Heinrich Wölfflin
Die Kunst Albrecht Dürers
Heinrich Wölfflin

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Die frühen Stiche

1.

Die Anfänge des Stiches bei Dürer gehen wahrscheinlich ebensoweit zurück wie die des Holzschnittes. Aus der Goldschmiedwerkstätte war ihm der Umgang mit dem Metall von früh an ein vertrauter, die Präzision seiner Anschauung aber drängte ihn förmlich zu dieser Technik und als dann das Problem des menschlichen Körpers ins Zentrum trat, war es auch schon entschieden, daß die Aufgabe nur auf der Kupferplatte mit dem Reichtum, der Feinheit, der Bestimmtheit der metallischen Linien gelöst werden könne. Insofern kann man sagen, für die Jugendzeit Dürers bezeichne der Stich die tiefste Spur der Entwicklung.

Die ersten Stiche wirken rauh und spitzig. Dürer behandelt den Stichel ganz nach Art der Feder, verlangt viel malerische Wirkung, legt die Striche unordentlich übereinander. Eine charakteristische frühe Arbeit, wie die Maria mit der Heuschrecke, sieht aus als ob er die Wirkung Schongauers mit der des Hausbuchmeisters habe verbinden wollen. Dann entwirrt sich allmählich die Unklarheit, die Linien, mit mehr Überlegung gewählt, werden zu reinerer Erscheinung gebracht und die malerische Wirkung baut sich auf kräftigere Gegensätze von hell und dunkel. Beispiele dieser Art sind die Maria mit der Meerkatze oder das große Blatt der Eifersucht. (S. Abb. weiter unten) Und dann, bald nach 1500, bereitet sich jene Verfeinerung vor in der Zeichnung und in der Lichtbehandlung, wie wir sie auch im Holzschnitt kennen und die zu der unnachahmlichen Technik des großen Glückes, des Totenkopfwappens, des Adam- und Evablattes führte (Abbildungen folgen). Die Oberflächen der Dinge in ihrer stofflichen Verschiedenheit sind mit einem Feingefühl behandelt, das in der eigentlichen Malerei dieser Jahre keine Analogie hat.

Es empfiehlt sich, die kurze Folge der Marienstiche an erster Stelle zu behandeln: die Entwicklung in drei Stufen ist vollkommen darin ausgesprochen.

Maria mit der Heuschrecke

Die Maria mit der Heuschrecke (B. 44) repräsentiert den Anfangsstil. Das alte Motiv der Mutter, die im Freien auf einer Rasenbank sitzt, mit dem schlafenden Joseph zu seiten. Das Format auffallend groß und die Absicht offenbar auf reichste Wirkung gerichtet Ausgedehnte Draperie mit zusammengehaltenen Schattenmassen, wie sie im Holzschnitt nicht ihresgleichen haben. 84 Das Figürliche mühsam und teilweise ungenügend, im Vergleich zu der frühern Zeichnung aber (Abb. im Kapitel »Grundlagen und Anfänge«) ist die Überwindung bloß frontaler Ansichten bedeutsam. Die Verkürzung im Kopf des Joseph vielleicht bedingt durch Pollaiuolo. Spitz und ungelenk, wie die Strichführung nun einmal ist, kommt ein rechter Eindruck der Rundung und Fülle nicht zustande und auch der Blick ins Weite behält trotz allem Aufwand an Einzelmotiven etwas Märzlich-Frostiges. Der Stich wird auf 1495 zu datieren sein.Wenn man den Josephskopf von Pollaiuolo abhängig macht, so wäre das Datum entschieden. Gottvater ist von Schongauer (B. 8) übernommen.

Etwa fünf Jahre später die Maria mit der Meerkatze (B. 42). Schon fest und klar im Strich, mit energischen Tiefen. Wieder die sitzende Frau im Freien, diesmal aber in italienischer Redaktion. Dürer muß eine Vorlage aus dem Kreise des jungen Lionardo (vielleicht von Lorenzo di Credi) benutzt haben. Das Kind gehört ganz dieser Kunstrichtung an, aber auch in der Mutter mit der milden Neigung des Kopfes und der kontrastierenden Schiebung der Knie ist die lionardeske Empfindung unverkennbar.Der Kopf geht zusammen mit dem mittleren Frauenkopf der »Eifersucht«, die schon durch die Technik sich als gleichzeitig erweist und es ist bemerkenswert, daß auch dort lionardeske Motive vorkommen. S. unten. Man muß an den Typus der Maria in der Florentiner Anbetung der Könige denken. Und dieses Motiv ist nun vollkommen plastisch durchgefühlt und man weiß genau, was unter den Kleidern ist. Der Faltenwurf überwuchert nicht mehr die Gestalt, sondern ist ihr Ausdruck und kommt durch alle Dürerschen Kräuselungen nicht zu Schaden darin. Zum Schluß eine Landschaft, die, bei ausgehobener Symmetrie, bereits den Bedürfnissen der Figur entsprechend angeordnet ist.Zu dieser Landschaft existiert die Naturaufnahme als farbige Zeichnung in London (L. 220) und es ist wertvoll, durch den Stich eines dieser Aquarelle einmal zeitlich fester bestimmen zu können. An sich würde das Vorkommen des gleichen Motivs hüben und drüben zwar noch nicht beweisen, daß der Stich gerade nach dieser Naturzeichnung gemacht sein müsse, allein die Übereinstimmung im Zufälligen, in der Disposition des Gewölks, des Ginsterstrauchs usw. ist so groß, daß das Abhängigkeitsverhältnis unmöglich geleugnet werden kann.

Maria von 1504

Endlich die Maria von 1503, die kleinste von den dreien, aber die empfundenste, ganz in dem feinen, reichen Stil und in der behaglichen Stimmung der Holzschnitte des Marienlebens. Die Situation im allgemeinen ist keine andere als vorher, aber jetzt ist es ein geschlossener Winkel, in den die Szene hineinverlegt ist. Die Mutter neigt sich, dem Kinde die Brust zu geben, und dabei kommt es zu einem Spiel der Hände, so reizend in seiner Natürlichkeit, wie Dürer später nie mehr etwas erfunden hat. Und hier versteht man auch unmittelbar die Poesie des Faltenwerks. Wie das Geplätscher eines 85 Brünnleins einen ganzen Garten freundlich machen kann, so gewinnt durch die Bewegung des Gefälts das Bildchen erst die rechte Munterkeit. Und wie zierlich klingt dann die Stimmung aus in dem Sträuchlein mit dem Rankengeringel am Haag!

 

2.

Für die Schätzung des Kupferstichs als der vornehmsten Kunst gibt es kein gewichtigeres Zeugnis bei Dürer als die Tatsache, daß er ihr das Problem des nackten Körpers vorbehielt. Die Entdeckungen, die die neue Kunst über Bau und Bewegung der organischen Form zu machen hatte, wurden als Stichel-Zeichnungen veröffentlicht und die große Frage, die sich auftat, die Frage nach der Schönheit der menschlichen Gestalt, wurde auf der Kupferplatte beantwortet. Die Arbeiten dieser Gruppe sind zweifellos für Dürer die interessantesten gewesen.

Als kleine Introduktion kann man das Blättchen mit den sogenannten sechs Soldaten auffassen (B. 88), eine Sammlung von Stehmotiven, die die Kenntnis Italiens bereits zur Voraussetzung haben. Neumodische Bewegung und neumodisches Kostüm. Der schreitende Lanzenträger geht auf die Zeichnung des Frauenraubs nach Pollaiuolo zurück. Die Technik des Stiches ist noch die primitive.Das lateinische Monogramm kommt hier wahrscheinlich zum erstenmal vor. Durch die Pollaiuolo-Zeichnung von 1495 ist ein Anhalt zur Datierung gegeben.

Cima da Conegliano
Sebastian (Ausschnitt)

Sebastian an der Säule

Fortgeschritten und wertvoll als erste nackte männliche Figur: der Sebastian an der Säule (B. 56) mit großem, schwerem Kopf, an apokalyptische Bildungen gemahnend.Es gibt zwei Zustände von diesem Stich: mit geschlossenem Mund und mit geöffnetem Mund. Die Ponderation ist italienisch. Das 86 Vorbild möchte Cima da Conegliano geliefert haben, der seinerseits aber durch Perugino bedingt ist.Cimas Sebastian, den ich hier abbilde, ist dem großen Altarbild der Akademie in Venedig entnommen, für das Rudolf Burckhardt neuerdings Dragan als Besteller nachgewiesen hat und das, nach seiner chronologischen Rechnung, Dürer in Venedig wohl gesehen haben kann. Jedenfalls wäre das Motiv für 1495 gesichert durch den übereinstimmenden Sebastian auf dem Bilde bei Mond (London), das zu dem so datierten Mittelbild einer Verkündigung in Petersburg gehört (Burckhardt, Cima da Conegliano, S. 143). Die Figur ist offenbar verwandt mit der typischen Bewegung Peruginos, und Cima muß dabei als der Empfangende, nicht als der Gebende betrachtet werden. Perugino war 1494 in Venedig gewesen. Es handelt sich hier um eine freiere Wiedergabe des Originals als wir sie von den Stichkopieen her kennen; ganz natürlich. Um so deutlicher läßt sich ersehen, was Dürers ästhetische Meinung eigentlich gewesen ist und wie er doch der Figur durch die knorrige Zeichnung eine höhere Schönheit geben zu können glaubte. Was das Motiv als solches bedeutet, zeigt ein Vergleich mit Schongauer, der mit dem zierlichen und knabenhaft zarten Sebastian (B. 56, s. Abb. oben im Kapitel »Grundlagen und Anfänge«) den Geschmack seiner Generation jedenfalls vollkommen getroffen hat. Ein Aufbau auf spitzer Basis, die Füße gekreuzt und nicht mit der Sohle am Boden haftend. Trennung der Kniee bei beidseitiger Knickung und dann ein starkes Ausweichen des Körpers in der Mitte, kontrastierend begleitet von der Gegenwindung des Baumstammes. Die Arme hochgebunden, mit viel Feinheit in der Fingerbewegung und absichtlichem Herausholen der spitzen Form im Ellenbogengelenk. Der Gesamtumriß eckig und bewegt. Das Lendentuch muß zackig flattern und der Baumstamm mit feinem, dürrem Geäst ausgreifen.Es wäre dilettantisch, wenn man die kahlen Bäume bei Schongauer irgendwie anders deuten wollte denn als dekoratives Linienspiel, von derselben Empfindung eingegeben, die den Körper eckig und die Gewandfalten hartbrüchig haben wollte. Der entblätterte Baum war eben schöner als der belaubte. Er wird der Maria im Freien als freundliche Begleitung beigegeben und wenn er auf der Kreuzigung sich findet, so beweist schon das gleichzeitige Vorkommen der Baumkugeln im Hintergrunde, daß nicht eine besondere Jahreszeit angedeutet werden sollte.

Der »welsche« Stil verlangte die Linie umgekehrt groß und fließend, die einheitlich durchgeführte Bewegung, der Körper nicht gebrochen, aber bestimmt 87 gegliedert, mit klaren Gegensätzen, wie dem der Belastung und Entlastung in den Beinen. Er hatte zur Voraussetzung eine andere Auffassung des Körperlichen überhaupt: die Schätzung der Schwere des Leibes und die Empfindung für das Wohltuende gewisser Gleichgewichtsverhältnisse, die die Last als eine leicht getragene erscheinen lassen. Das Schönheitsurteil entscheidet sich zugunsten der breitern und völligern Gewächse; man sieht den Körper überhaupt nach andern Kategorien: wenn die nordische Gotik ihn in wesentlich vertikalem Sinn interpretierte, so tut es die italienische Renaissance (auf Grundlage der antiken Auffassung) in horizontalem. Entscheidend für den Eindruck ist die Partie am Becken, wo die Italiener, Bauch und Lendenmuskeln verbindend, eine durchgehende untere Begrenzung des Torso gewinnen, eine stark sprechende horizontale Teilung, während die Nordländer vor dem 16. Jahrhundert diese Gliederung nicht kennen, im Gegenteil die Teile vertikal zusammennehmen und nur unterhalb des Brustkorbs die Silhouette scharf einziehen, so daß er oft wie abgeschnürt erscheint. Entsprechend geben die Welschen die Fläche der Bauchmuskeln als großen breiten Schild, breit schon ansetzend an dem Bogen der falschen Rippen, während im Norden dieser Bogen nur als enge Gabel vorkommt.

In blindem Vertrauen auf die Vortrefflichkeit der italienisch-antiken Zeichnung ergreift Dürer das neue Schema zugleich mit dem neuen Ideal von Bewegungsschönheit. Zu dem genannten Sebastian findet man im frühen Holzschnittwerk die Verwandten.Vgl. zur Stellung den Hauptengel auf B. 66 der Apokalypse, zum Kopf seinen Nachbarn. (Abb. vorn im Kapitel »Die Apokalypse«). Die neue Form hat einen so großen Zauber, daß sie die Natur überstrahlt. Schongauers Sebastian ist entschieden originaler und, trotz aller Spätgotik, naturalistisch-feiner.

88 Man wird das Dürersche Blatt ungefähr ins Jahr 1497 setzen müssen. Dieselbe Zahl findet sich auf dem ersten datierten Stich Dürers, den sogenannten Vier Hexen (B. 75), wo er das Thema des weiblichen Körpers aufnimmt.

Die vier Hexen

Eine Gruppe stehender nackter Weiber, offenbar um ihrer selbst willen dargestellt. Erst allmählich entdeckt man die Teufelsfratze, die durch einen Türspalt hereinschaut und mit ihrer Flammenbegleitung den Beschauer merken läßt, daß es sich hier nicht um einen Chor der Grazien handelt, sondern um einen tüchtigen Höllenbraten.Die Buchstaben O. G. H. sind noch nicht überzeugend erklärt. Sandrart (Teutsche Akademie II, 222) sagt, daß etliche meinten, sie bedeuteten »O Gott hüte« (d. h. behüte uns vor Zauberei). Das Hexenmäßige fehlt diesen Weibern freilich völlig. Wer eine Walpurgisnachtphantasie sehen will, muß sich an Baldung Grien wenden, der so recht in der Gemeinheit des Fleisches schwelgen kann. Dürer will hier im Grunde nichts anderes geben als ein paar schöne Frauenakte. Sie scheinen aber in der Tat einmal als Grazien bezeichnet worden zu sein, denn Sandrart sah sich veranlaßt, gegen den Namen zu protestieren.Teutsche Akademie II, 222. Er wendet sich vermutlich gegen van Mander, le livre des peintres (ed. Hymans) I, 114. Natürlich hat er recht. Und doch muß man in Gedanken die Komposition mit italienischen Gruppen der Grazien zusammenhalten, wo ja auch eine Rückenfigur die Mitte abzugeben pflegt. Daß es hier vier Figuren sind, ist nebensächlich, denn die vierte ist ein bloßes Einschiebsel, notwendig nur für Dürer, dessen Auge nicht nach einer Reliefkomposition in klaren Linien verlangte, sondern nach der malerisch reichen Gruppe mit Überschneidungen, wobei er für Wert und Unwert einer größeren oder geringeren Klarheit noch kein Gefühl hatte. Die Frauen stehen auf verschiedenem Niveau, was auch im Interesse des Reichtums angeordnet wurde, aber kaum in seinen Konsequenzen durchgeführt ist. Der Hintergrund ist dunkel.

Von dieser Folie gehen die Leiber hell ab, und was für Leiber! Mit einer noch ungefügen, störrischen Linie ist der zentrale Rückenakt doch zu einer wahrhaft bedeutenden Erscheinung gebracht. Es ist ein neues Gefühl, eine neue Sinnlichkeit in der deutschen Kunst, wie hier die breiten Hüften dieses Weibes gefaßt sind, die bestgezeichnete Partie überdies, groß gesehen und mit sicherm Fluß der Linie modelliert, während bei den Füßen die Kraft ausläßt und eine unklare und unentschiedene Strichführung auch in den Schulterpartien den Effekt in Frage stellt. Dürer kennt noch nicht den Sinn der Linien. Der beschattete Oberarm hätte nicht in Vertikalen, die der Längsaxe folgen, gegeben werden dürfen; er bekommt dadurch eine Spannung, die hier nicht hingehört. Die zweite Rückfigur, in Verkürzung gesehen, ist zeichnerisch ganz verunglückt, 89 aber auch die Frontfigur erreicht nicht den Natureindruck der mittleren: sie posiert aufs Italienische in Stellung und Kopfhaltung, hat aber nordische Details. Und das ist eben das Merkwürdige hier und in der Folge: das Schwanken zwischen italienischer Form und deutscher, spätgotisch empfundener Natur. Man ahnt, wie viel Kraft bei diesem zwiespältigem Wesen verloren gehen mußte.

Unmittelbar vor dem Hexenstich, 1496, hat Dürer das Nebeneinander weiblicher Akte auch in einer ausführlichen Zeichnung behandelt, dem Frauenbad (Bremen L. 101), das wie der Holzschnitt des Männerbades ganz unter dem Eindruck italienisch-großer Form und Bewegung entworfen ist. Wenn man sieht, mit welcher Freiheit die Motive hier erfunden und mit wie breiten Lagen die Flächen eines vollen Rückens abgestrichen sind, so könnte die Zeichnung der Hexen wie ein Rückschritt erscheinen, doch ist die Erklärung wohl wesentlich in der peinlichern Arbeit des Stichels zu suchen.Wahrscheinlich ist das Frauenbad zur Umzeichnung auf den Holzstock bestimmt gewesen, doch existiert nur ein geringwertiger Ausschnitt. Als formales Gegenstück zum Männerbad kann es nicht gelten.

Der italienisierende Akt der Hexen erscheint weiter gebildet in dem Stich der Versuchung (B. 76). Es muß ein besonders schöner Eindruck gewesen sein, der hier nachklingt. Ein nacktes Weib mit winkend vorgestrecktem Arm: das Lässige im Stehen, das Leichte der Wendung, das Lockende der Gebärde, – es wirkt selbst in Dürers Zeichnung süß und schmeichelnd. Woher er die Figur hatte, ob sie seine eigene Vision gewesen ist, weiß ich nicht anzugeben. Jedenfalls originell ist, was er dazu komponiert hat, der wohlgenährte Mann, der auf der Ofenbank sitzt und sein Schläfchen hält, den Kopf in Kissen gebettet und die Hände in den Ärmeln vergraben. Ein Teufel liegt ihm mit dem Blasebalg am Ohr. Man kennt das Blatt unter dem Namen: der »Traum des Doktors«. Der Name ist zwar nicht alt, indessen kann die Bedeutung kaum anders sein. Genaue litterarische Parallelen sind bisher nicht gefunden worden, doch halten sich die Motive des lüsternen Doktors und die Versuchung durch das Traumbild einer schönen Frau durchaus im Kreis des Bekannten. Die Gebärde der Frau hat Dürer mit unzweideutigem Sinn in der spätern Versuchung des heiligen Antonius wiederholt (L. 576). Der Putto am Boden, der auf Stelzen zu gehen versucht, mag als Amor gedeutet werden. Es ist ein höchst wirksamer Gegensatz: die schlanke nackte Frau mit der Grazie ihrer Bewegung und der schlafende feiste Mann, sinnlich ist sie aber ganz und gar nicht empfunden. Es ist eine italienische Musterfigur, wie sie im Buche steht, und es könnte einer auf den Gedanken kommen, die Komposition zu einem 90 durchaus andern Zweck zu benutzen: nicht die Verführung des Fleisches zu zeigen, sondern das Gift der italienischen Schönheit.

Das Meerwunder

Sonderbar, daß Dürer nun gar nicht lassen kann von den erotischen Stoffen. Das nächste ist ein Mädchenraub. Das »Meerwunder« hat er selbst das Stück genannt (B. 71). Vom Adriatischen Meer gingen derartige Geschichten um, wie Unholde von Zeit zu Zeit aus der Tiefe auftauchten und an den Küsten Menschenraub übten. Möglich, daß Dürer auch schon antike Fabeln ähnlichen Inhalts kannte: der übliche Name »Raub der Amymone« kann sich jedenfalls auf die Umschrift einer Medaille des 16. Jahrhunderts mit der Dürerschen Komposition berufen.Über die Bedeutungsfrage handelt eingehend Konrad Lange in der Zeitschrift für bildende Kunst 1900, S. 195 ff. Nun wird man zugeben müssen, daß diese Komposition wenig Schreckhaftes enthält, daß man wohl am Ufer ein paar kleine Leute laufen und jammern sieht, daß aber die geraubte Schöne fast so ruhig daliegt, als ob sie auf einem Ruhebett sich hingestreckt hätte, und an diesem Eindruck kann auch der schmerzlich geöffnete Mund nichts mehr ändern. Sie füllt den Raum in ganzer Breite und ist durchaus die Hauptfigur, zu der der Entführer nur mangelhaft hinzukomponiert ist. Das heißt: als Kern und Ausgangspunkt behalten wir das Thema einer liegenden weiblichen Figur und die ganze »Geschichte« ist wohl erst nachträglich für sie zurecht gemacht worden. Die maritime Entführung sollte die Nacktheit legitimieren: aus dem Kreis badender Gespielinnen hat der Unhold seine Beute geholt.

Dürer ist also von der Stehfigur zur Liegefigur übergegangen. Fragt man sich nach älteren Beispielen in der deutschen Kunst, so gerät man in einige Verlegenheit, was eben beweist, wie sehr hier etwas Besonderes versucht ist. So kommt es denn auch gar nicht darauf an, gleich auf das Mangelhafte der Lösung aufmerksam zu machen, sondern zuerst einmal das Positive der Leistung anzuerkennen: daß der Körper in seinem schweren Daliegen einen durchaus neuen Charakter hat und daß die gebrochene Begegnung von Brust und Unterleib, die hängende Schulter, die Wendung des Kopfes, die ganze Silhouettenführung der oberen Seite von einer etwas ungeschlachten, aber sehr eindrucksvollen Art ist.Was ein klassizistischer Geschmack daran aussetzen kann, ist berücksichtigt worden von G. Pencz, der das Motiv im Sinn der jüngeren Generation neu redigiert hat. (B. 93). Lähmend in dem Zusammenhang wirkt der linke Arm, der ursprünglich sicher Stützarm gewesen ist, aber es nicht blieb der Verbindung mit der zweiten Figur zu Liebe. Ich bin überzeugt, daß Dürer auch hier ein fremdes, italienisches Vorbild gehabt hat, das er in seiner Weise verarbeitete.Daß es Barbaris Viktoria (K. 27) gewesen sei, glaube ich nicht, aus Gründen, die später im Zusammenhang der Barbari-Frage dargelegt werden sollen. Die Italiener aber fanden Dürers Zeichnung wieder so originell, daß sie die Gruppe des Meerwunders (in Plaketten) kopierten.

91 Der Meerunhold, wie gesagt, ist nicht viel mehr als ein Lückenbüßer. Der greifende Arm bleibt unentwickelt und man sieht nicht recht ein, wo die Frau aufliegt. Doch hat der Kopf, ein alter Försterkopf, sein individuelles Interesse.

Und das ist es eben, was bei all diesen Dingen so eigentümlich wirkt: daß Abgeleitetes und Ursprüngliches, Naturnahes und Naturfernes nebeneinander stehen und daß bei dem mühsamen Ringen mit dem Hauptproblem der Figur noch ein tröstlicher Kraftüberschuß bleibt, der sich in dem fröhlichen Wellengekräusel ebenso laut kundgibt wie in dem reichbesetzten bergigen Ufer, das hoch hinauf den Hintergrund füllt.

Das Blatt hat einen malerischen Charakter, der über alles Ältere hinausgeht: der Ton des dunklen Wassers, auf dem der weiße Körper steht, oder das Helldunkel des beschatteten Schenkels sind in guten Drucken von einer sehr feinen Wirkung. Den jungen Dürer aber wird man von vornherein an der höchst originellen und kecken Fleckenverteilung erkennen und die Durchführung der Schräglinie des Bergabhangs durchs ganze Bild ist eine Kühnheit ohnegleichen gewesen.

Nach dem »Meerwunder« macht Dürer einen noch bedeutenderen Anlauf: er verfeinert die Zeichnung, steigert den Maßstab, nimmt das Problem der Bewegung mit auf und versucht vier, fünf Figuren zu einer tektonischen Gruppe zusammenzuschließen. Es entsteht der sogenannte »große Herkules«. Aber wieder keine Natur, kein Bilden aus erster Hand, sondern ein Arbeiten mit geprägten Formen, die der italienischen Kunst entnommen sind.

Der sog. große Herkules
(Die Eifersucht)

Der Stoff ist seltsam und unerklärt. Nicht einmal das ist sicher, ob Dürer wirklich den Namen Herkules mit diesem Stich verband.Die Stelle im niederländischen Tagebuch (LF. 121), die dafür angezogen wird, schließt doch nicht aus, daß der als »Ercules« bezeichnete Holzschnitt gemeint sein könnte. Populär heißt er »die Eifersucht«. Soviel ist klar: das Liebespaar, der Satyr mit dem nackten Weib im Schoß, wird angegriffen. Eine langbekleidete Frau, hochaufgerichtet, holt zum Schlage gegen die beiden aus. Ein starker nackter Mann tritt hinzu, er hält mit beiden Händen einen Baumstamm empor – will auch er die Liebenden damit treffen, oder kommt er zum Schutze? Schon hier stockt die Erklärung. Die Art, wie der Baumstamm gefaßt ist – mit lockeren Fingern – sieht so aus, als ob die Waffe zum Parieren gebraucht würde, aber dem widerspricht die Richtung des Blickes. Also ist es doch ein Angreifer? Und wenn Dürer ihn Herkules nannte, sollte das überraschte Paar dann nicht Dejanira sein mit ihrem Entführer, dem Kentauren Nessus? Man hat so interpretiert. Daß Nessus als Satyr und nicht als Kentaur erscheint, wäre kein Hindernis für diese Erklärung, da die Verwechslung von Satyr und Kentaur auch sonst vorkommt. Aber warum 92 fehlt der Pfeil des Herkules, in dem doch die Pointe der Geschichte liegt? Und wenn man für das Kind allenfalls einen Namen fände, was soll die Frau in diesem Zusammenhang? Hier muß man schon halsbrecherische Wege der Interpretation beschreiten, um zu einem Ende zu kommen. Auch an Jupiter und Antiope ist gedacht worden, wobei in der Frau die beleidigte Juno zu erkennen wäre – ohne Zwang läßt sich die Gruppe auch damit nicht auflösen. Und so müssen wir uns einstweilen bei einem ignoramus bescheiden. Nachdenklich bleibt die Tatsache, daß um 1500 in Deutschland ein Publikum existierte, dem man derartige Geschichten vorlegen durfte. Wenn doch nur eine Person eine Namensbeischrift trüge, wie das früher und später üblich ist! Daß das Blatt bloß für die Philologen von Nürnberg bestimmt war, wird kaum jemand glauben. Vermutlich sind gar keine besonderen mythologischen Kenntnisse vorausgesetzt; das bedrängte Satyrpaar im Walde scheint eine Situation gewesen zu sein, die nicht nur Gelehrten verständlich war.Vgl. Altdorfer B. 38: ein Satyr mit einem Weibe, auf den von hinten ein Mann mit einem Baumstamm losgeht. Die ganze Angelegenheit kommt aber in ein neues Licht, wenn man das Blatt in seine Elemente zerlegt. So unklar der Sachinhalt ist, so deutlich sind die formalen Quellen des Bildes. Für die drei Hauptfiguren lassen sich die Vorbilder nachweisen und zwar an drei verschiedenen Orten. Die Liegende ist dem Mantegna nachgebildet, sie findet sich auf dem Seekampf, den Dürer kopiert hat (vgl. Abb. der Zeichnung nach Mantegnas Meergöttern im Kapitel »Grundlagen und Anfänge«), die stehende Frau mit dem Knüppel stammt aus dem Orpheusstich (vgl. im Kapitel »Grundlagen und Anfänge«) und der nackte Mann geht, wie erst neuerdings bekannt wurde,Zucker hat das zuerst festgestellt (Repert. 1897, S. 41). auf ein Original des Pollaiuolo zurück, auf jenen Frauenraub, von dem oben (im Kapitel »Grundlagen und Anfänge«) die Rede gewesen ist. Wie in einem Kaleidoskop sind die von Haus aus sich fremden Elemente zum Bild zusammengemischt, es ließen sich auch noch andere Kombinationen denken, jedenfalls ist es aber unwahrscheinlich, daß die darzustellende Geschichte genau auf diese Figuren gepaßt habe. Dürer verfolgte seine artistischen Interessen, die Klarheit der Erzählung mochte dabei immerhin einen Knick bekommen.Das Kind ist ebenfalls dem Orpheusstich entnommen. Der Arm des Satyrs mit der Kinnlade entspricht bis auf die Hand der Mantegna-Vorlage und auch die Physiognomie ist mantegnesk.

Die Pollaiuolo-Figur ist die wichtigste: Darstellung der Kraft in einem nackten, starkbewegten Körper. Lauter neue Darstellungswerte. Es verlohnt sich, das Verhältnis Dürers zu seiner Vorlage genau anzusehen. Identisch ist das zurückgesetzte Bein, der Rücken und der hochgehobene Arm, doch ersetzt er die »Ausfall«-Stellung Pollaiuolos durch ein stämmiges Dastehen mit gespreizten Beinen. In den Armen beschränkt sich die Ergänzung auf die rechte Hand – 93 man möchte eigentlich mehr sehen –, die andere ist mit dem Arm übernommen und bis in die Fingerstellung hinein kopiert, obwohl es sich hier doch um eine ganz andere Funktion handelt als dort, wo die Hand ein zappelndes Frauenbein umschließt. Diese Abhängigkeit ist um so merkwürdiger, als Dürer den Körper in anderer Hinsicht vollkommen neu redigiert hat. Ist schon seine Federkopie eine Transskription in eine andere Liniensprache gewesen, so prüft er jetzt noch einmal Strich um Strich auf seine Fähigkeit, das Muskelerlebnis auszudrücken und gewinnt durch Detaillierung der Form seine eigentümliche Straffheit der Kniekehlen und der Gesäßmuskeln. Beibehalten aus der Vorzeichnung wurde die harte Konturierung der Rückenmuskulatur auf der belichteten Seite und das scharfe Absetzen vor der dunklen Brust (was sich am Oberschenkel wiederholt).

Für die allgemeine Verfeinerung der Linie gibt die Liegende den besten Maßstab: im Vergleich zum »Meerwunder« hat der Frauenkörper bedenkend an Weichheit gewonnen, die Formbezeichnung ist aber durchaus die des italienischen Vorbildes. Sobald dieses versagt, wird Dürer unangenehm. Man sieht das z. B. an den Füßen. Daß die klare Darstellung Mantegnas auch den gesenkten Arm noch deutlich verfolgen läßt, ist ihm nicht als Vorzug erschienen. Der Beschauer bleibt ganz im Ungewissen über den Verlauf dieses Gliedes. Und so zeigt sich auch weiterhin, wie unentwickelt Dürers Anschauung noch ist: in dem vom Körper abgetrennten linken Huf des Satyrs und in dem fußlosen Bein der stehenden Frau, das wie ein Holzbein aussieht. Seine Vorlage gab ihm die klare Form, aber er fühlte sie noch nicht.

Dafür machte er in der Komposition einen höchst bedeutsamen Versuch, auf italienische Monumentalität einzugehen, indem er seine verschiedenen Motive zur strengen Pyramidalform zusammenschloß. Es ist dieselbe Intention, die uns noch da und dort in Frühwerken entgegentritt, im Männerbad und in der Beweinung der großen Passion, hier aber hat das Gefüge am meisten tektonischen Charakter. Die Frage nach dem maßgebenden Vorbild wird man kaum anders beantworten können als durch den Hinweis auf Lionardo.In dieser Hinsicht ist es nicht gleichgültig, daß die stehende Frau in Frisur und Kopfputz über die Vorlage hinaus durch oberitalienische und speziell lombardische Motive bereichert wurde.

Der Hintergrund ist dunkles Laubwerk. Dürer verwendet hier das, was in seiner Orpheuszeichnung original war. Leistet er dort schon mit der Feder das Erstaunlichste an Entsagung, so ist ein solches Eichengebüsch als Stichelarbeit selbstverständlich ein noch viel größeres Wunder des Fleißes. Ganz unmalerisch ist Blatt neben Blatt gesetzt. Später hat Dürers Graphik auf 94 diese Dinge sich nicht mehr eingelassen. Das plastisch Feste und Meßbare behauptet allein das Feld.

Vom »Herkules« des Stiches führt ein direkter Weg zu dem Temperabild des bogenschießenden Helden im Kampf mit den Stymphalischen Vögeln (Nürnberg, Germanisches Museum). Ein rasches Schreiten mit weit vorgeschobenem Beugeknie und festgehaltener Rückansicht. Man könnte glauben, eine weitere Abwandlung der genannten Pollaiuolo-Zeichnung vor sich zu haben, es gibt aber eine direkte Vorlage bei Pollaiuolo: eben einen bogenschießenden Herkules.Zeichnung aus der Sammlung Beckerath im Berliner Museum. Vermutlich existierte ein Stich darnach. Die Ausführung als Bild in New Haven. Vgl. Repertorium 1905, S. 115 ff. (v. Beckerath, über einige Zeichnungen Florentiner Maler). Als Ganzes ist die Nürnberger Figur dem Stich überlegen. Es ist viel mehr ein Stück aus einem Guß, die Bewegung – von der Sohle des abstoßenden Fußes bis in die Faust des vorgestreckten Armes – wirklich durchgehend gegeben. Und der Entwurf (Darmstadt, L. 207) ist im Eindruck des Eiligen womöglich noch besser als das Bild.Das schwer beschädigte Bild ist datiert 1500 und gibt damit einen terminus ante quem für die letztgenannten Stiche. (Daß der Herkulesstich vor 1500 entstanden, wird auch durch das Vorkommen auf einer Nachzeichnung bei Fra Bartolommeo bewiesen. Vgl. Knapp, Fra Bartolommeo, S. 318.)

Wie einfach dieser bogenschießende Mann aussieht! In einer Sammlung zeitgenössischer Bilder fällt er völlig aus der gemeinen Art heraus. So klar ist die Ansicht, so silhouettenmäßig alles in der Fläche entwickelt. Wir stehen in der Tat vor etwas Neuem. Auf Dürer hat dieser Profilcharakter der italienischen Kunst einen nachhaltigen Eindruck gemacht. Er greift jetzt bewußt auf die einfachsten Ansichten zurück. Er will ganz sachlich sein, die Dinge geben in der größten Deutlichkeit der Erscheinung und verzichtet darum auf alles, was den Anblick komplizieren könnte. Ja, es treten nun in den Stichen einstweilen auch die Bewegungsprobleme zurück: die ganze Absicht geht auf erschöpfende Darstellung der Dinge nach ihrer wesentlichen Gestalt.

Das bezeichnende Beispiel für diese Wendung ist der große Stich des Eustachius (B. 57).

Ein heidnischer Jäger hatte im Walde das Abenteuer, daß zwischen dem Geweih des gejagten Hirsches plötzlich der Heiland als Kruzifixus erschien und vernehmlich zu ihm sprach: »Eustachius, was jagst du mich, glaube mir, ich bin Christus und habe lange nach dir gejagt«, worauf der Heide niederfiel und sich bekehrte.Von Hubertus erzählt die Legende das gleiche. Der Name Eustachius ist für unsern Stich durch die Erwähnung im niederländischen Tagebuch garantiert. Nun ist es geradezu komisch, wie diese schlichte Geschichte als 95 Geschichte von Dürer vernachlässigt wird. Der Charakter des Ereignisses ist der Darstellung völlig genommen. Lauter Musterfiguren, lautlos nebeneinander: groß und in reiner Breitansicht ein Pferd, darüber, gleichfalls in reiner Breitansicht, ein Hirsch (die Beziehung zum Jäger kann kaum erraten werden) und so die Hunde, alle einzeln, wie eine Folge von Zeichnungsvorlagen. Auch der knieende Jäger ist als Profilfigur gegeben.Wackenroder, der den Zusammenhang nicht übersah, hat für diese Simplizität ein besonderes Wort gerührter Bewunderung (Phantasien eines kunstliebenden Klosterbruders). In der Geschichte ist der Hirsch die Hauptsache, für den Künstler war es das Pferd. Das Charakteristische der Form ist noch nicht ganz gefaßt, allein das Mehroderwenigergut tritt hier ganz zurück neben dem Prinzipiellen der Fragestellung. Damals nahmen die Bemühungen ihren Anfang, die später zu dem nach bestimmten Proportionen gebildeten Typus des Pferdes in »Ritter, Tod und Teufel« führten. (Eine Zwischenstufe sind die zwei Pferdestiche von 1505.) Einstweilen möchten die Hunde des Eustachius die vortrefflichste Tierbildung darstellen. Zu dem größten ist die Pinselzeichnung erhalten (Windsor, L. 388) von bewunderungswürdiger Sicherheit und zierlicher Geschmeidigkeit im Strich, aber um wieviel verfeinert sich dann noch die Form bei der präzisen Stichelarbeit!

Die Feinzeichnung der Figuren, die über den Stil der »Eifersucht« nochmal hinausgeht, findet ihr Echo in der Behandlung des Landschaftlichen. Nie mehr hat Dürer eine solche Verschwendung getrieben mit Bäumen, wo jeder Ast eine Formenwelt für sich ist, nie hat er die stoffliche Charakteristik verschiedener Rinden, des bloßgelegten Holzes weitergeführt. Und so ist der Hintergrund von einem fast unerschöpflichen Reichtum der Motive: der verschwiegene Weiher im Schatten der Gebüsche, das gurgelnde Bächlein unter der Brücke, die Wege, die gegen die hohe Burg sich hinanziehen, der felsige Absturz und wie die Bauwerke auf dem Berg Fuß gefaßt haben, alles ist inhaltreich und hält die Phantasie lange fest. Rechts oben die Horizontale des Seespiegels überschnitten von den Stämmen des Vordergrundes.

Zur Belebung der Erscheinung sind die malerischen Hilfsmittel der hellen und dunklen Gründe herangezogen worden, Licht und Schatten folgen sich in munterem Wechsel. Das Ganze natürlich mehr eine Zusammenfügung von Einzelheiten als eine Einheit in höherem Sinn und doch ist gerade im Vergleich zum Vorausgehenden bemerkenswert, wie große Partien, z. B. der Berg, unter einen Ton zusammengenommen sind. Wir sind in die Periode des malerischen Stils eingetreten, nicht nur des Feinstils.Eine so umfangreiche Platte wie den Eustachius hat Dürer später nicht mehr gestochen. Jedenfalls empfand er selbst, daß zwischen Format und Behandlung ein Widerspruch vorliege. Für die Generation des alten Heller (warum nennt man ihn nur immer den alten Heller?) ist es bezeichnend, daß er den Eustachius unter allen Stichen Dürers für den schönsten erklärt.

96 Auf diesem Boden ist nun auch eine neue Anschauung des Nackten erwachsen. Mit Verzicht auf fremdländische Bewegung und ohne Angleichung an welsche Form sucht Dürer jetzt einmal die Natur seiner Zone aufzunehmen. Rückhaltlos und ohne Auslassung, so, daß der ganze Reichtum der Form zum Ausdruck kommt. Er nimmt eine nürnbergische Frau und läßt sie die Kleider ausziehen. Sie soll in einfacher Profilstellung an die Wand stehen, man gibt ihr etwas zum Halten in die Hand, und nun – den Modellcharakter nicht verbergend – versucht Dürer diese Erscheinung so vollständig wie möglich zu fassen. Das Resultat ist eine Zeichnung, die alles Bisherige als leer erscheinen läßt: bedeutsam dabei ist aber nicht die Fülle des einzelnen, sondern dies, daß sie aus dem Gefühl für das Wunder des Lebens hervorgegangen ist. Das »Große Glück« – denn ich spreche von diesem – ist die erste Figur Dürers, die uns den warmen Hauch des Wirklichen spüren läßt (B. 77).Im Britischen Museum eine große Federzeichnung der geflügelten Frau auf der Kugel, die Lippmann als unecht abwies, während Ephrussi u. a. für sie eingetreten sind.

Das große Glück
(Ausschnitt)

Ein nacktes Weib also, auf einer Kugel über Wolken stehend; abgesetzt auf ganz weißen Hintergrund, der dann in einer dunkeln Landschaft unten seinen Gegensatz findet. Man nennt die Frau das Große Glück im Gegensatz zu einem andern, viel früher entstandenen Stich kleinen Formates, der ebenfalls das Weib auf der Kugel darstellt (B. 78). Dürer gebrauchte den Namen Nemesis und meinte damit die schicksalverteilende Göttin, die beides hält, Zügel und Becher, den Zügel für den Übermütigen, den Becher für den Sieger im Leben. Es ist eine gelehrte Vorstellung und neuerdings sind denn auch ein paar Verse Polizians zitiert worden, die, wenn sie nicht die Quelle für Dürer sein sollten, doch immerhin als literarische Parallele wert sind, gehört zu werden.    (Nemesis) Est dea, quae vacuo sublimis in aëre pendens
    It nimbo succincta latus, sed candida pallam,
    Sed radiata comam, ec strindentibus insonat aliis - -
    - Frena manu pateramque gerit semperque verendum
    Ridet -
    - atque huc atque illuc ventorum turbine fertur

Polizian, silva in Bucolicon Virgilii pronuntiata, cui titulus Manto (1498 u. ö.). Die Entdeckung dieser Stelle verdankt man Giehlow (Graphische Künste, Mitteil. 1902, S. 25 f.). Daß Dürer das Umgetriebenwerden im Wind nicht zum Ausgang der Darstellung gemacht hat, ist nach der ganzen Tendenz seiner Kunst vollkommen begreiflich.

Es hat fast etwas Erschreckendes diese Wirklichkeit an dieser Stelle. Nicht das schöne, jugendliche Weib, sondern die reife, starke Frau, ein schwerer Körper, 97 dessen Bedeutung immerhin mehr in den unteren als in den oberen Partien liegt: die Brust ziemlich flach, ein großer Leib, mächtige Schenkel. Auf einen gotisch gebildeten Geschmack muß die Erscheinung gewirkt haben wie ein Schlag ins Gesicht. Wollte Dürer das Schicksal hier charakterisieren als die gleichgültig hinschreitende Macht, »wenig bekümmert um uns«, die nicht reizvoll zu sein braucht, weil sie niemandem gefallen will? Ich glaube nicht, daß man so interpretieren darf. Wenn man Dürer diesen Gedanken zumuten dürfte, so müßte man von der Gebärde mehr verlangen. Das Weib steht aber mit seinen Attributen da, so befangen wie eben ein Modell dasteht, das nicht weiß, was es mit den Sachen machen soll. (Das Fassen der Becherhand ist übrigens nicht einmal als Griff ganz verständlich.) Und dann das unselige Kleben der Füße an der Kugel!

So sehr die Gestalt vom Herkömmlichen abweicht, Dürer hat sicher seine Freude an ihr gehabt. Ein nordisches Modell, stark und formenreich, mehr muskulös als fett. Es ist gar kein Versuch gemacht, den Körper und seine Bewegung auf ein italienisches Schema zu bringen, aber die Figur soll nicht den häßlichen Nebenfall zeigen, sie ist mit hohem Ernst auf das Typische hin durchgearbeitet und in ihrer Art auch eine Normalgestalt. Nicht daß sie bereits auf Grund einer bestimmten Proportion konstruiert zu sein braucht, aber die Form ist von einer gleichmäßigen Klarheit, daß man durchaus an »bearbeitete« Natur denken muß. Und nun setzt Dürers Zeichnung ein mit feinen, feinen Stichellinien und modelliert die gewaltigen Wölbungen dieses Leibes, überall der Form folgend, da den straffern Zug des Fleisches bezeichnend, dort das weichere Polster; um die kleinsten Gelenke des Fingers geht er mit haarscharfem Griffel herum, um ihnen ihre Form abzugewinnen; Fuß- und Kniegelenke legen sich zu reichen Formkomplexen auseinander, deren lebendige Beziehung die Zeichnung zu offenbaren versucht.

Aber was bedeuten Worte? Die vergleichende Betrachtung sagt unendlich viel mehr. Man muß den Unterschied an dem noch so ganz allgemeinen und unsicheren Ausdruck eines frühen Stiches, wie den vier Hexen, ermessen. Und doch liegen nicht viel mehr als fünf Jahre dazwischen. Wenn irgendwo, so muß es hier auch dem Laien möglich sein, die bildnerische Freude, die plastische Gier des gebornen Künstlers nachzuempfinden.

Das Auge scheut vor nichts zurück. Mit einer Art Wollust ist jenes unförmliche Bündel von Lederriemen angefaßt, das Pferdegeschirr nämlich, das die Nemesis in der Hand hält: es ist die undankbarste und mühevollste Aufgabe, aber der Blick bohrt sich ein in die Verwirrung und der Stift drängt nach und ruht nicht, bis der widerspenstige Stoff ruhig und einfach daliegt. Wie undenkbar wäre eine solche Zeichnung in Italien! Und ebenso dann die flatternden 98 Streifen eines unbestimmbaren Stoffes, in denen sich ein Stück urgermanischer Formphantasie auslebt, wie in den Schnörkeln und Rankenschlingungen der Zeichnungen zum Gebetbuch des Kaisers Max. Aus dem Gefühl der national verschiedenen Begabung heraus hat denn auch schon Vasari den Flügel der Nemesis als etwas Unvergleichliches bewundert. Zum erstenmal ist hier das Gefieder nicht bloß der Form nach, sondern nach der stofflichen Beschaffenheit der Oberfläche charakterisiert. Und auch auf solche Dinge – Federn, Haare, Pelz – als Lieblingsstoffe seiner Sinnlichkeit kommt Dürer später immer wieder zurück.

Die Flügel und die anderen Accessorien geben der Figur als Tiefen starke malerische Accente und die feinen Helldunkelversuche am Rücken bekommen eine kräftige Einrahmung. Es ist dafür gesorgt, daß die belichtete Seite mit dem weißen Grund sich kaum berührt.

Und nun hat Dürer noch eine irdische Szenerie dazu gezeichnet, die neben der weißen Fläche dunkel wirkt und mit ihren kleinen Häuschen die Schicksalsgöttin als ungeheuer erscheinen läßt. Zu einer räumlichen Wirkung ist es aber nicht gekommen: die Nemesis schreitet nicht in Wolken über die Welt hin, denn es ist unmöglich, Oberes und Unteres in eine reale Beziehung zu bringen; es bleibt bei einem Flächengegensatz.

Durch eine glückliche Entdeckung ist neulich auch die Neugierde befriedigt worden, die seit langem den Namen der durchaus porträtmäßig anmutenden Lokalität zu wissen verlangte: es ist Klausen in Südtirol,Händke, die Chronologie der Landschaften Dürers, S. 12. frei variiert, aber unverkennbar, seitdem das Wort einmal ausgesprochen ist. Von seiner Wanderschaft muß sich Dürer eine sorgfältige Studie mitgebracht haben, wie wir deren ja mehrere kennen. Damit ist nun auch endgültig festgestellt, daß keine Anspielung auf ein bestimmtes Ereignis vorliegt. –

Historiker, die gern rationelle Entwicklungskurven konstruieren, möchten wohl in diesem Stich der Nemesis am liebsten eine Programmerklärung sehen, in dem Sinne, daß Dürer damit die Absage an eine weniger naturalistische Vergangenheit schreiben wollte und den Entschluß ankündigte, künftighin freudig und ausschließlich für das Heimatliche einzutreten. Allein die Tatsachen verbieten, so zu konstruieren; dieser Nemesis folgt auf dem Fuße der Stich von Adam und Eva von 1504 (B. 1), da sind es ganz italienische Posen und die Körper sind nun – horribile dictu – in allen Hauptmaaßen einem bestimmten Proportionsschema nachgebildet.

Adam und Eva

Der Stich ist nicht populär. Er kann es nicht sein, denn von seiten des Inhalts ist ihm gar nicht beizukommen. Ja, es gibt kaum eine Darstellung des 99 Sündenfalls, die noch äußerlicher gefaßt wäre. Ein frostiges Nebeneinander der zwei Personen; beide von ganz statuarischer Erscheinung; keine ist völlig bei der Sache; was will der hochgehobene Arm Adams? zu deutlich ist seine Herkunft von ganz anderen Voraussetzungen.

In der Tat, der Stich ist ein Kunstwerk, wo das formale Motiv lange bereit war, ehe es für den bestimmten Stoff »Adam und Eva« zurecht gemacht wurde.

Also in der Form läge die Bedeutung. Aber auch der Genuß der Form wird fraglich, sobald man erfährt, daß die Körper nach gewissen Maßen konstruiert sind. Die vorbereitende Zeichnung mit der Konstruktion ist erhalten.Albertina, L. 475, für den Adam. (Die Eva, L. 476, ist nicht zugehörig.) Die ausführliche Vorzeichnung zum Ganzen in der Sammlung Lanna in Prag (L. 173). Identisch damit die Einzelzeichnung der Eva in London, L. 235. »Proportion« – »konstruiert«, das wirkt wie ein kalter Wasserstrahl auf die Mehrzahl der Kunstbetrachter, deren Interesse dann ebenso rasch erlahmt, wie das von Kindern, denen man sagt, die Geschichte sei nicht wahr. Man kennt das Aufstellen von Proportionsgesetzen im Publikum nur noch als eine Grille von Künstlern, denen ein tieferes Naturgefühl fehlt (wie würden sie sonst sich nicht genügen lassen an der einfachen Erscheinung des Wirklichen?), und man hat gar keine Lust, irgend eine derartige Demonstration mitanzuhören, da bekanntlich ein Schema das andere ablöst.

Damals lag die Sache anders. Die Proportion des Menschen war ein großes und aufregendes Zeitproblem. Und als Dürer zum erstenmal davon hörte, da hätte er gern »ein neues Königreich« daran gegeben, um nur etwas Genaueres zu erfahren, wie man das Bild des Menschen »aus der Maß« machen könne. Um das zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß es überhaupt ein ganz neuer Begriff war: der Mensch in seiner natürlichen Vollkommenheit. Wenn Jan van Eyck einen Adam malte, so fragte er sich nicht, ob das ein schöner Mann sei oder ein weniger schöner, er malte eben einen Mann. Die Darstellung des Charakteristischen, wie sie der neue Realismus brachte, verdrängte völlig die Frage nach dem Schönen. Wo sie aufgenommen wird, da lautet die Antwort noch immer: die Schönheit ist nicht von dieser Welt. Eine Schönheit des Nackten aber gab es wohl überhaupt nicht. Das ändert sich allmählich gegen Ausgang des Quattrocento, Memling denkt schon anders als Jan van Eyck, mit der Wende des Jahrhunderts aber erhebt sich glorios die alte Vorstellung von einer Schönheit, die dem Menschen in seinem natürlichen Zustand eigen ist: nicht nur, daß das Nackte wieder ins Zentrum der Kunst gerückt wird, das Auge sieht die Schönheit wieder in dem natürlichen und nicht in dem so oder so umgebildeten Körper. Aber freilich nur in wenigen 100 ist die Schönheit erhalten, die der Mensch seiner Natur nach haben sollte. Und die menschliche Urteilskraft ist schwach, sodaß sie das sichtbare Schöne nicht gleichmäßig und sicher fassen kann. Dem einen gefällt dieser Mensch, dem andern jener. Wir können zwei ganz verschiedene Individuen beide schön finden, ohne einen Wertunterschied zu machen, und doch: wie ist das möglich? es muß doch einer der Schönere sein! Unsere Idee von der Schönheit ist eben nicht klar genug, um bestimmt zu urteilen.

Indem ich hier Gedankengänge von offenbar platonischer Färbung reproduziere, gehe ich nicht über Dürers Kreis hinaus, nur hat er erst später die Sache so ausgesprochen. Immerhin mögen ähnliche Sorgen sich früh beunruhigend eingestellt haben, das liegt so in der Natur der Fragestellung. Aus der verwirrenden Mannigfaltigkeit des Individuell-Natürlichen hinauszukommen zu dem Festen, Sichern, dem Bild des Menschen, wie er sein muß, wer das könnte! Und nun der rührende Glaube an die Bücher der Alten. Die Griechen und Römer, die haben es gewußt und aufgeschrieben, aber die Bücher sind verloren gegangen. Die Italiener arbeiten seit ein paar Generationen daran, die alte Kunst wieder zu finden, und ein Bote dieser Italiener, Jacobo de' Barbari, war dem Geheimnis auf der Spur: der zeigte Dürer etwas, aber nicht genug, sodaß er sich selber forthelfen mußte. Er wandte sich an Vitruv. Aber auch das genügte nicht ganz und so setzt die eigene Spekulation ein, aufregend genug, denn es handelte sich bei diesen Forschungen um nichts Geringeres als darum, den Menschen zu entdecken oder mit andern Worten: dem lieben Gott nachzurechnen, wie er den Mann und das Weib gemacht habe.

Das Suchen nach Proportionsregeln stammt nicht erst aus dem Jahre 1504, sondern geht bis 1500 etwa zurück. Das erste sichere Zeugnis ist eine Umzeichnung der Frau des »Meerwunders«, datiert 1501.Albertina, L. 466. L. Justi hat die Konstruktionsreste darauf zuerst gesehen. Im Jahr zuvor war Jacobo dei Barbari nach Nürnberg gekommen, den Dürer zuerst das Thema behandeln hörte. Auch scheint es mir durchaus nicht merkwürdig, wenn Dürer ein paar Jahre vergehen läßt, bis er eine Konstruktion der Kupferplatte anvertraut und die sicher konstruierten Figuren von Adam und Eva in ihrer rein frontalen Erscheinung, die alle Hauptflächen klar übersehen läßt, sagen es auch gleich ganz deutlich, daß sie konstruiert sind. Für die Art der Konstruktion sei auf die Darlegung bei L. Justi verwiesen.L. Justi, konstruierte Figuren und Köpfe unter den Werken A. Dürers, 1902, S. 7 ff., S. 14 ff. Justi hat diese ganze Materie wohl endgültig aufgeklärt. Für die Eva weist er nach, daß auch sie nach dem Schema Adams gemacht ist. Erst nachher gehen die Konstruktionen für Mann und Weib auseinander.

Aber nun sind die neuen Proportionen gar nicht der einzige Inhalt des Stiches. 101 Mit dem andern Körper kommt eine andere Bewegung. Wir können nur mit Mühe uns vorstellen, was das heißt, daß das ganze Inventar der hergebrachten Bewegungsformen zum alten Eisen geworfen wird; daß über das Stehen, das Schreiten, die Biegungen und die Gleichgewichtsverhältnisse des Körpers lauter neue Begriffe aufkommen. Andeutend ist schon oben davon die Rede gewesen. Wie unorganisch sich Altes und Neues zunächst noch mengt, zeigen eine Reihe von Blättern der Apokalypse und der Passion. Nirgends hat Dürer angelegentlicher diese Probleme behandelt als in den Stichen. Adam und Eva geben einen vorläufigen Abschluß. Der Tritt des Adam ist damals etwas ganz Neues gewesen und in der Eva erklingt seit Jahrhunderten zum erstenmal wieder rein die uralte Melodie des Körpers mit lässig nachgezogenem Spielbein. Auch hier ist Italien und die Antike Ziel und Vorbild gewesen. Barbari mag manches vermittelt haben, es müssen für Dürer aber noch andere und reichlichere Quellen geflossen sein.

Aber weder die Form noch die Bewegung des Körpers erschöpft die Bedeutung des Blattes. Ja, das sind nur die vergänglichen Werte, das eigentlich Wichtige, das, was das Werk zu einem Knotenpunkt in der Kunstgeschichte Deutschlands macht, ist der neue Begriff von bildnerischer Klarheit, der hier zugrunde gelegt ist. Zum erstenmal menschliche Körper, die aus den Gelenken verstanden sind; eine Darstellung, die erschöpfend sein will nicht in dem Sinn, daß sie den zufälligen Anblick mit mehr Sorgfalt aufgenommen hätte als vordem geschah, sondern so, daß der Körper seine Form vollkommen offenbaren muß. Das Entscheidende in der Form sind aber eben die Gelenke.

Das Bewegungsmotiv des Adam setzt sich zusammen aus seitwärts abgesetztem Spielbein, gehobenem und gesenktem Arm und ins Profil gestelltem Kopf (der Richtung des Spielbeins entgegengesetzt). Man spürt sofort, daß das Motiv nicht an diesem Platz gewachsen ist; es ist aus anderm Zusammenhang herübergenommen und gehörte einst einem Apoll an, der in der gehobenen Hand eine Sonne, in der gesenkten einen Bogen (so in einer Zeichnung bei Poynter, L. 179) oder einen Stab trug (wie in der Zeichnung des British Museum, L. 233). Eine andere Variante gibt den Mann als Äskulap mit entsprechend veränderten Attributen (Zeichnung Berlin, L. 181). Als Dürer sich entschloß, das plastisch wertvolle Motiv für einen Adam zu benützen, behielt er die doppelte Armstellung, trotzdem er sie in einem Fall nur gezwungen, im andern Fall gar nicht erklären konnte, denn warum braucht sich Adam gerade in diesem Moment an einem Ast zu halten und was soll eigentlich diese energisch heischende Hand? (In der Vorzeichnung hielt sie ebenso unmotiviert einen Apfel.) Eine höhere Schönheit ergab sich dagegen unerwartet durch die Wendung des Kopfes gegen Eva hin; jetzt erst kommt der zusammenhängende Fluß in die Gestalt, indem 102 der Anlauf des Spielbeins in der Richtung des Kopfes seine Fortsetzung zu finden scheint. Das ist später dann immer so gehalten worden.

Es gilt jetzt als eine ausgemachte Sache, daß der Apoll vom Belvedere in irgend einer Nachzeichnung Dürer vorgelegen haben müsse.Lehrs, zu Dürers Studium nach der Antike (Mitteil. des Instituts für österr. Geschichtsforschung 1881, S. 281 ff.) und Thode, Dürers antikische Art (Jahrb. der preuß. Kunstsammlungen 1882, S. 106 ff.) Neuerdings wird auch von Frimmel auf die 1502 entdeckte Ephebenfigur vom Helenenberge als eine Antike hingewiesen, die in Dürers Gesichtskreis gestanden hätte. Mit Beziehung auf L. 351. (Blätter für Gemäldekunde, 3.) Vergleicht man den Stich mit der Statue, so ist die Ähnlichkeit allerdings nur eine sehr ungefähre: die Differenzierung der Arme in einen horizontalen und einen gesenkten ist ähnlich, auch die Einstellung des Kopfes ins Profil, aber dort sieht er in der Richtung des gehobenen Armes und die Beine stehen hintereinander. Zieht man die vorbereitenden Zeichnungen heran, so verringert sich aber die Ungleichheit und bedenkt man, daß Dürer zuerst wirklich einen Apoll machen wollte, so kann man die behauptete Beziehung kaum abweisen. Ob für Eva die Kenntnis deines antiken Venustypus unbedingt vorauszusetzen sei, erscheint mir zweifelhafter. Jedenfalls ist die Figur durch die Venus im Traum des Doktors schon genau vorbereitet, nur daß sie jetzt in die obligate Frontstellung eingerückt ist.

Körper und Köpfe (denn auch die Köpfe sind konstruiert) haben etwas Unindividuelles, wie natürlich; dagegen sind die Arme reine Modellzeichnung. Von dem gesenkten Arm Adams ist die Naturaufnahme zufällig erhalten (London, L. 234), der linke Arm der Eva, der aussieht wie einer der vom Wind gedrehten Baumstämme aus dem Eustachiusstich, läßt ebenfalls nur an eine wörtliche Wiederholung eines (oben sehr magern) Modells denken; er sieht merkwürdig genug aus neben dem egalisierten Torso. Und Dürer mochte an sich selbst denken, wenn er später davor warnt, Gliedmaßen von verschieden gearteten Körpern zusammenzusetzen.

Die Eva würde er »lind« genannt haben, den Adam aber eine Figur »von harter Art, mit viel Gepräge darin«. Er unterscheidet die flaumige weibliche Haut von der zäheren des Mannes und zwingt seinen Stichel zu Subtilitäten, die noch über die Nemesis hinausgehen, den Haupttriumpf aber feiert seine Zeichnung in der Klarlegung der plastischen Form. Hier ist das Prinzip der formbezeichnenden Linie in alle Konsequenzen durchgeführt. Die Schenkel mit ihren vertikalen Zügen vergleichen sich noch Schongauerscher Weise, dagegen sind die ringförmig umfassenden Linien des Torso wesentlich modern. Die Stauung der Muskeln am gehobenen Arm drückt sich in Querlinien aus, der Schatten des gestreckten Unterschenkels besteht hauptsächlich aus 103 Längslinien.Das Durchleuchten des Schienbeins erinnert an Pollaiuolo. Zwischen Eigenschatten und Schlagschatten wird grundsätzlich unterschieden: nur die Linien der Eigenschatten brauchen der Form zu folgen, die Linien der Schlagschatten gehen darüber weg.

Im Wald des Paradieses haben auch noch ein paar Tierstudien Platz. Katze und Maus liegen friedlich zu Füßen des ersten Menschenpaares; dann eine Kuh, ein schreitender Hirsch usw. Die Katze in ihrem pelzig-weichen Kleid geht mit der Eva zusammen. Auch Baldung bringt gelegentlich diese Kombination (Nürnberg. Germanisches Museum). Das Fell der höheren Säugetiere ladet zum Streicheln ein, sagte F. Th. Vischer.

Im Gegensatz zur Nemesis stehen jetzt die Figuren auf dunkler Folie und zwar ist es ein sehr reichtoniger Teppich, zu dem der Grund der Baumstämme verarbeitet worden ist. Zwei schönrindige Prachtexemplare stellen sich als Helligkeiten neben die Figuren, doch noch nicht eigentlich im Sinne einer kontrastierenden Linienbegleitung.

Der Fahnenschwinger

Es wären nun noch einige Variationen des Adammotivs zu nennen. Der Fahnenschwinger (B. 87) ist eine direkte Fortführung des Themas, nur im Gegensinn. Der Kopf geht wieder mit der gesenkten Schulter zusammen. Es ist eine große Lebendigkeit in dieser fein balancierten und durch Gegensätze reich gemachten Figur. Auch rein frontal entwickelt ist sie bisher doch nicht als konstruiert erwiesen worden.Die Stichtechnik wirkt etwas altertümlicher als beim Adam. Cranach hat die Figur in dem großen Holzschnitt mit der Enthauptung des Johannes benutzt. L. 53.

Der bogenschießende Apoll

104 Von noch größerer Bedeutung ist der bogenschießende Apoll (B. 68), mit dem Adam nur insofern noch in Beziehung steht, als er bekanntlich aus einer Zeichnung hervorgegangen ist, die den bogenhaltenden Apoll enthielt, und dort trat dieser schon zusammen mit einer Sitzfigur auf, seiner Schwester Diana, die man vom Rücken sah. Es ist die weitgeführte, offenbar für den Stich gedachte Zeichnung in London (L. 233), deren vorhin Erwähnung geschah. Der Gegensatz des männlichen und weiblichen Gewächses, gesteigert durch einen Bewegungskontrast, ist hier beibehalten.Das beschaulich dasitzende Weibchen (Diana) hält sich mit lässiger Gebärde einen Hirsch vom Leibe, der leckend nach dem Grünzeug auf ihrem Schoße drängt. Offenbar erst ein Einfall der letzten Stunde, sonst würde das Tier nicht so erdrückt im Bilde liegen. – Noch weitergetrieben ist der Gegensatz eines fetten Frauenkörpers und einer trocknen Männerfigur in der Satyrfamilie von 1505 (B. 69), wo die Mutter am Boden liegt und der Alte dem Kind zwischen ihren Beinen etwas vorpfeift. Unser Bogenschütze ist aber wesentlich Profilfigur; der erste Moment des Bogenspannens, nicht der letzte wie sonst; hinreißend im Schwung des Emporgehens. Die Arme in reiner Horizontale, mit viel Deckung, ergeben eine ungeheure Summe latenter Kraft. Das Motiv ist nur malerisch möglich, nicht plastisch. Barbari hat einen verwandten Kupferstich (K. 14): dort ist nach italienischer Art durch das Zurückziehen des einen Armes die plastische Klarheit gewonnen, und in diesem Sinne ist dann auch die schöne Figur des Apollobrunnens in Nürnberg aus der Vischerschen Gießhütte (»1532«) gestaltet. Sollte sie wirklich von Barbari abhängig sein, so könnte man allerdings sagen, die deutsche Kunst habe von den Brosamen gelebt, die von den 105 italienischen Tischen fielen.Siehe Anhang, dritte Anmerkung (mit Abbildung).

Venus (Florenz)

Die Eva des Kupferstiches steht nicht in einem gleichen Kreise von Vor- und Nachstudien drin, namentlich fehlt die Venus, die man eigentlich als Gegenstück zum Apoll erwartet. Cranach füllt diese Lücke mit seinem Holzschnitt von 1506 (L. 8), von Dürer gibt es außer den Konstruktionsfiguren in London und Berlin (L. 226 und L. 38)Vgl. L. Justi, konstruierte Figuren und Köpfe unter den Werken A. Dürers, 1902, S. 15 ff. Daß das Datum »1500« der Londoner Zeichnung um vier Jahre verfrüht ist, ist auch meine Ansicht. und verwandten Entwürfen im Dresdner SkizzenbuchBruck 70/71, 74/75. Vgl. Justi im Repert. 1905, S. 365 ff. nur eine Zeichnung in den Uffizien, die hier angezogen werden kann. Eine nackte Frau mit einem Spiegel in der Hand. Sie gehört in die Zeit um 1504, ist ohne Natur gezeichnet, aber außerordentlich fein rhythmisiert und mit dem Schleiertuch formal bedeutend gemacht. Die Kniee geschlossen und die Füße wenig divergierend.Ephrussi, S. 142, Anm., stellt diese Zeichnung im Typ zusammen mit der Frau mit dem Totenkopf des Meisters M Z (Matth. Zasinger). Der Stich gehört in die gleiche Zeit, doch ist die Verwandtschaft nur eine oberflächliche. Interessant ist aber etwas anderes: daß dieser Meister M Z, dessen Verbindung mit Dürer offenbar ist, sich hier genau an ein Vorbild Lionardos gehalten hat, an die Leda.

 

3.

Es gibt noch genug Orte in Nürnberg, die heute nicht anders aussehen als vor vierhundert Jahren und auch die Hantierungen der Menschen mögen sich nicht allzusehr verändert haben – wie merkwürdig nun, wenn man zwischen 106 gotischen Kirchen, steilen Giebelhäusern und dem Gewimmel des Marktes sich Dürers Adam und Eva vergegenwärtigt, jenes Paar groß schreitender, idealer Menschheit, für das im Leben die antwortenden Gegenbilder nicht vorhanden waren. Aber Dürer hatte das Auge für das Leben auch, das frühe Kupferstichwerk enthält eine Reihe von sittenbildlichen Figuren und man kann fragen, warum nicht viel größere Kreise des Lebens in die Kunst hineingezogen wurden, warum es nicht zu einer vollkommenen sinnbildlichen Auffassung der Welt gekommen ist? Darauf ist zunächst zu antworten, daß die Gesinnung des modernen Sittenbildes bei Dürer auch nicht im Keime vorausgesetzt werden darf. Es interessierte ihn gar nicht, die Lebensstimmung gewisser Stände zu erfassen, die Freuden und Leiden des armen Mannes etwa zu erzählen: der »Fähnrich« ist nicht ein Stück Soldatenleben, sondern eine Bewegungskomposition, und wenn er Bauern bringt, so sind es nicht die Leute auf dem Felde, die pflügen, säen und ernten, sondern es sind die Bauern als komische Figuren, über die der Städter lacht.Allihn, Dürerstudien, S. 79 ff. Das heißt natürlich nicht, daß er an einem tüchtigen Bauernkopf nicht auch sein Vergnügen gehabt habe. Vgl. aus der Zeit vor 1505 den farbigen Bauernkopf des Britischen Museums, L. 227.. Und dann kam noch etwas dazu, um eine ausgiebige Sittenschilderung, wie wir sie gerne haben möchten, unmöglich zu machen: daß Dürer von der Durchführung der Einzelfigur zu viel verlangte, um sich auf die Darstellung des Getriebes im Wirtshaus oder auf der Straße einzulassen. Man sieht sich bei ihm vergeblich um nach vielköpfigen bewegten Szenen des zeitgenössischen Lebens, wie sie der Hausbuchmeister gezeichnet hat. Im Holzschnitt ist er noch eher mitteilsam – die Volksszenen des Marienlebens sind ja durchaus sittenbildlich empfunden –, allein der Kupferstich war ihm zu gut dazu. Und ganz deutlich sprechen die Zeichnungen. Die Albertina besitzt eine Reihe von kolorierten Figuren (L. 463 ff.): die Nürnbergerin, wie sie zum Tanze geht, wie sie zur Kirche geht usw., auch einen gewappneten Reiter von 1498 mit der Beischrift: »So ist die Rüstung zu der Zeit in Deutschland gewest« (L. 461) – alles das sind Einzelfiguren, ebensosehr aus wissenschaftlichem wie aus künstlerischem Interesse angenommen, jenem selben wissenschaftlichen Interesse, das ihn zu anderen Zeiten die genaue Analyse einer Rüstung, eines Schuhs, eines Beguinenmantels aufzuzeichnen veranlaßt. Er gibt lieber die einzelne Kirchgängerin als den Kirchgang, lieber das Ballkostüm als den Tanz.

Viel reicher als an Genremotiven ist die Ausbeute an Landschaft in dieser Folge früher Stiche. Einigemal ist die landschaftliche Begleitung so stark 107 ausgebildet, daß man fast von einem selbständigen Landschaftsstich sprechen könnte. Auf den modernen Betrachter wirkt wohl der Verlorene Sohn (B. 28) am meisten überraschend, weil wir hier in der Dorfszenerie am deutlichsten das finden, was wir Stimmung nennen. Das Gehöft in seiner Unbehaglichkeit und Öde wirkt so trostlos wie der arme Sünder selbst, der da am Schweinetrog kniet. Allein im Sinne Dürers sollte es keine Stimmungslandschaft sein: er gab das malerisch Reichste, was er hatte, und nur die primitive Behandlung wirkt so kalt. Neu ist aber das Heranziehen der Landschaft an die Figur. Häuser und Höfe, Städte und Schlösser hatte man schon längst gemalt, aber diese Dinge erscheinen dann immer abgetrennt, sie existieren für sich neben der Figur: hier ist die Szene der Figur sozusagen über den Kopf gestülpt und diese, obwohl der Mittelgrund noch nicht ganz aufgeklärt ist, ist aufgenommen in den Raum. Die Vorzeichnung in London (L. 222) hat dieses Verhältnis noch nicht, trotzdem die architektonischen Details alle genau schon vorhanden sind. In den sich drängenden Schweinen ist viel starkes Leben, die Figur des Beters entbehrt auch nicht der Dringlichkeit, der Eindruck wird aber immerhin beeinträchtigt durch die groteske Unklarheit in den Beinen: man weiß nicht mehr, was rechts und was links ist. Der Stich ist zeitlich vor die Vollendung der Apokalypse zu setzen.

Eine zweite büßende Kniefigur in offner Landschaft folgt mit kurzem Abstand, der hl. Hieronymus (B. 61). In der Durchführung ist er schon viel tonreicher. Der Heilige, förstermäßig-rauh, sieht aus wie ein gutmütiger Kollege des Frauenräubers im Meerwunder. Er kniet in einer kahlen Mulde, die mit prächtig strömenden Linien gezeichnet ist. Hinten ein Felsendurchlaß. Der Stein in den verwitterten, ausgefressenen Teilen muß eine rechte Wollust des Zeichners gewesen sein. Er hat Nürnberger Motive benützt,Die Naturstudien sind erhalten in den aquarellierten Federzeichnungen der »Steinbrüche« (Bremen, L. 106/7). Ich verdanke diese Beobachtung H. Börger. unter seinem Griffel verändert sich aber die Natur des weichen Gesteins ins Metallisch-Harte. Ein Zusammengehen der Figur mit den Formen der Landschaft liegt noch nicht in der Absicht, auch die wirkungsvolle energische Dunkelheit der Felsenwand bleibt als Folie unbenutzt.Eine charakteristische Unklarheit des unentwickelten Stils ist es, wie die Terrainlinie mit Kopf- und Schulterlinie der Figur zusammengeht: man hat noch kein Gefühl für das Widrige solcher Begleitungen. Ebenso im »Verlorenen Sohn« das Zusammenfallen des Schweinerückens mit dem Umriß der Erdwelle.

Eine weitere Verselbständigung erfährt die Landschaft im großen Stich des Eustachius, der in seiner Feinzeichnung bereits der Stilperiode des Marienlebens angehört. Es ist oben schon versucht worden, den fast 108 unerschöpflichen Inhalt dieses Blattes anzudeuten. Freilich sieht man auch, daß die Anschauung immer mehr Einzeldinge als Gesamtbilder liefert. Je formenreicher der einzelne Ast, das einzelne Gewächs am Boden wird, um so mehr isoliert es sich für die Aufmerksamkeit. Man kann auch hier sagen, Dürer gibt den Baum, aber nicht den Wald, den Grasbüschel, aber nicht die Wiese, und auch da gibt es dieselben Unterschiede zwischen Kupferstich und Holzschnitt wie bei der Figurenzeichnung.Die Zeichnung des Burgberges (L. 301) ist jedenfalls nur eine Nachzeichnung nach dem Stich.

Die Geburt Christi (Weihnachten)

Ein Feinstich von höchster Vollendung und doch schon geschlossener in der Haltung ist die Geburt Christi von 1504 (B. 2), die Dürer selbst Weihnachten genannt hat. Es ist eigentlich ein Architekturstück, die Figuren treten im Eindruck ganz zurück neben der Räumlichkeit. Ein Gehöft mit vielen Ecken und Winkeln, mit tiefen Dunkellöchern und köstlichen lichten, schwebenden Schatten, mit bröckelnder Fachwerkwand und lustig ausgreifendem zierlichen Buschwerk auf der hochragenden Mauerruine. Und das ist nicht bloß mit dem Auge des Naturalisten gesehen, der immer gern das Zufällige und die Erscheinungen des Verfalls als Trumpf seiner Wirklichkeitsmalerei ausspielt, sondern Form und Licht sind hier in der Tat auf ihre Stimmung hin durchempfunden, daß der Ort den Zauber des heimlich Beschlossenen und freundlich Lebendigen habe. Eine mehr als dekorative Harmonie von weiß und schwarz darf man natürlich nicht erwarten: die Fensterlöcher z. B. sind zu schwarz. Zehn Jahre später würde Dürer es damit anders gehalten haben, gegenüber Früherem aber ist die Lichtnuancierung in diesem Blatte schon eine sehr vorgeschrittene. Der Schatten am Brunnen ist in ersten Drucken von einer entzückenden Weichheit und wie angenehm ist der dunkle Ton des Tores, durch das der Blick in die sonnige Landschaft hinausdringt. Ein bißchen Romantik muß immer dabei sein, in ganz Deutschland würde man eine solche Örtlichkeit nirgends gefunden haben. Die Phantasie will ihre Ranken treiben, hier so gut wie in der offenen Landschaft mit ihren hochgetürmten Bergen und fernen Meeresküsten. 109

 

 


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