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Jeder Künstler sieht die Welt in vorempfundenen Formen und Farben. Für Dürer war die Linie die Form, in der er vorzustellen gezwungen war. Wenn man sagt, er sei Zeichner gewesen, so heißt das nicht, daß er mehr gezeichnet als gemalt habe, sondern daß alle Phänomene der Natur sich ihm in Linienschauspiele umgesetzt haben. Die Plastik der Körper, die er lebhaft bis zum Übertriebenen empfindet, wird ihm zu auf- und abschießenden Linienströmen und wenn sich die Bewegung beruhigt und ins Flachere mündet, so sind es, tröpfelnd und leise, noch immer Linienelemente, die den Vorgang wiederspiegeln. Das blitzende Licht wie die stoffliche Qualität von Holz und Stein und tierischem Fell faßt er linear. Darum gibt es keinen gemalten »Hieronymus im Gehäus«. Das alte blanke Holz und der Zauber der ins Zimmer fallenden Sonne schien ihm mit den Mitteln der Zeichnung am vollkommensten charakterisiert. Und sein Werk bestätigt, daß bei analogen Aufgaben die Malerei hinter der Graphik zurückbleibt: der Bart des Holzschuher, den er gemalt hat, ist schlechter als ein gestochener Bart wie der des Kurfürsten von Sachsen.
Nun hat aber diese Dürersche Linie ihre besondere Art, an der man den Meister unter allen seinen Zeitgenossen erkennt. Wenn der zeichnerische Stil im allgemeinen geneigt sein wird, die Linienbewegung zu steigern, so sind die Kurven Dürers noch einmal mit einem besonderen Saft getränkt und es wäre vielleicht nicht unmöglich, das Gesetz ihrer Bildung zu bestimmen und auch die Modifikationen anzugeben, die es zu verschiedenen Zeiten der Entwicklung erfahren hat. Ich möchte es aber bei den Andeutungen bewenden lassen, die früher da und dort gemacht worden sind, und nur daran erinnern, daß man von einer Linie in abstracto eigentlich nicht sprechen kann, sondern nur von materiellen Linien, Federstrichlinien, Kreidestrichlinien, in Kupfer gegrabenen Linien u. s. w. und daß das Material der Zeichnung von Anfang an in der Vorstellung eines Künstlers mitarbeitet. Die künstlerische Sinnlichkeit beginnt bei der Technik. Das Material, das er sich wählt, ist schon ein Ausdruck seiner Formempfindung, wie es andererseits dann bestimmend auf sie zurückwirken wird und den Spezialisten zum Sklaven seiner Technik macht. Dürer ist sehr 290 universal gewesen und hat mit gleicher Freiheit, ohne dem Material seinen Charakter zu nehmen, im Holzschnitt und Kupferstich, in Feder- und Kohle- und Kreidezeichnung sich ausgedrückt, am nächsten aber stand ihm doch wohl die Kupfersticharbeit, wo mit langsam vordringendem, zäh und gleichmäßig geführtem Stichel die Furche in das blanke Metall gestoßen wird, die nachher im Druck als Linie erscheint, wo die Vorstellung zu höchster Bestimmtheit aufgerufen wird und nach dem Maß des geforderten Krafteinsatzes jede Wendung der formgebenden Linie doppelt und dreifach stark empfunden wird. Es scheint keine mühseligere Art des Zeichnens zu geben, und doch fand Dürer das Stechen eine lustige Arbeit gegenüber dem »kläubelnden« Malen. Die Erscheinung behält etwas Metallisches. »Der Reiz seiner Stiche besteht zum guten Teil darin, daß man das technische Instrument und sein Material, beide im dichten Kontakt ihrer Eigenschaften unbewußt durchfühlt«, sagt Robert Vischer, der gerade diese Seite von Dürers Kunst ungemein kräftig und sinnlich erfaßt hat.Robert Vischer, Studien zur Kunstgeschichte, S. 234 ff. »Das in ihnen enthaltene Künstlertum gemahnt selber so gedrang und schneidig wie Erz und Eisen, schlägt an die Erscheinung wie das Schwert auf den Schild, wühlt sich in ihr Wesen ein wie der Stichel in die Platte. Stoff und Mittel, Ich und Welt werden gleich scharf und prall. Dabei ist es bezeichnend, wie er in den Kupferstichen dieser Technik wahlverwandte Dinge, Harnische, Waffen, Helme, Zinnkrüge, metallisch glänzende Seide, seidenes Haar, Feldsteine, Wasserspiegel, Strahlenglorien, magere muskulöse sehnige Glieder mit sichtlicher Vorliebe darstellt und wie er zuweilen den milden Glanz jugendlicher Haut übertreibt, so daß ein altlasähnlicher Anschein entsteht.«
Der Holzschnitt dagegen hat etwas Stumpferes, Mürbes, er fühlt sich an wie Holzgeräte sich anfühlt im Gegensatz zu Metallgerät und gibt sich in seinem Ausdruck mit behaglicher Breite. Er steht unmittelbar auf dem Boden der Handzeichnung, während der Kupferstich mit der Raffinerie seiner Mittel weit darüber hinausgeht. Früher war es umgekehrt. Was im 15. Jahrhundert der Handzeichnung entspricht, ist der Kupferstich, und der Holzschnitt dachte nicht daran, jemals konkurrieren zu können. Erst Dürer bringt dann die große Verschiebung der Möglichkeiten: er erobert dem Holzstock den ganzen Reiz einer freien Zeichnung und weiß andererseits der Kupferplatte metallische Schönheiten abzugewinnen, die der gewandtesten Feder auf dem Papier nie erreichbar wären.
Aber auch über den Begriff der Zeichnung dachte das sechszehnte Jahrhundert anders als das fünfzehnte.
Die Zeichnung der neueren Zeit hat sich in drei Stufen entwickelt. Sie fängt 291 an mit geschlossenem Umriß und einer strichelnden Modellierung, wobei durch viele kurze übereinandergelegte Linien ein Schatten und damit die Illusion der Rundung erzeugt wird. Dann lösen sich diese undurchsichtigen Schattenmassen in wenige und einzeln sichtbare Elemente auf, der Strich wird größer und man sucht in der Führung und Haltung der klaren gleichmäßigen Strichlagen eine Schönheit für sich, um endlich auch dieses System über Bord zu werfen und malerisch-impressionistisch mit Umrißlinien zu arbeiten, wo dicke und dünne Striche unvermittelt aufeinander stoßen, wo der Zusammenhang stellenweise ganz fehlt und die Binnenzeichnung in einem Durcheinander von Linienzügen besteht, die an sich weder dekorativ noch formbezeichnend sind, aber auch nicht einzeln zum Bewußtsein kommen sollen: erst wenn sie untergegangen sind im Gesamteindruck, können sie wirksam werden. Die erste Stufe entspricht ungefähr dem 15. Jahrhundert, die zweite dem 16. und die dritte dem 17. Wie diese letzte durch Rembrandt am vollkommensten vertreten ist, hat Dürer die mittlere Manier – man kann sie die dekorative nennen – zur Vollendung gebracht. Als Cinquecentist reicht er aber auch einem Raffael die Hand über die Alpen hinüber. Es handelt sich hier um allgemein abendländische Prozesse. Es müßte sich eine Formel finden lassen für die Schönheit des Linienzugs und der Linienintervalle im 16. Jahrhundert, die gleichmäßige Geltung für den Norden und den Süden hätte.In dem kleinen Buch von Valentiner, Aus der Umgebung Rembrandts, 1905, finden sich ein paar Bildzusammenstellungen unter diesem Gesichtspunkt.
Ich wiederhole: der Holzschnitt nimmt unmittelbar teil an der Handzeichnung. Innerhalb des Gebietes der Handzeichnungen aber hat Dürer wieder nach dem Material unterschieden und ihr eigentümlicher Zauber ist wesentlich bedingt durch die lebendige Empfindung für die Natur des farbgebenden Werkzeugs, d. h. daß die Entstehung des Striches in ganzer sinnlicher Fülle dem Gefühl sich vernehmlich macht. Die Kohle, die breit angibt, will mit saftigem Zug geführt sein, wie der Bogen auf einem volltönenden Saiteninstrument, die markige Kreide verlangt mehr Zurückhaltung im Strich, bei der Feder soll man das leichte Rinnen der Linien spüren. Den Federzeichnungen hat Dürer durchweg einen eignen Geist der Leichtigkeit bewahrt: nur aus dem Anfang gibt es umständlicher durchgeführte Zeichnungen in dieser Technik. Entschieden ablehnend ist der traditionelle Silberstift behandelt. Wenn man von einer Lieblingstechnik sprechen soll, so wäre es am ehesten die Feder, nur gehört zum vollständigen Eindruck noch das alte »währschafte« Papier: moderne Reproduktionen, auch wenn sie noch so vollkommen sind, verfälschen mit dem glatten Kunstdruckpapier die Stimmung. 292
Daß Dürer für die deutsche Kunst der Mann des Schicksals werden konnte, lag zu allererst in seiner plastischen Begabung. Es war notwendig, wenn der Schlendrian einer halbklaren Raumanschauung überwunden werden sollte, daß ein Künstler kam, dessen Sinne mit der Kraft der Einseitigkeit auf das körperlich Greifbare und Tastbare gerichtet waren, der die Dinge im Raum wirklich als luftverdrängend empfand und dem ihre Schwellungen und Wölbungen zum starken sinnlichen Erlebnis wurden. Das ist bei Dürer der Fall. Mit einer Art von Leidenschaft hat er die körperliche Form umfaßt und das Auf und Ab, das Auswärts und Einwärts der Flächen als wirkliche Bewegung erlebt. Diese Sinnlichkeit der Anschauung ist es, die ihn die neuen Linien finden ließ und seine Darstellung unmittelbar ansteckend macht. Was immer es sei: wenn man von Dürer herkommt, empfindet man lebendiger, wie sich die Form im Raume regt und reckt. Es mag ein bloßes Blumengewächs sein, so wird man den wunderbaren Willen in der Gestalt stärker wirksam fühlen, wie der Stengel sich in die Höhe drängt, wie die Blätter abgehen und ihre eigene Richtung haben wollen, wie sie sich gebärden in ihren Endigungen, zackig oder lappig, mit starr ausgestreckten Rändern oder weich und saftig gerollt, und man ist vollends in Dürerischer Stimmung, wenn man nun so ein Wäldchen von Stielen als eine Welt für sich begriffen hat, voll der merkwürdigsten räumlichen Verhältnisse und heimlichen Beziehungen. Dürer ist reicher als irgend ein anderer Künstler seiner Zeit an verschiedenartiger körperlicher Form und an Mannigfaltigkeit der räumlichen Lagerungsverhältnisse. Ein Haupttummelplatz seiner plastischen Laune ist das Gefält, wo man sich ja hüten muß, die Fülle als ein malerisches Geflimmer aufzufassen: Form für Form will klar gesehen und in ihrer Beziehung zur Umgebung aufgefaßt sein und das nicht nacheinander, sondern mit einem Mal. Vielleicht gibt es überhaupt kein Auge heutzutage, das der Forderung ganz gewachsen ist.
Die ganzen Studien zum Proportionswerk wären unverständlich ohne diese plastische Grundlage seines künstlerischen Temperaments. Und wenn man dann sieht, wie er bei seinen Köpfen die Flächen abtastet, ausgeprägte alte Typen mit besonderer Vorliebe heranholt und in der Modellierung von Lippenschwellungen oder Ohrmuschelwindungen sich nicht genug tun kann, so mag man sich wundern, daß er nicht wirklich im Runden geformt hat. Es muß ihn doch in allen Fingern danach gezogen haben. In der Tat gibt es ein paar Skulpturen, die auf seinen Namen gehen, aber es ist fraglich, ob mit Recht, und selbst wenn Originale dabei wären, so ist es nicht das, was man 293 erwartet: es sind nur kleine Reliefs, und nichts Freiplastisches.Es gibt drei Stücke, die ernsthaft für Dürer in Betracht kommen: das kleine Relief einer nackten Frau vom Rücken gesehen (in Speckstein, ein Silberabguß hat, wie es scheint, gar nie existiert), die Medaille eines alten Mannes, der Dürers Vater gleicht, und eine andere Medaille mit dem Kopf der Lukretia im Sinn der Zeichnung von 1508. Vgl. über den Gegenstand die Untersuchung von Montagu Peartree (im Burlington Magazine, Sept. 1905), der geneigt ist, diese Skulpturen dem Hans Daucher zuzuschreiben. Dagegen war die Werkstatt gewiß voll von plastischen Modellen, wie solche ja auch im Dresdner Skizzenbuch vorkommen.Über die Gliederpuppe bei Dürer, die er von den Italienern übernahm, vgl. den Aufsatz von Arpad Weixlgärtner in der Festschrift für Wickhoff (1903).
Dürers Sinnlichkeit erschöpfte sich aber doch nicht in dem plastischen Gehalt der Welt. Es kommen Oberflächengefühle hinzu, nicht sehr viele und nicht gleichmäßig in allen Perioden, aber in ihrer Hauptgruppe von einer großen Kraft. Was am stärksten zu ihm gesprochen hat, ist das Metallisch-Blanke. Ich meine nicht nur wirkliches Metall, auch Seide und Federn und weiches Haar haben ja etwas Metallisches. Es sind lauter Dinge, wo das widerstrahlende Licht zum Glanzblick sich sammelt. Mag sein, daß bei diesem Urteil die Erinnerung an den Kupferstich den Ausschlag gibt, doch schadet das nichts: der Kupferstich ist ja der Ort, wo Dürer eben aus Wahlverwandtschaft mit dem Material am meisten sich angeregt fühlte, seiner Stoffempfindung nachzugehen. Die Malerei bleibt weit zurück. Neben Grünewald oder auch nur neben Altdorfer erscheint er furchtbar trocken und arm. Es kommt hier zu Tage, daß sein Verhältnis zur Farbe doch der natürlichen Wärme entbehrte.
In ganz anderer Weise reagierte seine Empfindung auf Licht und Dunkelheit. Lichtphänomene haben immer einen starken Gefühlston für ihn gehabt. Das Schauspiel des Hieronymusstiches, wo die Sonne, durch runde Scheiben gebrochen, den Zimmerraum in vielfacher Bewegung durchströmt und heimlich macht, ist vorbereitet durch eine frühe, höchst feine Sensibilität für den Gang von Lichtern, und strahlende Glorien auf dunklem Grund können füglich ein Urerlebnis seiner Phantasie genannt werden. Bei alledem bleibt er freilich immer Plastiker, insoferne er die Deutlichkeit der Gegenstände nicht preisgibt. Das Halbklare, das Verschwimmende, Atmosphärisch-Weiche liegt ganz außerhalb seiner Kunst. Er wäre nie imstande gewesen, die Konsequenzen aus seiner Lichtdarstellung zu ziehen, die Altdorfer gezogen hat. Dieser bringt den ganzen zitternden Glanz eines Abendhimmels in seinem Kupferwerk und es bezeichnet vollständig den Unterschied, wenn er die sinkende Sonne dann nicht mehr als Kreis, sondern als unregelmäßig verschobene Form zeichnet, wie ja in der Tat 294 das geblendete Auge eine reine Kreisform in der Sonne nicht mehr sieht. Das aber ist bereits Impressionismus und Impressionismus ist der Gegenpol von Dürerscher Kunst. Dürer sucht die Dinge so zu geben, wie sie sind, nach ihrem ganzen plastischen Inhalt, und nicht wie sie erscheinen. Insofern hat er für die deutsche Kunst retardierend gewirkt.
Zolas Definition vom Kunstwerk, daß es ein Stück Natur sei, gesehen durch ein Temperament, ist eine schlechte Definition selbst im Sinne seines Naturalismus, weil sie das Sehen als das Selbstverständliche voraussetzt, während doch gerade hier die künstlerische Kraft sich zu bewähren hat. Das Temperament macht noch keinen Künstler, sondern erst die Klarheit seines Sehens. Man kann darüber disputieren, ob ein temperamentloses Kunstwerk jemals gut sein könne, aber es steht außer Frage, daß es eine Menge temperamentvoller Kunstwerke gibt, die wertloser Dilettantismus sind.
Dürer gehört zu den wenigen ganz großen Sehbegabungen, die mit einemmal ihre Zeit in ein neues Verhältnis zur Welt bringen und einen neuen Begriff bildnerischer Klarheit aufstellen. Der Ruhm seiner Augen ist sprichwörtlich geworden. Wer von Dürer sonst nichts kennt, weiß, daß er die Dinge mit mikroskopischer Schärfe gesehen hat und das Wunderbare leistete in der Wiedergabe der kleinsten Einzelheiten der Form. Er selbst spricht mit Nachdruck darüber, daß man gar nichts auslassen dürfe und den kleinsten Rünzelchen und Äderchen noch folgen müsse. »Denn es gilt nit, daß man obenhin lauf und überrumpel ein Ding.« Allein diese Sorgfalt im einzelnen, die dem Laien am meisten imponiert, ist noch nicht das, was ihn zum großen Künstler macht. Zur Kunst wird diese Kleinbeobachtung erst, wenn das Detail dem Gesamteindruck unterstellt wird, so daß das ganze bei allem Reichtum doch einfach aussieht und in die dominierenden Linien gesammelt ist, was den wesentlichen Charakter enthält. Dazu gehört die klare Vorstellung der Sache, die man mitbringen muß, bevor man zu zeichnen anfängt. Hans von Marées hat das drastisch einmal so ausgesprochen: wer nicht wisse, daß der Baum aus Wurzel, Stamm und Krone bestehe, werde niemals nach der Natur einen Baum ordentlich zeichnen können. Wie Dürers Kunst immer mehr auf das Wesentliche und Entscheidende sich richtet, braucht hier nicht noch einmal an Beispielen erörtert zu werden. Die Erziehung seiner Vorstellung lag in dem früh einsetzenden Trieb, der Dinge nach ihrer vollständigen Gestalt sich zu bemächtigen. Das ist es, was ihn zum Reformator macht: daß er auf die einfachsten Ansichten zurückgriff, reine Profilstellung, reine Frontstellung, 295 damit die Sache sich offenbare in vollständiger Deutlichkeit. Kein Mensch im Norden wußte, was ein Pferd sei, bevor er einmal in seinem Stich des Ritters mit Tod und Teufel die Gestalt in ihren typischen Formkontrasten entwickelt hatte. Die Pferde der älteren Maler haben auch Rumpf, Kopf und Beine, aber hier erst sind diese Elemente in derjenigen Klarheit gesehen und einander entgegengesetzt wie Marées sie bei den Bäumen verlangte: daß in der Darstellung als erster Eindruck das primitive Verhältnis durchschlage, das Gebilde aus Wurzel, Stamm und Krone. Jetzt erst weiß man, was ein Gesicht ist und ein Arm und ein Fuß. Gewiß, es mischt sich in Dürer ein doktrinärer Zug mit dem künstlerischen, aber die unscheinbarste Umrißzeichnung des Proportionswerks wäre doch durch den vollkommensten Akt eines Jan van Eyck nicht zu ersetzen. Sie ist bedingt durch ein Bedürfnis nach vollständiger Begreifung der Figur, das als ein neuer Erwerb Dürers und des 16. Jahrhunderts überhaupt anerkannt werden muß.Erasmus hat in die Schrift de recta latini graecique pronuntiatione ein Urteil über Dürer eingeschoben, das u. a. als Besonderheit des Künstlers nennt: ex situ rei unius non unam speciem sese oculis intuentium (exprimit). Der dunkle Satz möchte am ehesten im Sinn der obigen Ausführung zu deuten sein. Vgl. übrigens Anhang, vierte Anmerkung.
Ich nenne Dürers Kunst eine Darstellungskunst und denke dabei als Gegensatz an Grünewald, dessen Kunst in erster Linie Ausdruckskunst war. Dürer ist immer sachlich gestimmt gewesen. Er hat sich nie vergessen, nie zu hinreißender Äußerung erhitzt, der Rausch der Empfindung fehlt völlig. Es müßte eine merkwürdige Auseinandersetzung gegeben haben, wenn er mit dem Meister des Issenheimer Altars sich einmal getroffen hätte, der alle Mittel in den Dienst des Ausdrucks stellte und der sich – darin mit Böcklin verwandt – nie ein Gewissen daraus gemacht hat, das Richtige zugunsten der stärkeren Gefühlswirkung umzubiegen. So bescheiden Dürer von sich dachte und so sehr er überall bereit war, fremdes Verdienst anzuerkennen, so ist doch zu glauben, daß Grünewald ihm ein innerliches Grauen verursacht hätte, gerade weil ihm die Macht dieses »gewaltsamen« Künstlers wohl zum Bewußtsein gekommen wäre. Er hätte ein ähnliches Wort brauchen können, wie es einmal der alte Cornelius gegen Feuerbach fallen ließ: »Sie haben vollkommen erreicht, was ich zeitlebens zu vermeiden bemüht war.« Nur würde er es ohne den Aplomb von Cornelius gesagt haben.
Jede Einzelfigur bei Dürer ist so reich an detaillierter Form, so vollgewichtig, daß man begreifen kann, wie sie in der Phantasie des Künstlers ein Eigenrecht 296 behauptete und sich nicht leicht mit anderen zusammenschloß. Es war für ihn nicht selbstverständlich, von der Vorstellung des Ganzen auszugehen und daraus das einzelne zu entwickeln; wenn eine Gesamtidee vorausgeht, so verselbständigt sich im Laufe der Arbeit das Einzelne meist so sehr, daß das Ganze doch brüchig und mühsam zusammengesetzt erscheint. Es ist das sonderbarste Kapitel in Dürers Kunstpsychologie. Man darf nicht sagen, daß ihm seine Phantasie zusammenhängende Bilder nicht geliefert habe. Die Federskizzen zum Marienleben zeigen, wie deutlich ihm so ein Ensemble vor dem Auge stand und in der Holzschnittausführung ist die Skizze nicht verloren gegangen. Auch frühe Bilder wie der Paumgärtneraltar und die Anbetung der Könige besitzen dieselbe Selbstverständlichkeit in dem Zusammengehen des Einzelnen mit dem Ganzen. Sobald aber die Form strenger durchmodelliert wird, verliert Dürer den Zusammenhang. Eine höhere Einheit ist zwar immer da, aber sie kann nicht recht wirksam werden. So ist es bei dem dreieckigen Verhältnis der Personen der »Eifersucht« und so später bei dem Rosenkranzbild und dem Helleraltar. Ja, die einzelne Figur fällt auseinander in Kopf und Hände und Füße, wie das bei eben diesem Hellerbild deutlich wird, wo alle Meisterschaft nicht ausreichen konnte, das Einzelglied mit der Figur zu vollem Leben zusammenzuschmelzen. Darum bleibt es doppelt zu bedauern, daß das vielfigurige späte Heiligenbild nicht gemalt worden ist: es wäre ein Bild geworden, das in seinem großen rhythmischen Zusammenhange unter allen Bildern Dürers allein jene belebende Schönheit besessen hätte, die aus dem Zusammenatmen von reichem und frei entwickeltem Einzelleben notwendig hervorgeht. Die späten Erzählungen können bei ähnlichen Vorzügen wegen ihrer Kleinheit nicht in Betracht kommen. Die Entwicklung aber ist offenbar. Erst in den letzten Jahren kann man sagen, daß das Muffige der kleinen Werkstatt ganz überwunden sei und Dürers Anschauung so ausgebildet, daß er im einzelnen alles geben kann, ohne doch den Beschauer in die Enge zu ziehen.
Man hat es aus einer übermäßigen Abhängigkeit vom Modell erklären wollen, daß Dürer so oft mehr beengend als befreiend wirkt. Er habe kein Gewandendchen machen können ohne Vorlage. Er sei auf ein mühsames Zusammensetzen von zufälligem Studienmaterial angewiesen gewesen. Was Wunders, wenn im ganzen der große Blick fehle und die Betrachtung etwas Peinigendes behalte?
So ausgedrückt muß die Behauptung Mißverständnisse erzeugen. Dürer, der Zeichner des Gebetbuches, hätte sich nicht auf seine innere Vorstellung verlassen können? Es ist wahr, das Verhältnis zwischen Modell und 297 Erfindung wirkt manchmal unausgeglichen; man weiß nicht, ist es Mangel an Selbstvertrauen oder Ehrfurcht vor der Natur, daß er selbst bei Nebendingen – man denke z. B. an das Gesträuch im Stich von »Ritter, Tod und Teufel« – lieber auf eine alte Naturzeichnung greift als aus der Situation heraus etwas erfindet, und es ist offenbar, daß die Frische des Phantasiebildes bei solchem Verfahren leidet. Aber die innere Anschauung war da, der »heimliche Schatz« war gefüllt. So sehr er sich an die Natur klammert, so weiß er doch auch ohne sie vollkommen auszukommen. Ich glaube nicht, daß ein ähnlicher Fall in der Kunstgeschichte bekannt ist. Gewiß, Dürer hat mit peinlichstem Bemühen Draperien nach dem Modell gezeichnet, aber dann überläßt er sich wieder der bloßen Führung seiner Phantasie und man merkt keinen Unterschied. In allem flatternden Gefält hat er ja so wie so aus der eignen Vorstellung arbeiten müssen. Derselbe Mann, der scheinbar mit ganz unbehilflicher Vorstellungskraft seine Bilder zusammensetzt, Figur um Figur, entwirft mit fliegender Feder die kompliziertesten Szenen. Es ist sicher nicht ohne Bedeutung, daß wir so wenig Kompositionsskizzen haben, ich meine so wenig Vorstufen zu einer Bildidee. Dürer hat nicht lange gebraucht, bis er sich zu dem Bilde hinauftastete, das er wollte: es stand gleich bis in alle Winkel deutlich vor seinem Auge. Und schließlich ist es auch die Klarheit der innern Vorstellung gewesen, die ihn befähigte, vor der Natur mit jener wunderbaren Sicherheit ohne Korrekturen zu zeichnen und gegebenenfalls auf der Kupferplatte noch über seine Vorzeichnung hinauszugehen.
In den Zeichnungen wird jeder die Lust ihrer leichten und sicheren Entstehung spüren, es muß ein Mangel an Kultur gewesen sein, daß ein so eminenter Formsinn sich nicht in lauter hellen und durchsichtigen, mühelos zu betrachtenden Werken hat betätigen können.
Dürer'scher Stil bedeutet für uns immer etwas Krauses. Die Frage ist, hat er die Dinge so gesehen oder hat er sie absichtlich ins Krause umgebildet? Es gibt kein objektives Sehen und wenn zwei dasselbe zeichnen, sind es zwei verschiedene Bilder: jeder sieht mit seinem Blute. Das sind bekannte Tatsachen. Sie reichen aber nicht aus, das Phänomen bei Dürer zu erklären. Man muß sich an eine Auffassung vom Wesen des Bildes bei ihm gewöhnen, die uns ganz fremd geworden ist: sein Stil ist nicht ein Nicht-anders-sehen-können, sondern eine ganz bewußte Steigerung, Verbrämung, Umbildung der Naturform. Es gibt Zeichnungen von ihm, die unwidersprechlich beweisen, daß er mit einer erstaunlichen stilistischen Vorurteilslosigkeit die Natur zu sehen imstande war; sie wirken vollkommen naturalistisch; aber der Naturalismus 298 hörte auf für ihn verbindlich zu sein, sobald es sich um ein Bild und nicht um eine Studie handelte. Am weitesten weicht er aus im Holzschnitt, dessen verhältnismäßige Armut eine vollere dekorative Behandlung der Linie notwendig zu machen schien. Da wendet er die Form am meisten ins Krause und sticht am unbedenklichsten seine Triller und Passagen in das Thema ein. Im Kupferstich ist er zurückhaltender, aber doch sagt er sich auch da, daß man die Linie steigern müsse, wenn man einigermaßen mit dem Eindruck der Natur Schritt halten wolle. Und die Handzeichnungen enthalten die weiteren Belege, wie er nach Material und Maß der Durchführung die Linie jedesmal verschieden behandelt. Jene objektiv wirkenden Naturstudien sind die ganz ausführlichen Aquarell- und Deckfarbenzeichnungen. Und nun sollte man meinen, daß wenigstens für das Gemälde eine Verpflichtung zum Naturalismus anerkannt worden sei, allein man täuscht sich. Dürer hat es auch da je nach der Aufgabe verschieden gehalten. Manchmal gibt er mehr, manchmal weniger, vielleicht hat er nirgends den farbigen Gehalt seiner besten Zeichnungen erreicht, jedenfalls schnellt er unerwartet immer wieder einmal auf einen ganz unmalerischen Ausdruck zurück, als ob er überhaupt nie etwas von dem Verhalten der Farbe in der Natur gewußt hätte.
Dies also will überlegt sein, wenn man von Dürers Stil spricht und erst auf dieser Grundlage ließe sich dann die weitere Frage erörtern, ob und inwieweit bei ihm auch Gesichtsausdruck und Gebärde eine Stilisierung erfahren haben. 299