter Moment ist für die Darstellung festgehalten und die Rolle der einzelnen Teilnehmer darnach bestimmt worden. Christus hat gesprochen und verharrt in einer Bewegung, die eine gewisse Dauer haben kann. Indessen entwickelt sich, verschieden nach Temperament und Fassungskraft, die Wirkung seiner Rede bei den Hörern. Über den Inhalt der Mitteilung kann kein Zweifel sein: die Erregung bei den Jüngern und die ergebene Gebärde des Meisters – sie deuten beide auf die Ankündigung des Verrats. – In demselben Bedürfnis nach geistiger Einheit ist dann auch von der Bühne alles weggeschafft worden, was bloß unterhaltend oder zerstreuend wirken könnte. Nur was als sachliche Forderung sich ausweisen kann, wird der Vorstellung geboten: das Motiv des gedeckten Tisches und des geschlossenen Raumes. Nichts ist für sich da, alles dient dem Ganzen.
Man weiß, was für eine Neuerung ein solches Verfahren damals bedeutete. Der Begriff von einheitlicher Erzählung fehlt zwar nicht bei den Primitiven, aber die Handhabung ist unsicher und in der Belastung der Erzählung mit Motiven, die nicht dazu gehören und ein ablenkendes Sonderinteresse erwecken müssen, hält man alles für erlaubt.
Was läßt sich dann aber für ein Fortschritt über die klassische Redaktion hinaus vorstellen? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diese Einheit zu überbieten? Die Antwort liegt im Hinweis auf die Wandlung, die wir im Bildnis und im Sittenstück beobachtet haben. Aufhebung der Koordination der Werte; ein Hauptmotiv, das für Auge und Empfindung sich über alle andern hinaus geltend macht; schärferes Erfassen des Rein-Momentanen. 183 Lionardos Abendmahl, obwohl es einheitlich redigiert ist, bietet dem Beschauer doch soviel einzelne Stationen, daß es neben späteren Erzählungen durchaus als Vielheit erscheint. Es mag manchem wie eine Blasphemie vorkommen, das Abendmahl des Tiepolo zum Vergleich hier anzuziehen, aber man kann daraus doch sehen, wie die Entwicklung läuft: nicht dreizehn Köpfe, die alle gleichmäßig gesehen werden wollen, sondern nur ein paar aus der Masse herausgeholt, die andern zurückgedrängt oder völlig verdeckt. Dafür spricht dann das wirklich Sichtbare mit doppelter Energie über das ganze Bild hin. Es ist dasselbe Verhältnis, das wir anfangs mit der Parallele der Dürerschen und Rembrandtschen Kreuzabnahme deutlich zu machen versuchten. Schade, daß Tiepolo uns nicht mehr zu sagen hat.
Notwendig wird diese Zusammenfassung des Bildes auf einzelne schlagende Wirkungen mit einer schärferen Einstellung auf das Augenblickliche verbunden sein. Die klassische Erzählung des 16. Jahrhunderts hat immer noch, im Vergleich zur späteren Kunst etwas Zuständliches, mehr auf das Bleibende Gerichtetes, oder, besser ausgedrückt, sie rechnet immer noch mit einem breiten Moment, während jetzt der Zeitausschnitt sich verengt und die Darstellung wirklich nur den kurzen Höhepunkt der Handlung packt.
Man kann dafür die Historie der alttestamentlichen Susanna anführen. Die ältere Gestalt der Geschichte ist nicht eigentlich das Bedrängen der Frau, sondern wie die Alten ihr Opfer von weitem beobachten oder darauf zulaufen. Erst allmählich, mit der Schärfung des Gefühls für das Dramatische, kommt der Moment, wo der Feind der Badenden an den Nacken gesprungen ist und ihr die heiße Rede ins Ohr raunt. Und gleicher Weise hat die spannende Szene der Überwältigung Simsons durch die Philister erst nach und nach aus dem Schema des Schläfers sich herausgewickelt, der ruhig im Schoß der Delila liegend von ihr der Locken beraubt wird.
So durchgreifende Veränderungen der Auffassung lassen sich freilich nie von einem einzelnen Begriff aus darlegen. Was neu ist im Sinne unseres Kapitels, bezeichnet einen Teil des Phänomens, aber nicht das ganze. – Wir schließen die Folge dieser Beispiele mit dem Thema der Landschaft und kehren damit auf den Boden der optisch-formalen Analyse zurück.
Eine Landschaft des Dürer oder Patenier unterscheidet sich von jeder Landschaft des Rubens durch die Zusammenfügung selbständig ausgebildeter Einzelteile, wo man wohl eine Gesamtrechnung wahrnimmt, aber bei aller Abstufung doch nicht zum Eindruck eines entschieden führenden Motivs 184 gelangt. Erst allmählich lockern sich die trennenden Schranken, die Gründe fließen ineinander, ein Motiv im Bild bekommt das entschiedene Übergewicht. Schon die Nürnberger Landschafter aus der Nachfolge Dürers, die Hirschvogel und Lautensack, bauen anders, in der prachtvollen Winterlandschaft P. Brueghels drängt sich die Reihe der Bäume von links her mit durchreißender Gewalt ins Bild hinein, das Problem der Akzente im Bild bekommt auf einmal ein neues Gesicht. Es folgt dann die Vereinheitlichung mit den großen Licht- und Schattenstreifen, wie sie namentlich durch Jan Brueghel bekanntgeworden sind. Elsheimer sekundiert von einer andern Seite her mit der Einheit schräg durch den Raum geführter, langer Baum- und Hügelzüge, wie sie in der »Geländediagonale« der Dünenlandschaften van Goyens weiterklingen. Kurzum, als Rubens die Resultante zog, ergab sich ein Schema, das, den Gegenpol zu Dürer bildend, am besten hier mit der »Heuernte von Mecheln« illustriert wird.
Eine flache Wiesenlandschaft, durch einen krummen Weg nach der Tiefe zu aufgeschlossen. Mit der Staffage von Wagen und Tieren wird die Bewegung bildeinwärts verschärft, während die seitlich abmarschierenden Heuerinnen die Fläche festhalten. Mit der Kurve des Weges geht der Zug der Wolken zusammen, der hell vom linken Rand her sich in die Höhe hebt. Dort hinten »sitzt« das Bild, wie die Maler zu sagen pflegen. Die Helligkeit des Himmels und der hellen Wiesen (in der Photographie verdunkelt) zieht auf den ersten Blick das Auge bis in die tiefen Gründe 185 hinein. Keine Spur mehr von Teilung nach einzelnen Zonen. Kein Baum, den man als etwas Selbständiges außerhalb der gesamten Form- und Lichtbewegung des Bildes auffassen könnte. – Ein Vergleich mit Dürers Landschaft mit der Kanone, wo im Gegenteil alles auf Sonderung und Verselbständigung der Teile angelegt ist, wird das Weitere ergänzen, was wir ungesagt lassen.
Wenn Rembrandt in der populärsten seiner Landschaften, der Radierung mit den drei Eichen, die Akzente noch mehr auf einen Punkt zusammenwirft, so gewinnt er damit allerdings eine neue und bedeutende Wirkung, im Grunde ist es aber doch derselbe Stil. Nie vorher hat man es erlebt, daß ein Motiv sich so sehr zum herrschenden im Bilde gemacht hat. Die Bäume allein sind es freilich nicht, sondern der versteckte Gegensatz des Ragenden und des Flachgebreiteten der Ebene. Die Bäume aber haben das Übergewicht. Ihnen ist alles untergeordnet bis auf die Bewegungen der Atmosphäre: der Himmel webt eine Glorie um die Eichen, daß sie dastehen wie Sieger. – So erinnert man sich bei Claude Lorrain einzelne Prachtbäume gesehen zu haben, die eben durch ihre unerhörte Einzigkeit so neu im Bilde wirken. Und wenn gar nichts da ist, als eine von fern gesehene flache Landschaft mit dem hohen Himmel darüber, dann ist es die Kraft der einen Linie des Horizonts, die der Landschaft den barocken Charakter geben kann. Oder das Raumverhältnis zwischen Himmel und Erde, wenn die gewaltige Luftmasse mit erdrückender Macht die Bildfläche füllt.
Das ist die Auffassung unter der Kategorie der einheitlichen Einheit, die es möglich gemacht hat, daß jetzt auch und jetzt erst die Größe des Meeres zur Darstellung kommen konnte.
Wer eine Geschichte Dürers mit einer Geschichte Schongauers vergleicht, etwa die Gefangennahme Christi im Holzschnitt der Großen Passion mit dem gleichen Blatt der Schongauerschen Stichfolge, der wird immer wieder von der sicheren Wirkung Dürers, von der Klarheit und Übersichtlichkeit seiner Erzählung überrascht sein. Man sagt dann wohl, die Komposition sei besser durchdacht und die Geschichte mehr auf das Wesentliche hin gesichtet worden, aber hier handelt es sich zunächst garnicht um Unterschiede der Qualität individueller Leistungen, sondern um verschiedene Formen der Darstellung, die weit über den Einzelfall hinaus für die ganze Art der künstlerischen Gedankenbildung verbindlich gewesen sind. Wir 186 greifen nochmal die Charakteristik der vorklassischen Stufe auf, nachdem das Grundsätzliche schon anfangs angedeutet worden ist.
Ja, die Komposition Dürers hat die größere Klarheit der Erscheinung für sich. Christus beherrscht als Schrägform das ganze Bild und läßt so schon auf alle Ferne das Motiv des Vergewaltigtwerdens sichtbar werden. Die Leute, die ihn vorwärtszerren, schärfen durch den Kontrast der Gegenrichtung die Kraft seiner Schräge. Das Thema des Petrus und Malchus aber, als bloße Episode, bleibt dem Hauptthema untergeordnet. Es bildet die eine der (symmetrischen) Eckfüllungen. – Bei Schongauer ist noch nicht geschieden zwischen Hauptsache und Nebensache. Er hat noch nicht das klare System der Richtungen und Gegenrichtungen. Stellenweise werden die Figuren verknäuelt und verfilzt erscheinen, anderes kann dann umgekehrt wieder allzu losgelöst und locker wirken. Das Ganze relativ monoton gegenüber den kontrastdurchsetzten Kompositionen des klassischen Stils.
Die italienischen Primitiven haben als Italiener eine größere Einfachheit und Durchsichtigkeit vor Schongauer voraus – den Deutschen sind sie deswegen arm vorgekommen –, aber auch hier ist es der gleiche Unterschied einer wenig differenzierten und darum in den Teilgliedern nicht recht verselbständigten Organisation, was Quattrocento und Cinquecento trennt. Wir verweisen auf bekannte Beispiele wie die Transfiguration 187 Bellini's (Neapel) und Raffaels Transfiguration. Dort drei völlig gleichwertige Stehfiguren nebeneinander, Christus zwischen Moses und Elias ohne Überordnung, und zu ihren Füßen noch einmal drei gleichwertige hockende Figuren, die Jünger. Hier dagegen nicht nur das Zerstreute in eine große Form zusammengenommen, sondern innerhalb dieser Form das Einzelne in lebendigeren Kontrast gebracht. Christus als Hauptfigur über die (ihm jetzt zugewendeten) Begleiter erhoben, die Jünger in ein entschiedeneres Verhältnis von Abhängigkeit gebracht, alles zusammenhängend und doch jedes Motiv scheinbar frei für sich entwickelt. Der Gewinn an sachlicher Klarheit, den die klassische Kunst aus dieser Gliederung und Kontrastbildung gezogen hat, ist ein Kapitel für sich. Hier möchten wir das Prinzip zunächst als dekoratives aufgefaßt wissen. Und nach dieser Seite erhellt seine Wirksamkeit ebensogut aus den rein repräsentativen Heiligenbildern wie aus den Geschichten.
Was ist es anderes als die Koordination ohne Gegensatz, die Vielheit ohne rechte Einheit, was die Anordnungen bei Botticelli oder Cima spröd und dünn erscheinen läßt, sobald man an Beispiele des Fra Bartolommeo und des Tizian denkt. Erst als das Ganze zum System zusammengenommen wurde, konnte das Gefühl für die Differenzierung der Teile erwachen 188 und erst innerhalb einer streng gefaßten Einheit konnte die Teilform zu selbständiger Wirkung sich entwickeln.
Wenn sich dieser Prozeß am repräsentierenden Altarbild leicht verfolgen läßt und für niemanden mehr eine Überraschung bedeutet, so sind es doch gerade Beobachtungen solcher Art, die auch die Geschichte der Körper- und Kopfzeichnung erst verständlich machen. Die Gliederung des Torso, wie die Hochrenaissance sie bringt, ist vollständig identisch mit dem, was im großen die Komposition des Figurenbildes erreicht hat: Einheit, System, Herausbildung von Gegensätzen, die, je offensichtlicher sie auf einander Bezug nehmen, um so mehr als Teile von integrierender Bedeutung empfunden werden. Und auch diese Entwicklung ist, wenn man von durchgehenden nationalen Verschiedenheiten absieht, die gleiche im Süden und im Norden. Verrocchios Zeichnung des Nackten verhält sich zur Zeichnung Michelangelos genau so, wie die Zeichnung eines Hugo van der Goes zu Dürer oder, anders ausgedrückt, jener Christuskörper auf Verrocchios Taufbild (Florenz, Akademie) steht stilistisch auf der gleichen Stufe wie der Akt Adams auf dem »Sündenfall« des Hugo van der Goes (Wien): bei aller naturalistischen Feinheit derselbe Mangel an Gliederung und bewußter Handhabung der Kontrastwirkungen. Wenn dann in Dürers Stich von Adam und Eva oder in dem Gemälde Palmas die großen Formgegensätze wie selbstverständlich auseinandertreten und der Leib als ein klares System wirkt, so sind das nicht »Fortschritte der Naturerkenntnis«, sondern Formulierungen des Natureindrucks auf einer neuen dekorativen Basis. Und auch wo man von antikem Einfluß sprechen muß, ist eben das Herübernehmen des antiken Schemas erst möglich geworden, als die Voraussetzung der übereinstimmenden dekorativen Empfindung gegeben war.
189 Bei Köpfen liegt das Verhältnis insofern noch klarer, als hier ohne künstliche Interpunktion eine gegebene starre Gruppe von Formen aus dem lockeren Nebeneinander zur lebendigen Einheit gebracht worden ist. Natürlich sind das Wirkungen, die man wohl beschreiben kann, die aber unverstanden bleiben, wenn sie nicht erlebt sind.
Ein niederländischer Quattrocentist wie Bouts und sein italienischer Zeitgenosse Credi sind sich darin ähnlich, daß der Kopf weder hier noch dort einem System unterworfen ist. Die Gesichtsformen halten sich noch nicht gegenseitig in Spannung und wirken darum auch nicht eigentlich als selbständige Teile.
Blickt man von hier zu einem Dürer hinüber oder zu jenem Orley, der motivisch dem Credi besonders nahe verwandt ist, so ist es, als ob man zum erstenmal erführe, daß der Mund eine horizontale Form hat, und sie scheint sich mit einem besondern Willen der vertikalen Form gegenüber zu behaupten. Im selben Augenblick aber, wo sich die Form in die elementaren Richtungen einstellt, wird auch das Gesamtgefüge ein festes: der Teil bekommt eine neue Bedeutung innerhalb des Ganzen. Von der charakteristischen Begleitung der Kopfbedeckungen ist gelegentlich schon die Rede gewesen. Das Bildganze des 190 Porträts nimmt an derselben Wandlung teil. Ein Fensterschlitz zum Beispiel kommt im 16. Jahrhundert nur noch vor, wenn er als entschiedene Gegenform eine Rolle zu spielen berufen ist.
So sehr die Italiener von Hause aus eine besonders ausgesprochene Neigung zum Tektonischen und damit zusammenhängend zum System der selbständigen Teile haben, so sind die Entwicklungsergebnisse auf der germanischen Linie doch von überraschender Gleichartigkeit. Holbeins Kopf des französischen Gesandten ist genau auf dieselben Akzente abgesetzt wie die Raffaelsche Zeichnung des Pietro Aretino im Stich des Marc Anton. Gerade an solchen internationalen Parallelen kann man am besten das Gefühl schärfen für jenes so schwer zu beschreibende Wirkungsverhältnis der Teile und des Ganzen.
Das ist es, was der Historiker braucht, um die Wandlung zu fassen im Fortgang von Tizian zu Tintoretto und zu Greco, von Holbein zu Moro und Rubens. »Der Mund ist sprechender geworden«, sagt man wohl, »das Auge ausdrucksvoller«. Gewiß, aber doch handelt es sich hier nicht bloß um ein Ausdrucksproblem, sondern um ein Schema von Vereinheitlichung mit einzelnen Pointen, das als dekoratives Prinzip auch für die Bildanordnung im ganzen verbindlich ist. Die Formen kommen in Fluß und dadurch entsteht eine neue Einheit mit einem neuen Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen. Schon Correggio hat ein deutliches Gefühl für solche Wirkungen besessen, die aus der entselbständigten Teilform hervorgehen. Der späte Michelangelo und der späte Tizian, jeder auf seinem Wege, drängen nach demselben Ziel und mit einer wahren Leidenschaftlichkeit hat Tintoretto und gar Greco das Problem ergriffen, aus der vernichteten Einzelexistenz die höhere Bildeinheit hervorgehen zu lassen. Bei Einzelexistenz ist natürlich nicht nur an den einzelnen Körper zu denken, das Problem bleibt dasselbe für den bloßen Kopf wie für die Figurenkomposition, für die Farbe wie für geometrische Richtungen im Bild. Wo der Punkt erreicht ist, daß man den neuen Stilnamen einsetzen muß, läßt sich freilich nicht bestimmen. Alles ist Übergang und relativ in der Wirkung. Die Gruppe des Frauenraubes von Giovanni da Bologna (Florenz, Loggia dei Lanzi) – um mit einem plastischen Beispiel zu schließen – scheint auf absolute Einheit hin entworfen zu sein, wenn man von der Hochrenaissance herkommt; sobald man aber Bernini vergleicht, seinen (frühen) Raub der Proserpina, so zersetzt sich alles in Einzelwirkung.
Von allen Nationen hat die italienische den klassischen Typ am reinsten 191 ausgeprägt. Das ist der Ruhm ihrer Architektur wie ihrer Zeichnung. Auch im Barock ist sie in der Entselbständigung der Teile nie so weit gegangen wie die deutsche. Man könnte mit einem musikalischen Gleichnis den Phantasiegegensatz charakterisieren: das italienische Kirchengeläute hält immer noch an bestimmten Tonfiguren fest; wenn unsere Glocken läuten, so ist es das bloße Ineinander harmonischer Klänge. Freilich stimmt der Vergleich mit dem italienischen »Gebimmel« nicht ganz: das Entscheidende in der Kunst ist ja das Verlangen nach der selbständigen Form innerhalb eines geschlossenen Ganzen. Für den Norden ist es gewiß charakteristisch, daß nur er einen Rembrandt hervorgebracht hat, wo die führende Farb- und Lichtform wie aus geheimnisvollen Gründen aufzusteigen scheint, aber was man nordische Barockeinheit nennt, ist doch nicht mit dem Fall Rembrandt zu erledigen. Es ist ein allgemeines Gefühl für das Untergehen des Einzelnen im Ganzen von Anfang an hier vorhanden, das Gefühl, daß jedes Wesen erst im Zusammenhang mit andern, mit der ganzen Welt Sinn und Bedeutung haben könne. Daher jene Vorliebe für Massendarstellungen, die dem Michelangelo als typisch für nordische Malerei aufgefallen war. Er tadelt es: Die Deutschen brächten viel zu viel auf einmal vor, ein Motiv würde genügen, ein Bild daraus zu machen. Der Italiener hat hier den national verschiedenen Ausgangspunkt nicht würdigen können. Es bedarf aber auch gar nicht der Vielheit von Figuren, nur soll die Figur mit aller übrigen Form im Bilde zu einer 192 unlöslichen Einheit verbunden erscheinen. Dürers Hieronymus im Gehäus ist noch nicht einheitlich im Sinne des 17. Jahrhunderts, aber in dem Ineinander der Formen bedeutet er doch eine ausschließlich nordische Phantasiemöglichkeit.
Als dann gegen Ausgang des 18. Jahrhunderts die abendländische Kunst einen neuen Anfang zu nehmen sich anschickte, war es eine der ersten Äußerungen der modernen Kritik, daß sie im Namen der wahren Kunst die Isolierung des Einzelnen wieder verlangte. Bouchers nacktes Mädchen auf dem Sofa bildet eine Formeinheit mit der Draperie und allem, was sonst im Bilde vorhanden ist, das Körperchen fällt dahin, wenn man es aus dem Zusammenhang nimmt. Davids Madame Récamier dagegen ist wieder die in sich geschlossene, selbständige Figur. Die Schönheit des Rokoko liegt im unauflösbaren Ganzen, für den neuen klassizistischen Geschmack ist die schöne Gestalt, was sie einst gewesen war, eine Harmonie in sich vollendeter Gliedmaßen.