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Ich kann ihn tun, wie ich will, irgendwie ist meine früheste Erinnerung an die Mutter geheftet.
Nicht daß ich sie sähe, nicht daß ich sie hörte, doch sie ist da, ich fühle sie in allen Nerven. So muß wohl eine Pflanze die Sonne spüren.
Und plötzlich seh ich mich laufen, in einem altmodischen Barchent-Hemdchen, es reicht bis auf die Füße. Vorn, an der Brust, ist es vielfach gefaltet, und es sitzen drei glänzende Glasknöpfe daran; einer hängt nur sehr wacklig am Faden.
Die Mutter hat gerufen; schrill, angstvoll hat sie gerufen, als ob sie Hilfe brauche. Der Vater ist in der Werkstatt, der kann sie nicht hören. Ich bin aus dem Bett gestiegen, so rasch das meine kleinen Füße fertig brachten, ich habe mit beiden Händen die Lampe von meinem Nachttisch genommen, ich will sie zur Mutter hinübertragen in ihr Zimmer, das ganz dunkel ist.
Aber ich hab es zu eilig. Meine Augen, die in ihrer Angst dem weißen Kreis der Lampe voraus sind und nach dem Gesicht der Mutter spähen, sehen die Zimmerschwelle nicht.
Ich stolpere, ich stürze mit der Lampe hin, das Glas des Behälters zerbricht, das Petroleum fließt aus, ein Aufrausch, wie wenn Pulver verpufft: der Vorhang brennt auf einen Zug, ich selber steh in Flammen.
Die Mutter schreit; den Schrei vergeß ich nie. Das ist das Letzte, was ich mitnehme ins brüllende Feuer.
Als ich zu mir komme, kann ich mich nicht mehr rühren. Hände und Füße liegen in zwängenden Bandagen. Vor Schmerzen pfeif ich wie eine gefangene Maus.
»Tut's arg weh?« fragt der Vater, der sich plötzlich wie etwas Dunkles, Drohendes über mein Bett beugt.
Ich will antworten. In diesem Augenblick geht im Nebenzimmer ein noch nie gehörtes Quäken an.
»Hat die Mutter sich auch verbrannt?« frag ich den Vater.
»Nein,« sagt er. »Aber du hast ein Brüderlein bekommen!«
Das »Brüderlein« ist inzwischen groß geworden, kein Brüderlein mehr, sondern ein richtiger Bruder, breit über die Brust und selber schon Vater. Er und seine Kinder tragen alle ein Muttermal: der Hals ist ihnen von der Brust her mit breiten roten Flammen umzüngelt. Das sind die Flammenbänder, die die Mutter um meinen Hals sah in jener Schreckensnacht, als sie um Hilfe nach dem Vater schrie ...
*
Zwei Jahre später seh ich mich allein auf der winterlichen Straße stehen.
Ich sollte ein Paar Schuhe austragen, nicht weit, noch in der gleichen Straße, kaum zehn Häuser von unserer Wohnung ab.
Doch ich schaffe es nicht; für mich Knirps ist diese Entfernung plötzlich eine Unendlichkeit geworden.
Die Straße glitzert vor Glatteis, alles eine einzige spiegelnde, rutschige Fläche. Ich kann mich nirgends halten. Bei jedem Schritt, den ich tun will, haut es mich hin.
Da fange ich fürchterlich zu heulen an. Ich schrei so, daß trotz den Doppelfenstern die Leute zusammenlaufen. Die Nachbarn kommen, stellen sich um mich herum und fragen: »Was ist denn los, dummer Bub?«
Der dumme Bub kann keine Antwort geben, er heult weiter. Bis ihn schließlich eine Faust am Kragen packt und ihn dadurch vom Eis und von der Verzauberung und vor allem von den vielen neugierigen Augen löst.
Am Griff schon weiß ich, wer hinter mir steht: Es ist der Vater.
Ich bin froh.
So ein Vater ist halt doch stärker als Winter und Glatteis.
*
Ein Jahr später muß ich wieder Schuhe austragen. Diesmal macht's Freude; denn es ist trockene Zeit und nirgendwo gibt's dieses verflixte, glitschige Eis, das einem die Welt unter den Füßen wegziehen will.
Die Schuhe gehören dem Holzhändler Muff. Der ist ein dicker Mann mit einer noch dickeren Frau. Abends schauen die beiden zu den grüngestrichenen Fensterläden hinaus, aber jedes an einem besonderen Fenster; denn für eines allein sind die beiden zu dick. Dabei raucht der Muff jedesmal eine lange Knasterpfeife.
Kinder haben die Muffs keine. Dazu sind sie zu reich, sagt der Vater. Aber sie haben einen Hund, der in seiner Dickheit genau dem Maß seiner Herrschaft entspricht. Er sieht aus wie ein Bündel Wolle, das man mit einer Kardendistel aufgerauht hat. Statt der Augenbrauen hat er borstenstarrende Büschel. Die Augen selber funkeln so, als ob sich Feuer darin anzünden ließe, und hinten der Schwanz, der geht wie verrückt, sobald man Bello sagt.
Bello sitzt auf der Staffel, als ich zum Haus des Holzhändlers Muff komme. Aber heute wedelt der Hund nicht mit dem Schwanz wie sonst, wenn er mich sieht. Ich geh ruhig an ihm vorbei.
Doch in dem Augenblick, da ich die gelbe Klinke anfasse und ins Haus hinein will, da macht der Hund so weit das Maul auf, daß ich seine nassen Lefzen sehe, und sagt ganz laut: »Nein! Nicht!«
Ich bin davon so erschrocken, daß mir des Holzhändlers Schuhe aus der Hand fallen.
Zu Hause lachen mich alle aus, als ich bebend erzähle, daß des Holzhändlers Bello sprechen kann wie ein Mensch. Besonders die Gesellen lachen; aber die waren ja von jeher eine fuchsige Bande.
Später, wenn ich was eingebrockt hatte oder sonst etwas im Gau nicht geheuer war, und ich kam heim, die Schnaubmaschine nicht ganz in Ordnung, da schaute mich die Mutter bloß an und sagte: »Was ist, Bub? Hat wieder ein Hund: Nein! Nicht! gesagt?«
Und jedesmal hab ich mich von neuem gewundert, woher die Mütter alles wissen können ...