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Ich sah Dr. Grundt an. Ich mußte vorsichtig und methodisch mit ihm zu Werke gehen. Nur wenn ich ganz systematisch handelte, durfte ich hoffen, ihn zwei Stunden lang in dem Zimmer aufzuhalten. Vier verschiedene Punkte hatte ich mit ihm zu besprechen und ich würde nach der Uhr jedem dieser Punkte eine halbe Stunde widmen. Wenn es mir gelang, ihn in seiner Siegesgewißheit zu bestärken, durfte ich hoffen, ihm zu verheimlichen, daß ich mit ihm spielte. Aber zwei Stunden sind eine lange Zeit. Leicht würde es bestimmt nicht sein.
Mein Benehmen gab ihm von Anfang an Sicherheit, das sprach zu meinen Gunsten. Ich brauchte mich auch gar nicht sehr anzustrengen, um meiner Stimme einen demütig-ergebenen Klang zu geben, denn ich war tatsächlich der Verzweiflung recht nah. Ich machte diesen letzten Versuch auf Geheiß meines Bruders, aber im Grunde hatte ich das Gefühl, daß es verlorene Liebesmüh war: Tief im Herzen wußte ich, daß es keinen Sinn hatte.
Ich kam also direkt zur Sache und sagte dem Klumpfuß, daß ich mich geschlagen gäbe und daß er seinen Brief haben solle. Es gäbe da aber noch allerhand Schwierigkeiten. Wir hatten einander beide betrogen. Was für gegenseitige Garantien konnten wir austauschen, um einander die Gewißheit von fair play zu geben.
Diesen Punkt erledigte Grundt in seiner charakteristischen Manier. Er beteuerte seine Redlichkeit, aber der Kernpunkt seiner Bemerkungen war, daß er die Trümpfe in der Hand hielte, und daß man ihm infolgedessen vertrauen müßte, während ich Garantien beizubringen hätte.
Während wir über diesen Fall diskutierten, schlug die Uhr halb.
Jetzt lenkte ich das Gespräch auf Monika. Meinetwegen mache ich mir gar keine Sorgen, sagte ich, aber ich mußte sicher sein, daß ihr nichts Böses geschehen würde. Darauf erwiderte er, ich dürfe ganz beruhigt sein: Sobald er das Dokument in Händen hielte, würde er ihre Freilassung veranlassen. Ich sollte dabei sein und mich selbst davon überzeugen.
Wo aber sei die Gewähr, fragte ich, daß sie nicht an der Grenze zurückgehalten werden würde?
Grundt wurde leicht unruhig. Er warf einen Blick auf die Uhr, behauptete aber wiederum mit friedlicher Stimme, sein Wort sei die einzige Garantie, die er zu bieten hätte.
Wir diskutierten auch darüber. Ich weiß, daß mein Benehmen gequält und nervös war, und ich glaube, es machte ihm Spaß, mit mir zu spielen. Ich sagte ihm offen, daß sein Ruf all seine Beteuerungen Lügen strafe. Er lachte und gab zynisch zu, daß das schon möglich sei.
»Und doch bin ich es, der Ihnen die Garantie gibt«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Die Uhr schlug elf.
Noch eine volle Stunde!
»Vorwärts, Okewood«, fügte er jovial hinzu. »Wir vergeuden nur die Zeit. Sie wollen doch nicht, daß ich die erste Jagd dieses Jahres versäume. Wo haben Sie also unseren Brief?«
Er war schon ein merkwürdiger Mensch. Wenn man ihn so zu mir reden hörte, hätte man nie angenommen, daß er mich in den Tod schicken wollte. Diese Kleinigkeit schien er vergessen zu haben. Er hatte es sogar vielleicht tatsächlich vergessen, weil es ihm ja so wenig bedeutete.
Ich nahm meinen dritten Punkt in Angriff. Ich sagte, er mache es mir sehr schwer, aber ich sei ja der Besiegte und müsse nachgeben. Leider sei nur das Dokument noch immer in zwei Hälften geteilt und keine Hälfte befände sich hier.
»Dann sagen Sie mir eben, wo die Hälften versteckt sind«, erwiderte er prompt. »Ich werde Sie an die betreffenden Stellen begleiten und Sie werden mir die Dokumente aushändigen.«
»Aber sie sind ja nirgends hier in der Nähe«, entgegnete ich.
»Na, wo sind sie denn dann?« fragte er ungeduldig. »Los jetzt! Ich warte und es wird immer später und später!«
»Es wird mehrere Tage in Anspruch nehmen, um beide Teile zu holen«, brummelte ich unwirsch.
»Einerlei«, entgegnete der Andere. »Es hat ja jetzt keine besondere Eile!« Er lächelte grimmig.
Ich wagte nicht, meine Augen auf die Uhr zu richten, denn ich fühlte des Deutschen Blick auf mir ruhen. Ein Instinkt sagte mir, daß mein Benehmen seinen Verdacht erweckt hatte. Ich war ziemlich am Ende meiner Kraft.
Wollte denn die Uhr überhaupt nicht schlagen?
»Offen gesagt, Herr Doktor«, sagte ich mit einer Stimme, die vor Erregung zitterte, »ich kann die Gräfin nicht schutzlos hier zurücklassen, während wir miteinander zu den Versteckplätzen des Dokuments reisen. Ich bin ihrer Sicherheit nur gewiß, solange ich in ihrer Nähe bin ...«
Grundt runzelte die Stirn. »Was haben Sie also vorzuschlagen?«, fragte er sehr reserviert.
»Sie fahren fort und holen die beiden Hälften an den von mir bezeichneten Stellen«, stammelte ich schließlich hervor, »und ... und ...«
Ein leises Summen – und der silbrige Glockenton erklang zweimal.
Noch eine halbe Stunde! Wie still es im Hause war! Ich konnte die Uhr ticken hören – nein, das war wohl mein Herz, das da klopfte. Meine Kehle war trocken vor Angst, mein Hirn war leer – ich drohte zusammenzubrechen.
»Ich habe anderthalb Stunden an Sie verschwendet, junger Mann«, sagte er plötzlich, »und es wird Zeit, daß diese Unterhaltung zu Ende kommt. Ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, daß ich nicht mit mir spaßen lasse. Die Situation ist vollkommen klar: es liegt in Ihrer Hand, ob die Gräfin Rachwitz frei ausgeht oder heute nachmittag vor das Kriegsgericht in Cleve geführt und heute abend erschossen wird. Ihr Vorschlag ist lächerlich. Ich mache Ihnen jetzt ein vernünftiges Angebot: Wir bleiben beide hier, ich werde telegraphisch veranlassen, daß die beiden Briefhälften an den von Ihnen angegebenen Stellen abgeholt werden, und sobald ich den vollständigen Brief in der Hand habe, wird die Gräfin zur Grenze gebracht werden. Ich werde ihrem Haushofmeister hier gestatten, sie zu begleiten, und er kann zurückkommen und Ihnen versichern, daß es ihr gut geht.«
Er streckte eine Hand aus und nahm sich ein Paket Telegrammformulare vor.
»Wo sind also die beiden Hälften zu finden?« sagte er.
»Eine ist in Holland«, murmelte ich.
Er blickte rasch auf.
»Wenn Sie sich unterstehen, mir falsche Auskunft zu geben ...«
Aber sobald er mein Gesicht sah, brach er ab.
Das Zimmer tanzte vor den Augen. Meine Hände waren eiskalt, ich kämpfte, um die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, aber ich fühlte, daß meine Nerven versagen wollten.
»Ah«, rief er aus, »das wird Semlins Hälfte sein ... Ich hätte es natürlich wissen müssen ... Na, macht nichts, Schmalz kann meinen Wagen nehmen und sie holen. Morgen kann er schon wieder zurück sein. Wo muß er also hin?«
»Die andere Hälfte ist in Berlin«, sagte ich verzweifelt. Meine eigene Stimme klang mir fremd. Mir war, als spräche ein Dritter.
»Das ist ja einfacher«, erwiderte er. »Es ist jetzt zehn vor zwölf, wenn ich sofort telegraphiere, müßte diese Hälfte um Mitternacht schon hier sein. Ich werde diese Depesche sofort aufgeben ...«
Er blickte mich, den Bleistift in der Hand, an.
Das war das Ende. Ich hatte Francis bis an die Grenze meiner Kraft vertraut. Jetzt aber war es mit meinem Widerstand vorbei. Er hatte mich im Stich gelassen ... Nicht mich, vielmehr Monika ... Ich konnte sie jetzt nicht retten. Wie in einem gespenstischen Film flogen alle Erlebnisse der vergangenen Wochen an meinem geistigen Auge vorbei, ein wildbewegter Zug von Gestalten: Semlin mit seinen blauen Lippen und dem bleichen Gesicht, die Schratt mit den ringgeschmückten Händen, der Jude Kore, Haase mit seinem Kugelkopf, Francis, der in sich versunken auf der Veranda des Cafés stand, und Monika, ganz in Weiß, wie sie mir damals im Esplanade entgegengetreten war, immer kehrten meine Gedanken wieder zu ihr zurück: eine weiße rührende Gestalt in irgendeinem staubigen Hof, die im Laternenlicht einer Reihe auf sie gerichteter Gewehre gegenüberstand ...
»Ich warte!« Grundts Stimme schnitt schrill durch die Stille.
Sollte ich ihm jetzt die Wahrheit sagen?
Es war drei Minuten vor voll.
»Los! Die beiden Adressen!«
Ich wollte bis zum letzten Augenblick hoffen.
»Herr Doktor!«, stammelte ich.
Er warf den Bleistift auf den Tisch und sprang auf. Dann packte er mich eisern am Rock und schüttelte mich.
»Die Adressen, du Hund!« sagte er.
Die Uhr surrte leise. Da klopfte es an die Tür.
»Herein«, brüllte er und setzte sich wieder hin. Die Uhr schlug zwölfmal.
Ein Offizier trat rasch ein und salutierte.
Es war Francis! Francis, frisch rasiert, mit sauber gestutztem Schnurrbart, ein Monokel im Auge, in einem wundervoll sitzenden grauen Offiziersmantel, eine weißbehandschuhte Hand zum Gruß am Helm.
»Hauptmann von Salzmann!« stellte er sich vor, schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich vor Grundt, der ihn mit gerunzelter Stirn anstarrte. Er sprach abgehackt und kurz, wie ein typischer preußischer Offizier.
»Ich suche Herrn Leutnant Schmalz«, sagte er.
»Der ist nicht hier«, erwiderte Grundt säuerlich. »Er ist ausgegangen und ich habe zu tun ..., ich wünsche nicht gestört zu werden.«
»Da Schmalz aus ist, fürchte ich, Sie einen Augenblick behelligen zu müssen«, erwiderte der Offizier liebenswürdig und näherte sich dem Schreibtisch. »Ich bin von Goch herübergeschickt worden, um die Wache hier zu inspizieren, aber ich finde hier nirgends eine Wache ... Es ist kein einziger Mann im Hause.«
Dr. Grundt hob seinen mächtigen Körper ärgerlich aus dem Sessel: »Gott im Himmel!«, schrie er wild, »es ist doch unglaublich, daß ich nie in Ruhe gelassen werden kann. Was zum Teufel habe ich mit der Wache zu schaffen! Nicht das geringste, merken Sie sich das, bitte! Der Unteroffizier wird doch irgendwo stecken. Schimpfen Sie mit diesem faulen Lümmel. Ich werde klingeln ...«
Er vollendete den Satz nicht. Im Augenblick, als er meinem Bruder den Rücken kehrte, um auf den Klingelknopf an der Wand zu drücken, sprang Francis ihn von hinten an, umklammerte seinen Stiernacken und stieß ihn gleichzeitig sein Knie in den breiten Rücken.
Der deutsche Riese, der nicht darauf gefaßt gewesen war, taumelte hinten über und mein Bruder fiel auf ihn.
Das spielte sich alles mit solcher Geschwindigkeit ab, daß ich einen Augenblick lang vollkommen sprachlos war.
»Rasch, Des, die Tür«, stieß mein Bruder hervor. »Sperr die Tür ab!«
Der Koloß brüllte wie ein Stier, zappelte wild unter den Fäusten meines Bruders und schlug mit seinem Klumpfuß donnernd auf den Parkettboden. Beim Sturz hatte sich sein linker Arm nach hinten umgebogen und lag jetzt eingeklemmt unter seinem mächtigen Körper. Mit seinem freien rechten Arm versuchte er verzweifelt, meinen Bruder abzuschütteln, während Francis sich bemühte, an den Hals des Mannes heranzukommen und ihn zu erwürgen.
Ich stürzte zur Tür. Der Schlüssel steckte innen und ich drehte ihn im Nu um. Als ich mich umwandte, um meinem Bruder zu Hilfe zu eilen, fiel mein Blick auf meinen Revolver, der noch immer unter meinem Überzieher auf dem Billardtisch lag, wo Schmalz ihn gestern hingepfeffert hatte. Ich riß die Waffe an mich, stürzte an die Seite meines Bruders und drückte den rechten Arm Grundts zu Boden. Ich hielt ihm die Pistole vor die Nase.
»Ruhe!«, befahl ich.
Der Deutsche gehorchte.
»Durchsuche ihn, Francis«, sagte ich meinem Bruder, »er hat wahrscheinlich irgendwo einen Browning bei sich.«
Francis kramte in des Mannes Taschen und legte jeden einzelnen Gegenstand, den er herausholte, über sich auf den Schreibtisch. Aus einer inneren Rocktasche zog er den Browning hervor: er war geladen. »Sollten wir ihn nicht lieber fesseln«, meinte Francis. »Nein«, erwiderte ich. Ich kniete immer noch auf dem Arm des Deutschen. Er schien bereits vollkommen erschöpft. Sein Kopf war hintenüber auf den Boden gefallen.
»Laßt mich los, ihr verdammten Hunde!«, keuchte er.
»Nein!«, sagte ich wieder, und Francis drehte sich um und sah mich an.
Jeder von uns wußte, was in dem Anderen vorging. Wir dachten an einen Händedruck, den wir am Ufer des Rheins ausgetauscht hatten.
Ich wollte gerade sprechen, aber Francis hielt mich zurück. Er zitterte am ganzen Körper. Ich fühlte, wie sein Arm an meinem Ellbogen bebte.
»Nein, Des, ich bitte dich«, sagte er, »laß mich ..., das ist meine Sache ...«
Dann sprach er zum Klumpfuß. Seine Stimme vibrierte vor unterdrückter Leidenschaft: »Sehen Sie mich gut an, Grundt«, sagte er düster. »Sie kennen mich nicht, nicht wahr? Ich bin Francis Okewood, der Bruder des Mannes, der Sie zu Fall gebracht. Sie kennen mich nicht, aber ein paar Freunde von mir haben Sie gekannt, glaube ich, Jack Tracy? Erinnern Sie sich an den? Und Herbert Arbuthnot? Oh, ja, den kannten Sie auch. Und Philipp Brewster ebenfalls, nicht wahr, ich brauche Sie wohl nicht zu fragen, was mit dem armen Philipp geschehen ist.«
Der Mann auf dem Boden erwiderte nichts, aber ich sah, wie die Farbe ganz langsam aus seinen Wangen wich.
Mein Bruder sprach von neuem: »Wir waren zu viert hinter diesem Brief her, wie Sie wohl wissen, Grundt, und drei von uns sind tot. Mich aber haben Sie niemals zu fassen bekommen. Ich war der vierte Mann, die unbekannte Größe in all Ihren großartigen Berechnungen, und mir scheint, ich habe Ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich und mein Bruder da, ein Neuling in diesem Geschäft, Grundt!«
Dr. Grundt schwieg noch immer, aber ich sah eine Schweißperle auf seiner Stirn zittern, dann seine aschfahlen Wangen hinunterrinnen und spritzend auf den Boden fallen.
Francis fuhr mit derselben tiefen, unerbittlichen Stimme fort: »Nie hätte ich geglaubt, daß ich meine Hände würde beschmutzen müssen, um die Welt von einem Manne wie Sie zu befreien, Grundt, aber es ist dazu gekommen – und Sie müssen sterben. Ich hätte Sie am liebsten gleich vorhin aus Wut umgebracht, aber Jack und Herbert und all den anderen zuliebe sollten Sie erst wissen, wer Ihr Richter ist.«
Mein Bruder hob die Pistole in die Höhe. In dem Augenblick richtete sich der Mann mit übermenschlicher Anstrengung halb auf und warf mich dabei zu Boden. Dann sah ich eine heiße Flamme dicht an meinem Gesicht vorbeischießen, hörte einen ohrenbetäubenden Knall, den dumpfen Laut eines schwer fallenden Körpers und ein gräßliches Röcheln.
Irgend etwas zuckte einen Augenblick lang am Boden und lag dann still.
Wir erhoben uns gleichzeitig.
»Des«, sagte mein Bruder unsicher, »es sieht recht nach Mord aus.«
»Nein, Francis«, flüsterte ich zurück, »das war Gerechtigkeit!«