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Nachwort

Von Otto Neuendorff

 

Den vereinigten Staaten

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, der alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.

 

Mit diesen Versen vom Jahre 1827 in den »Zahmen Xenien« hat Goethe ein Thema angeschlagen, das ein Jahrzehnt nach ihrer Entstehung eine ganz neue Bedeutung und brennende Aktualität gewinnen sollte. In dem Zeitraum zwischen der französischen Julirevolution von 1830 und der Revolution von 1848, einer Zeit des Gärens und der Unruhe, die von der herrschenden Gewalt nur mit Mühe niedergehalten wurde, steigerte sich die Zahl der Auswanderer nach den Vereinigten Staaten von Amerika, die aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen die Heimat verließen in der Hoffnung, im neuen Erdteil ein Dasein in Freiheit und mit unbegrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten führen zu können.

In der Mitte dieser aufgewühlten dreißiger Jahre begann die Schriftstellerlaufbahn Ernst Willkomms. Als Sohn eines evangelischen Pfarrers wurde er am 10.Februar 1810 in Herwigsdorf bei Zittau, dicht an der böhmischen Grenze, geboren. Seine Universitätsjahre in Leipzig, wo er ein juristisches Studium begann, brachten ihn in Verbindung mit einem Kreis von Schriftstellern, die den Zeitideen zugewandt waren, darunter Vertreter des »Jungen Deutschland« wie Gutzkow und Laube. Zu Gutzkow, der sich Anfang 1834 in Leipzig aufhielt, trat Willkomm allerdings nicht in ein näheres persönliches Verhältnis; enger und freundschaftlicher war sein Verkehr mit F. G. Kühne, H. Marggraff, Th. Mundt, K. Herloßsohn, A. Glaßbrenner. Zu dem Kreise gehörte auch eine wenig bekannte Schriftstellerin, Fanny Tarnow, mit der Willkomm während der Arbeit an den »Europamüden« auf besonders vertrautem Fuße stand; es haben sich an sie gerichtete Briefe Willkomms erhalten, die für seine damaligen Ansichten und für die Entstehung seines Romans sehr aufschlußreich sind.

Die Ideen des »Jungen Deutschland« nahm Willkomm in diesem Kreise ganz in sich auf. Wenn sein Name auch in den offiziellen Dokumenten, die diese Vereinigung in ihrer Wirksamkeit mit Verboten einschränkte, nicht auftauchte, da sein Roman damals, im Jahre 1835, als Gutzkows »Wally die Zweiflerin« erschien, noch nicht geschrieben war, so entwickelte er sich doch zu einem typischen Vertreter dieser Richtung, der ihre Ideen in besonders krasser Form darstellte. Seine Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen auf politischem, kulturellem und religiösem Gebiete, mit der Enge der Verhältnisse in Deutschland, sein Drang nach politischer, religiöser und moralischer Freiheit des Individuums in seiner Übersteigerung machten ihn zu einem besonders markanten Vertreter des Typs des »Zerrissenen«. Er besaß den für diesen Typus charakteristischen Mangel eines festen Standpunkts, wurde von einem Gedanken zum andern hingerissen, ohne in der Gegenwart eine Möglichkeit zu sehen, zu einem klaren Ziel zu kommen und ein Leben mit neuem Inhalt zu erfüllen. Eine Gestalt wie Lord Byron wirkte infolgedessen so stark auf diese Zeit. Den Typus des »Zerrissenen« hatte der Romanschriftsteller Alexander von Ungern-Sternberg 1832 in seiner Novelle »Die Zerrissenen« dargestellt, er erfuhr neue Gestaltung in Gutzkows »Wally die Zweiflerin« (1835) und in Immermanns »Epigonen« (1836).

Was Willkomm in seinem Roman brachte und was diesem die zeitgeschichtliche Bedeutung verlieh, die auch heute noch eine Beschäftigung mit diesem Werk rechtfertigt, war also nicht etwas eigentlich Neues, sondern die besonders extreme Darbietung der Zeitideen und ihre Verknüpfung mit der Utopie eines Amerika-Ideals, das einen Ausweg aus der europäischen Misere eröffnen sollte – freilich nur »sollte«, denn die geplante Fortsetzung mit dem Mississippi als Schauplatz hat Willkomm nicht geschrieben. Wenn der mit Heinrich Laube befreundete Gustav Schlesier nach dem Erscheinen der »Maha Guru« Gutzkow vor einer »Poesie des Kalküls« warnte und forderte, der Dichter müsse sich die Brust aufreißen und »Herzblut zeigen«, so trifft auf Willkomm dieser Vorwurf nicht zu. Er wollte, wie er im Nachwort zu seinem Roman sagt, »ein Bild großer Lebensschmerzen« schreiben, und diese Lebensschmerzen hat er selbst erlebt. Die Briefe jener Zeit an seine Vertraute Fanny Tarnow zeigen deutlich, wie er von den dargestellten Problemen bis nahe an den Rand der Verzweiflung gerissen wurde. Und in der Tat bedeutete der Roman für ihn eine Selbstbefreiung: »Ein groß Teil schwüler Angst hat mich verlassen mit meinem Buche«, schrieb er nach der Vollendung des Werks an Fanny Tarnow, »jetzt drückt mich nur die Sorge um das Kind meiner träum- und schlaflosen Nacht und so tausendfach durchgefühlten Qualen. Friede ist zwar noch nicht, aber ein morgenroter Duft erquickt im Hinausblick, in die Zukunft mein brennend durstiges Auge …«

Willkomm war allerdings als Schriftsteller nicht der Mann, dieses Erlebnis zu einem wirklichen Kunstwerk zu gestalten. Er hat das selbst gewußt und im Nachwort ausgesprochen: »Wer mein Buch als Kunstwerk auffaßt, gerät in die Brüche. Ich habe ein Bild großer Lebensschmerzen, kein Kunstwerk schreiben wollen.« Aber, so meint er ebenfalls: »Meine Speise ist die Wahrheit, die ungeschminkte.« So legt er Wert darauf, daß die von ihm geschilderten Personen »keine Schminke« tragen, daß sie Menschen seien, »wie sie aus der Verworrenheit gegenwärtiger Zustände, sobald man diese concentrirt, von selbst her vorwachsen.« Diese Absicht hat jedoch dazu geführt, daß seine Figuren derart ins Maßlose und Sensationelle gesteigert wurden, daß sie keine lebendigen Menschen, sondern extreme Personifizierungen von Zeittypen darstellen, die dazu durch die Grellheiten der Handlungen und die exaltierte Darstellung, in der die Schauer- und Schicksalsromantik nachwirkt, doch mehr als Karikaturen wirken. Eine Entwicklung ihrer Persönlichkeit kennen sie daher nicht. Dazu trägt auch die Anlage des Werkes als Briefroman bei; nur ein einziger Briefschreiber, Sigismund, richtet seine Briefe an zwei Adressaten und schildert so die Vorgänge von seinem Blickwinkel, ohne daß sie eine allseitige Beleuchtung empfangen oder unmittelbar dargestellt werden.

Bleibt Willkomm so im Rahmen der Zeitgedanken des Jungen Deutschland, liegt das Besondere seines Buches in der utopischen Hoffnung auf eine Überwindung der Zeitmisere durch den neuen Erdteil Amerika, d. h. durch die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten. Bei der zunehmenden Auswanderung dorthin unter dem Druck der Zustande in Deutschland spielten außer politischen und religiösen Gründen wirtschaftliche Ursachen eine erhebliche Rolle, die freilich bei Willkomm hier noch kaum gestaltet sind. Erst in späteren Romanen wie »Eisen, Gold und Geist« (1843) und »Weiße Sklaven oder die Leiden des Volkes« (1845) hat Willkomm Fragen der aufkommenden Industrie und Umwälzung der Fabrikation durch die Maschine behandelt. Seine Personen stammen aus der bürgerlichen Sphäre und sind zum Teil sogar recht begütert. Zu der Flucht aus Europa führt im wesentlichen eine allgemeine Zivilisationsmüdigkeit, der oft im Roman erhobene Ruf nach einer großen Tat, ohne daß gesagt wird, was diese Tat zum Inhalt haben soll. Rousseausche Gedanken der Rückkehr zur Natur sind nach Willkomms Ansicht in Europa nicht zu verwirklichen, weil hier alles verdorben und unnatürlich ist. In Amerika glaubt er die Natur noch zu finden, dort vermutet er Zustände, die dem Menschen ein naturgemäßes Leben ermöglichen, in dem sie sich zu körperlich und geistig gesunden Individuen entwickeln können, und er erhofft für die spätere Zukunft, daß von Amerika ausgehend auch Europa wieder den richtigen Weg finden und gesunden könne. Dieses Evangelium wird ohne näheres Eingehen auf amerikanische Realitäten als Erlösung verkündet, ohne die leise Skepsis, die sich in einem Brief an Fanny Tarnow findet: »Amerika trotz seiner Geldaristokratie ist und bleibt dennoch das Land der Zukunft. Geht nicht in die Städte, sondern geht in die Wälder, traut Euch der Natur an …«

Willkomm schrieb seinen Roman in den Monaten Januar bis Juni 1837. Am 8. August konnte er bereits melden, die »Europamüden« seien unter der Presse. Aber nun setzte die Zensur ein. Über die Behinderung, die der Roman dadurch erfuhr, spricht sich das Nachwort in den vorsichtig andeutenden Sätzen aus: »Auch möge man noch die etwas mißlichen Verhältnisse betrachten, unter denen es nicht erlaubt ist, den Gedanken in der geeigneten Weise auszusprechen. Mit dem Wegfall der Gedanken verliert aber auch die Form … Findet nun dieser oder jener Leser oder Kritiker ähnliche Verwundungen an meinem Buche, so bitte ich, er möge sich dafür andern Orts bedanken oder beschweren.« Immerhin scheint sich Willkomm dennoch erstaunlich wirksam gegen die Beschneidung seines Buches durchgesetzt zu haben, wie eine Schilderung an Fanny Tarnow bezeugt: »Die ersten Bogen sahen aus wie ein Schlachtfeld. Kein Gedanke ward lebendig gelassen, – ich war ein geschlagener Mann. Da ich nun sehr wenig aufgelegt bin, mich willkürlich kreuzigen zu lassen, ergriff ich ebenfalls Maßregeln, stürmte der Zensurbehörde ins Bureau und drang auf ein anderes Verfahren. Zwar wunderte man sich, mußte mir aber doch zuletzt Gerechtigkeit widerfahren lassen, und restituirte das Gestrichene größtenteils in integrum. Seitdem habe ich jetzt Ruhe vor dem Streichen.«

Wie war nun die Aufnahme des Romans bei den Zeitgenossen? Er erregte Aufsehen, aber wenig Zustimmung. Nicht nur die Gegner, nein auch die Anhänger der Jungdeutschen waren von der Radikalität abgestoßen und äußerten sich absprechend. Gutzkow sah darin eine Übersteigerung und Karikatur seiner eigenen Tendenzen und urteilte: »Das Buch bleibt eine Mißgeburt« und attestierte dem Verfasser »beispiellose Unreife, die von den Zeitphrasen und einem seltenen Talent zum Schwulst verdeckt ist«; Willkomms Weg sei »eine Sünde wider den heiligen Geist der Literatur«. Ähnliche Urteile, wenn auch nicht immer ganz so schroff, bilden die Regel.

Öfters wurde Willkomm getadelt, daß sein Roman nur bei den negativen Zuständen verweile, ohne den positiven Ausweg, also die Rettung durch Amerika, zu schildern. Trotz allen jungdeutschen Sturm und Drangs wirkte bei seinen Zeitgenossen doch das klassische Harmoniebestreben noch, während unsere Gegenwart solchen Stimmen, die die Fragwürdigkeit der Existenz aufweisen, ein weit offeneres Ohr leiht. Willkomm hat zeitweise dem Roman ein positives Gegenstück geben wollen; im Nachwort äußert er die Absicht, später eine in Amerika am Mississippi spielende Fortsetzung zu liefern, wenn seine Ausführungen Freunde finden sollten, »welche aufzuwachen geneigt sind«. Daß er diesen Plan nicht ausführte, lag wol nicht nur an dem mangelnden Echo auf seine Ideen, sondern auch an einer Wandlung, die sich in seinen folgenden Werken vollzog. Die positive Schilderung Amerikas in der Form von Romanen und Erzählungen gab in deutscher Sprache seit der Mitte der dreißiger Jahre der Österreicher Karl Postl unter dem Pseudonym Charles Sealsfield, freilich weniger reflektierend, sondern plastischer schildernd. Die folgenden Jahre, in denen viele Einwanderer, die mit falschen Vorstellungen nach Amerika gekommen waren, große Enttäuschungen erlebten, waren dem Amerika-Evangelium Willkomms wenig günstig, und so folgte im Jahre 1856 der literarische Gegenschlag in Ferdinand Kürnbergers, des Wiener Kritikers und Novellisten, Roman »Der Amerikamüde.« Kürnberger entwarf in freier Ausgestaltung von Lenaus enttäuschendem Amerika-Aufenthalt ein düsteres Gemälde von religiösem Zelotismus, betrügerischen Landverkäufern und Verbrechern, das nun wieder kein gutes Haar an den amerikanischen Zuständen ließ. Das Ganze ist aber mit größerer Gestaltungskraft geschrieben und fand mehr Anklang bei den Lesern, so daß sogar eine Ausgabe in Reclams Universalbibliothek erscheinen konnte.

Willkomm, der seinen Roman im Alter von 27 Jahren geschrieben hatte, war danach noch fast vier Jahrzehnte als fruchtbarer Autor tätig und entging dabei nicht der Gefahr der Vielschreiberei. Er nahm eine Entwicklung, die ihn später weit von seinen »Europamüden« wegführte. Sein nächstes, im folgenden Jahre erschienenes Werk, der Novellenzyklus »Lord Byron. Ein Dichterleben« behandelte zwar in der Person des englischen Dichters noch einen »Zerrissenen«, dessen Persönlichkeit auf die Zeitgenossen besonderen Eindruck machte und den man als repräsentativ für die beginnende Entwicklung ansah. Aber im Gegensatz zu dem Buch des Hasses entstand nun ein Werk der Liebe, in dessen Stoff die Tendenzen des Jungen Deutschland ungezwungener zum Ausdruck gelangen konnten und nicht die extreme Übersteigerung wie in den »Europamüden« erfuhren. Freilich zeigte sich in den aneinandergereihten Novellen, die zusammen Byrons ganzes Leben umfaßten, wieder die mangelnde Gestaltungskraft Willkomms, so daß das Werk sich als ein unglücklicher Zwitter zwischen Lebensbeschreibung und dichterischer Behandlung erwies. Mit diesem Buch schloß Willkomm seine jungdeutsche Periode ab.

Schon zu Beginn des Jahres 1838 hatte Willkomm an Fanny Tarnow über seine Zukunftspläne geschrieben: »Ich suche dabei aber das Gewaltsame, wozu meine noch immer zackige Natur hinneigt, langsam an der Besonnenheit stillerer Momente abzuschließen und alles künstlerisch zu gestalten, ohne deshalb der Zeit und ihren Bestrebungen den Rücken zu wenden noch meine eigene republikanische Wesenheit zu töten.« Unter den vielen (44) Titeln seiner von 1840-1875 erschienenen Werke heben sich zwei Romane heraus mit sozialpolitischem Gehalt und demokratischer Tendenz: »Eisen, Gold und Geld« (1843) und der von den schlesischen Weberunruhen angeregte Roman »Weiße Sklaven oder die Leiden des Volkes« (1845). Er befand sich hier in einer Zeitströmung sozialer Romane, die das Volk bei der Arbeit schilderten und je nach dem Standpunkt ihrer Verfasser dabei mehr oder weniger gesellschaftskritisch eingestellt waren. Außer dem Grafen Alexander von Ungern-Sternberg mit einer Reihe solcher Werke gehören hierher Namen wie Friedrich Wilhelm Hackländer (»Europäisches Sklavenleben« 1851) und andere, bis dann Gustav Freytag, der weniger kritisch die Verhältnisse in ein günstigeres Licht versetzte, mit »Soll und Haben« (1855) den großen Erfolg erzielte. Willkomm näherte sich der Art Freytags in einigen Romanen der fünfziger Jahre, wobei ihm sein damaliger Wohnort Hamburg neue Anregungen gab: hier ist besonders »Rheder und Matrose« (1857) zu nennen. Weitere Schriften der sechziger Jahre zeigten ein deutliches Absinken; nach 1875 bis zu seinem Tode am 24. Mai 1886 hat er nichts mehr veröffentlicht.

Trotz aller Bemühungen, im Gegensatz zu den »Europamüden« später Werke zu schreiben, die auch nach der künstlerischen Seite höheren Ansprüchen genügen sollten, reichte Willkomms dichterisches Vermögen nicht aus, ein Werk von wirklichem dichterischen Rang zu schaffen. Zwar fand er in den vierziger und fünfziger Jahren einen gewissen Anklang bei der Leserschaft, aber andere waren ihm auf den von ihm betretenen Pfaden überlegen. So liegt seine literarische und zeitgeschichtliche Bedeutung trotz aller Mängel des Buches in seinen »Europamüden«, die als eine besonders charakteristische und in ihrer Übersteigerung nicht übertroffene Manifestation des Zeitabschnittes zwischen den Revolutionen von 1830 bis 1848 fortbestehen.

 


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