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2. Kapitel.
Das Zeichen aus Deutschland

Die rätselhafte Erklärung des Generalstabsoffiziers enthielt kein Rätsel mehr für mich. Ich wußte sofort, daß Francis in geheimem Auftrag in Deutschland sein müsse. Mit seiner außergewöhnlichen Kenntnis der Deutschen, ihrer Sitten, ihres Lebens und ihrer Dialekte, war er ja für solch einen gefährlichen Posten geradezu ideal geeignet. Francis war für Sprachen hervorragend begabt. Er lernte sie ganz mühelos, das Deutsche beherrschte er vollendet. In dem Jahre, das wir zusammen in Bonn, im Hause des Konsistorialrats v. Mayburg, verbrachten, hatte er mich rasch überflügelt, und obgleich ich nach Jahresschluß fließend deutsch sprach, konnte Francis noch obendrein Bonner und Kölner Dialekt sprechen wie ein Eingeborner – ja, er verstand es sogar, einen Trupp Rekruten zu drillen, wie der fescheste Leutnant, der jemals der Kadettenanstalt entflogen war.

Er hatte sich immer, ohne jede Schwierigkeit, als Deutscher ausgeben können. Ja, ich erinnere mich noch, wie er sich freute, als er von einem deutschen Offizier, den wir im Sommer vor dem Krieg kennenlernten, für einen Landsmann vom Rhein gehalten wurde. Der verband damals in England das Angenehme des Golfspiels mit ein bißchen nützlicher Spionage.

Ich glaube kaum, daß Francis bei seinem gründlichen Deutsch-Studium irgendwelche Hintergedanken hatte. Er entfaltete einfach sein Nachahmungstalent. Außerdem hatte er sich immer für Philologie interessiert. Darum machte es ihm auch später, als er schon sein Autogeschäft hatte, immer noch Spaß, sich auf Geschäftsreisen in Deutschland neue Dialekte anzueignen.

Seine Sprachimitationen waren schrecklich komisch. Eine seiner Glanznummern war eine geräuschvolle Reichstagssitzung mit Reden von Fürst Bülow und August Bebel und »Zwischenrufen«; ferner eine patriotische Rede eines alten preußischen Generals beim Kaisers-Geburtstags-Essen. Francis hatte die wunderbare Fähigkeit, nicht nur einen Deutschen kopieren zu können, sondern beinahe wie ein Deutscher auszusehen, so restlos gelang es ihm, in die fremde Haut zu schlüpfen.

Aber auch in meinen kühnsten Träumen wäre mir nie der Gedanke gekommen, daß er versuchen würde, in Kriegszeiten nach Deutschland zu reisen, in das Land, wo jeder Bürger von Geburt an in Listen eingetragen und registriert wird. Aber durch die orakelhaften Worte des Mannes mit den roten Streifen war mir alles klar geworden. Natürlich: in geheimem Auftrag nach Deutschland geschickt zu werden, das war ja für Francis ein gefundenes Fressen! Für Francis, der Gefahr so vollkommen verachtete, der für sein Leben gern etwas riskierte und sich königlich freute, wenn er die Deutschen beschwindeln und an der Nase herumführen konnte ... Sicherlich: wenn es Engländer gab, die tapfer genug waren, solch ein Risiko auf sich zu nehmen, so würde sich Francis bestimmt als Erster gemeldet haben.

Wenn Francis sich also irgendwo in geheimer Sendung aufhielt, so war es in Deutschland. Aber welche Aussicht bestand für ihn, jemals zurückzukehren, da die Grenzen gesperrt und Ein- und Ausreise absolut verboten waren? Während mancher Nacht im Schützengraben stellte ich mir den gutmütigen und furchtlosen Francis vor, wie er von preußischer Infanterie an die Wand gestellt und unter Feuer genommen wurde.

Seit jenem Frühstück im Bath-Club bis zum heutigen Nachmittag hatte ich auch nicht das allergeringste mehr vom Aufenthalt oder Schicksal meines Bruders gehört. Die Behörden zu Hause taten, als wüßten sie nichts, wie es ja auch in diesem Fall nicht anders zu erwarten war, und so hatte ich nicht den geringsten Anhaltspunkt, bis Dicky Allertons Brief kam. Ashcroft im Auswärtigen Amt brachte meine Pässe in Ordnung, und ich ließ keine Zeit verstreichen, sondern vertauschte die weißen Möwen und roten Klippen Cornwalls schleunigst mit den Windmühlen und sauberen Kanälen Hollands.

Und jetzt lag in meiner Brusttasche die auf einem Stückchen billigen ausländischen Briefpapiers geschriebene Botschaft, derentwegen ich nach Groningen gefahren war. Aber der Inhalt war so nichtssagend, so sinnlos, so merkwürdig, daß ich schon meinte, meine Reise nach Holland sei vergeblich gewesen.

Ich hatte Dicky rundlich und blühend in seinem Internierungslager angefunden. Er wußte nur, daß Francis verschwunden war. Als ich ihm von meiner Begegnung mit dem Generalstabsoffizier im Bath-Club erzählte, von seinen Abschiedsworten und von meiner eigenen Meinung, pfiff er vor sich hin und sah mich dann ernst an.

»Ich werde dir erst mal eine Geschichte erzählen, Desmond«, fing er in seiner geraden, aufrichtigen Art, die keine Umschweife liebte, an; »und dann werde ich dir ein Stück Papier zeigen. Ob das beides mit deiner Theorie über Francis' Verschwinden zusammenhängt, magst du selber beurteilen. Ich muß gestehen, daß ich bis jetzt die scheinbare Beziehung dieses Dokuments zu deinem Bruder als eine bloß zufällige Übereinstimmung der Namen angesehen habe. Aber was du mir erzählt hast, macht die Sache interessanter, ja, bei Gott, das tut es. Na also, da hast du zuerst mal die Geschichte:

»Dein Bruder und ich hatten früher geschäftlich mit einem Holländer in Nymwegen zu tun, mit einem gewissen van Urutius. Er hat uns in alten Tagen öfter in Coventry besucht, und Francis ist auch ein- oder zweimal auf seiner Rückreise von Deutschland bei ihm gewesen. Nymwegen liegt ja, wie du weißt, ganz dicht an der deutschen Grenze. Der alte Urutius hat sich, seit ich hier in Gefangenschaft bin, sehr anständig zu mir benommen. Er war ein paarmal hier und hat mir meistens ein oder zwei Kisten von den schönen holländischen Zigarren mitgebracht.«

»Dicky«, unterbrach ich ihn ungeduldig, »erzähl' doch deine Geschichte schneller. Was hat denn das um's Himmels willen alles mit Francis zu tun? Das Dokument ...«

»Nur immer ruhig Blut, alter Junge!« war die unerschütterliche Antwort, »laß mich nur machen, ich komm schon noch zu dem Stück Papier ...

»Also der alte Urutius kam vor etwa zehn Tagen wieder her. Ich hatte ihm alles gesagt, was ich von Francis wußte, nämlich daß Francis eingerückt und vermißt war. Es ging ja den alten Herrn nichts an, daß Francis beim Geheimdienst arbeitete, daher habe ich ihm das nicht gesagt. Urutius meint es zwar mit den Engländern gut, aber Reden ist Silber, und Schweigen ist Gold, und was einer nicht weiß, kann er auch nicht ausplaudern.

»Also, wie gesagt, mein holländischer Freund tauchte vor zehn Tagen hier auf. Er war ganz außer sich vor Erregung. ›Mr. Allerton‹, sagte er, ›ich habe einen Brief bekommen, einen höchst geheimnisvollen Brief – ich glaube einen Brief von Francis Okewood.‹

»Ich hielt den Atem an. Wenn von irgendwo Enthüllungen zu erwarten waren, so von holländischer und nicht von britischer Seite. Das stand für mich fest.

»›Ich habe von Deutschland ein Paket mit Metallschildern bekommen‹, fuhr der alte Holländer fort, ›so – wie soll man sie nennen – Plättchen aus Blech, nicht?, die ich zu Reklamezwecken brauche. Sie kommen also vorige Woche an, – ich öffne das Paket eigenhändig und obenauf liegt ein Umschlag mit der Rechnung.‹

»Mynheer Urutius hielt inne: er scheint ein Gefühl für dramatische Pointen zu haben.

»›Na‹, sagte ich, ›hat Sie die Rechnung gebissen oder gesagt: Gott strafe England oder so was?‹

»Van Urutius überhörte meine ironische Bemerkung und fuhr fort: ›Ich öffnete den Umschlag, und bei der Rechnung fand ich diesen Zettel – hier!‹

»Und hier«, sagte Dicky und fuhr in seine Tasche, »hast du den ›Zettel‹!«

Damit drückte er mir einen halben Bogen ausländischen Briefpapiers in die begierig ausgestreckte Hand, einen von diesen dünnen, billigen und glänzenden Bogen, die man drüben in Cafés bekommt, wenn man um Schreibmaterial bittet.

Fünf in fließender deutscher Schrift und roter Tinte geschriebene deutsche Zeilen und darüber Name und Adresse von Mynheer van Urutius ..., das war alles.

Als ich das Schreiben gelesen hatte, ließ ich den Kopf traurig und enttäuscht sinken. Hier ist das Dokument:

 

Herrn Willem van Urutius, Automobilhandlung,
Nymwegen, Alexander-Straat 81

Berlin, 1. Juli 16

O Eichenholz! O Eichenholz!
Wie leer sind deine Blätter.

Wie Achiles in dem Zelte.

Wo zwei sich zanken
freut sich der Dritte.

 

Ich starrte schweigend auf dies sinnlose Geschreibsel. Meine Gedanken waren zu bitter, um sie in Worte zu kleiden.

Endlich sprach ich. »Was hat dieser ganze Quatsch mit Francis zu tun, Dicky?« fragte ich und suchte vergebens den bitteren Klang meiner Stimme zu mildern. »Das steht eher aus wie ein Sammelsurium von Sinnsprüchen für die Reklamekarten deines holländischen Freundes ...«

Aber dennoch versenkte ich mich wieder in das Studium der Verse.

»Man immer sachte, mein Junge«, erwiderte Dicky kühl; »laß mich meine Geschichte zu Ende erzählen, der alte Gauner ist nämlich gerissener als wir ahnen.

»›Als ich das gelesen habe‹, sagte er zu mir, ›dachte ich erst, es sei alles Stuß; aber dann habe ich mich gefragt: wer steckt denn so 'n Quatsch zu meinen Rechnungen? Und dann habe ich den Zettel immer wieder gelesen, bis ich gemerkt habe, daß es 'ne Botschaft sein soll.‹«

»Halt, Dicky!« rief ich dazwischen, »aber natürlich, was bin ich doch für 'n Esel! Eichenholz ist ja ...«

»Stimmt«, entgegnete Dicky, »Eichenholz heißt ins Englische übersetzt › Oak-tree‹ oder › Oak-wood‹ – mit anderen Worten: ›Francis Okewood‹, wie der alte Mynheer als Erster herausgefunden hat.«

»Dann also ...« unterbrach ich ihn.

»Einen Augenblick«, sagte Dicky und hob die Hand, »ich gestehe, daß ich auf den ersten Blick gemeint habe, es handle sich bei dieser Botschaft, oder was es auch sein mag, nur um eine zufällige Namensübereinstimmung, irgend jemand hätte das hingekritzelt und versehentlich in van Urutiuses Kuvert hineingesteckt. Aber jetzt, wo du mir gesagt hast, daß Francis sich vielleicht wirklich in Deutschland aufhält, sieht es allerdings so aus, als wolle er auf die Weise versuchen, mit der Heimat in Verbindung zu treten.«

»Wo kam denn das Paket deines Holländers her?«, fragte ich.

»Aus der Berliner Metallwarenfabrik in Steglitz: er steht seit Jahren mit der Firma in Verbindung.«

»Aber was kann denn dann das andere nur bedeuten ... das von Achilles und alles übrige?«

»Tja, Desmond«, erwiderte Dicky, »da fragst du nicht nur mich zuviel, sondern auch Mynheer van Urutius.«

»›Oh, Eichenholz! Oh, Eichenholz, wie leer sind deine Blätter‹, das klingt doch wie Hohn, findest du nicht auch Dicky?«, fragte ich.

»Oder das Eingeständnis eines Mißerfolgs von Francis ... um uns wissen zu lassen, daß er nichts getan hat und außerdem noch schlechter Laune ist ›wie Achilles in seinem Zelt‹.«

»Aber sieh mal her, Richard Allerton«, sagte ich, »Francis würde doch nie auf die Idee kommen, ›Achilles‹ mit einem ›l‹ zu schreiben ... stimmt's?«

»Wahrhaftig!« sagte Dicky und blickte wieder auf das Blatt Papier. »Das kann nur ein ganz ungebildeter Mensch so schreiben. Ich verstehe zwar kein Deutsch, aber sag mal, ist das die Handschrift eines gebildeten Deutschen? Ist das Francis' Handschrift?«

»Gewiß, es ist eine geübte Handschrift«, erwiderte ich, »aber der Teufel soll mich holen, wenn ich sagen kann, ob das Francis' deutsche Schrift ist: Ich glaube es aber kaum, denn wie ich schon bemerkt habe, steht hier ›Achilles‹ mit einem ›l‹.«

Damit standen wir vor einem neuen Rätsel. Wir saßen hilflos da und starrten auf das schicksalsvolle Blatt Papier.

»Da gibt's nur eins zu tun, Dicky«, sagte ich schließlich, »ich werde das geheimnisvolle Etwas mit nach London nehmen und es dem Geheimdienst übergeben. Kann ja sein, daß Francis eine Geheimschrift mit den Leuten da ausgemacht hat, vielleicht sehen die klar, wo wir im Dunkeln tasten.«

»Desmond«, sagte Dicky und gab mir die Hand, »das ist der vernünftigste Einfall, den du bisher gehabt hast. Fahr nach Hause, und viel Glück. Versprich mir aber, daß du zurückkommst und mir erzählst, ob dies Stück Papier die Nachricht enthält, daß unser guter alter Francis am Leben ist.«

Ich verließ Dicky, aber nach Hause fuhr ich nicht. Ich sollte England viele anstrengende Wochen lang nicht sehen.


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