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9. Kapitel.
Kaiser Wilhelm

Ich stand dem Kaiser gegenüber. Er stand in der Mitte des Zimmers, der Tür gegenüber: breitbeinig, mit beiden Füßen fest auf der Erde, eine Hand hinterm Rücken, die andere, die verkrüppelt war, in der Seitentasche seines Waffenrocks vergraben. Er trug eine vollkommen schmucklose feldgraue Uniform, und die ungewohnte Einfachheit seiner Kleidung im Verein mit der Tatsache, daß er barhäuptig war, verlieh ihm ein so anderes Aussehen als auf seinen Bildern in vollem Kriegsstaat, daß ich ihn kaum erkannt hätte – so paradox das auch klingen mag – wenn nicht jeder einzelne Zug dieses einst so vertrauten Gesichts tiefste Zerrüttung verraten hätte.

Nur ein einziger Mensch auf der Welt konnte heutzutage so aussehen. Nur ein einziger Mann auf der Welt konnte heute durch den Verfall in seinem Gesicht zeigen, wie die unerträgliche Last der Verantwortung eine der stärksten und elastischsten Persönlichkeiten Europas langsam erdrückte. Seine früher so aufrechte und festgefügte Gestalt schien zusammengeschrumpft zu sein, und sein kranker Arm, der unnatürlich in der Tasche steckte, nahm eine Bedeutung an, die diesem grauen und zerquälten Gesicht etwas Unheimliches verlieh.

Sein Kopf hing tief auf die Brust herab. Sein von jeher außerordentlich bleiches, in seiner olivenfarbenen Tönung beinahe italienisches Gesicht war aschfahl. Von all seiner Lebendigkeit war nichts mehr zu spüren. Sein Haar war grau, stahlgrau, aber an den Schläfen war es weiß wie frisch gefallener Schnee. Nur seine Augen waren unverändert, waren immer noch die gleichen grauen, stahlharten, unsteten Augen, die des Mannes impulsiven, wankelmütigen und launischen Geist widerspiegelten.

Er sah mich prüfend an. Eine tiefe Falte stand auf seiner Stirn, und seine Augen blitzten. In der kurzen Sekunde, in der ich ihn anschaute, fiel mir ein Satz ein, den ein Freund von mir gebraucht hatte, nachdem er den Kaiser einmal in übler Laune gesehen hatte: »Sein schwarzer, eiskalter Blick.«

Ich war so verblüfft, mich dem Kaiser gegenüber zu finden, daß ich meine Rolle vergaß und entgeistert auf die Erscheinung da vor mir starrte. Der Kaiser war offenbar zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um meine Verwirrung zu bemerken, denn er fing sofort majestätisch, im harten Ton zu sprechen an: »Was höre ich da?« fragte er. »Warum ist Grundt nicht gekommen? Was machen Sie hier?«

Ich hatte inzwischen die Fabel ausgearbeitet, die ich draußen auf dem Korridor zu erzählen begonnen hatte. Jetzt stand sie fix und fertig in meinem Kopf: sie war zwar dürftig, aber sie mußte herhalten: »Wenn Eure Majestät gestatten, werde ich alles erklären«, sagte ich. Der Kaiser wippte nervös und gereizt auf seinen Füßen hin und her. Seine Augen standen keinen Augenblick lang still. Bald blickten sie mir prüfend ins Gesicht, bald sanken sie zu Boden, bald flogen sie zur Decke empor.

»Doktor Grundt und ich haben gefunden, was wir suchten, obgleich das Unternehmen sehr gefährlich war. Wie Eure Majestät ja wissen, ist der Gegenstand in zwei Teile geteilt worden ...«

»Ja, ja, ich weiß! Nur weiter!«, sagte er.

»Ich hatte England mit meiner Hälfte zuerst verlassen sollen. Aber ich kam nicht hinaus. In Tilbury wird jeder strengstens nach Briefen und Papieren untersucht. Ich habe einen Plan entworfen, wir haben ihn auch ausprobiert, aber er mißlang.«

»Was? Mißlungen?«, schrie der Kaiser.

»Ohne daß der Erfolg unseres Auftrags dadurch gelitten hätte, Majestät.«

»Erklären Sie! Was war das für ein Plan?«

»Ich habe ein Stück Futter aus einem Handkoffer ausgeschnitten und einen vollkommen harmlosen, an einen Schiffsreeder in Rotterdam adressierten Brief da hineingewickelt. Dann habe ich das Stück Futter wieder in die Tasche eingeklebt. Diese Tasche hat nun Dr. Grundt einem unserer Leute versuchsweise mitgegeben, um festzustellen, ob der Kniff der Wachsamkeit der englischen Polizei entgehen würde.«

Der Kaiser schien warm zu werden, und seine Laune wurde sichtlich besser. Alles Neue hatte einen Reiz für ihn.

»Na und?«, fragte er.

»Die List wurde entdeckt, der Brief gefunden, und unser Mann mußte zwanzig Pfund Geldstrafe bezahlen. Da beschloß Doktor Grundt, mich zu schicken ...«

»Haben Sie es bei sich?«, fragte er begierig.

»Nein, Majestät«, sagte ich. »Ich hatte keine Möglichkeit, es fortzuschaffen. Doktor Grundt andererseits ...« Ich hob ein Bein in die Höhe und berührte meinen Fuß.

Der Kaiser starrte mich an, und die Falte zwischen seinen Augen kam wieder zum Vorschein. Dann taute sein Gesicht auf. Ein warmes, anziehendes Lächeln, wie Sonnenschein nach Regen, zeigte sich um seinen Mund, und er brach in schallendes Gelächter aus. Ich wußte, wie sehr Seine Majestät für Witze auf Kosten der physischen Gebrechen anderer Leute empfänglich war. Aber ich hatte kaum zu hoffen gewagt, daß meine leise Anspielung auf Doktor Grundts Klumpfuß als Versteck für kompromittierende Papiere solchen Erfolg haben würde. Der Kaiser war geradezu begeistert von der Idee und hielt sich die Seiten vor Lachen.

»Ach, der Klumpfuß! Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!«, rief er aus. »Plessen, kommen Sie her und hören Sie sich mal an, wie wir die Engländer wieder reingelegt haben!«

Wir befanden uns in einem langgestreckten, luftigen Zimmer mit einem großen Fenster an der Rückwand, wo das Zimmer sich T-förmig nach links und rechts auszudehnen schien. Dem großen Schreibtisch mit den vielen Photographien in schweren Silberrahmen, den kleinen Bronzebüsten der Kaiserin und den Aquarell-Seestücken nach zu schließen, war es das Arbeitszimmer des Kaisers. Auf den Ruf des Monarchen hin tauchte ein weißhaariger Offizier aus dem hinteren Teil des Zimmers, der meinem Blick verborgen war, auf und näherte sich uns.

Der Kaiser legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ein glänzender Witz, Plessen!«, sagte er kichernd. Dann fuhr er zu mir gewandt fort: »Erzählen Sie's nochmal!«

Ich hatte mich jetzt in meine Geschichte hineinerzählt. Mit so trockenem Humor wie möglich schilderte ich, wie der dicke, massive und unbeholfene Doktor Grundt mit dem in seinem Stiefel verstauten Dokument vor der Nase der britischen Polizei an Bord des Dampfers in Tilbury herumhumpelte.

Der Kaiser begleitete meine Erzählung mit stürmischem Gepruste und unterstrich die Komik der Pointe durch Rippenstöße, die er dem General versetzte.

Plessen lachte sehr herzlich, wie man es ja auch von ihm erwartet hatte. Dann sagte er verbindlich: »Ist denn aber die Kriegslist gelungen, Majestät?«

Der Monarch runzelte die Stirn und sah mich an: »Na, junger Mann, ist es geglückt?«

»... weil nämlich«, fuhr Plessen fort, »Grundt doch unter diesen Umständen in Holland sein müßte, und wenn das der Fall ist, warum ist er dann nicht hier?«

Das Herz sank mir in die Hosen. Jetzt hieß es vor allen Dingen, Haltung bewahren. Die kleinste Spur von Verlegenheit – und ich war verloren. Dennoch fühlte ich, wie das Blut mir aus den Wangen wich, ich war froh, daß ich im Schatten stand.

Da klopfte es an die Tür. Der ältere Kammerherr, der vorhin draußen mit mir gesprochen hatte, tauchte auf.

»Euer Majestät werden verzeihen, General Baron von Fischer ist hier zum Bericht ...«

»Gleich, gleich«, antwortete der Kaiser gereizt. »Ich bin jetzt gerade beschäftigt ...«

Der alte Höfling blieb einen Augenblick unentschlossen stehen.

»Na, was ist denn?«

»Depeschen vom Hauptquartier, Majestät! Der General bat mich, zu sagen, daß die Sache dringend sei!«

Der Kaiser überlegte einen Augenblick. »Bringen Sie ihn herein!« Dann fügte er zu Plessen gewandt mit einer Stimme, aus der alle Lustigkeit verschwunden war, hinzu: »Um diese Zeit, Plessen? Wenn es wieder an der Somme schief gegangen ist?«

Ein Offizier trat rasch ein. Den Helm in der Hand, eine Aktentasche unterm Arm, das Gesicht starr. Der Kaiser ging durch das Zimmer hindurch zu seinem Schreibtisch und setzte sich nieder. Plessen und der Andere folgten ihm. Ich blieb, wo ich war. Sie schienen mich ganz vergessen zu haben.

Ein Murmeln erhob sich vom Schreibtisch her. Der Offizier erstattete Bericht. Dann schien ihn der Kaiser auszufragen, denn ich vernahm seine harte, metallische Stimme:

»Contalmaison ... schwere Verluste ... zurückgeschlagen ... schreckliches Artilleriefeuer ...« waren die Worte, die zu mir drangen. Die Stimme des Kaisers klang gereizt. Plötzlich stieß er die Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, von sich und rief aus:

»Einfach schändlich! Ich werde ihn verabschieden! Er soll keinen einzigen Mann mehr bekommen, und sollte ich selber hingehen und seinen Leuten die Flötentöne beibringen!«

Plessen verließ seinen Platz am Schreibtisch und kam auf mich zugerannt. Sein Greisengesicht war schlohweiß, und seine Hände zitterten.

»Gehen Sie hinaus«, sagte er erregt. »Warten Sie draußen, ich werde später mit Ihnen sprechen.« Noch immer drang vom Schreibtisch her die harte Stimme, die in aufsteigender Skala einen Schwall wütender Drohungen ausstieß.

Ich hatte schon oft von den plötzlichen Wutanfällen gehört, an denen der Kaiser seit ein paar Jahren litt, aber nie hatte ich es mir träumen lassen, daß ich jemals einen als Augenzeuge erleben würde. Ich war heilfroh, die mit Spannung schwer geladene Atmosphäre des kaiserlichen Arbeitszimmers mit der Stille des Korridors draußen vertauschen zu dürfen. Die Ruhe, die hier herrschte, war Balsam für meine zitternden Nerven. Von dem Mann in Grün war nichts zu sehen. Nur der Feldgraue stand nach wie vor Wache.

Wieder handelte ich vollkommen impulsiv. Ich hatte meinen grasgrünen Regenmantel an; den Hut trug ich in der Hand. Man konnte mich daher leicht für Jemanden halten, der das Schloß gerade verläßt. Ohne einen Augenblick zu zögern, wandte ich mich nach links und tauchte bald wieder unter in dem Labyrinth von Galerien, Korridoren und Treppenabsätzen, durch das mich der Mann in Grün geführt hatte. Nicht lange, so hatte ich mich verirrt und beschloß daher, die nächste Treppe, auf die ich stoßen würde, hinunterzugehen. Gesagt, getan. Endlich gelangte ich in einen kleinen Vorraum, in dem ein Schloßdiener in mächtigem, adlergeschmückten Mantel auf einem Stuhl saß und Zeitung las.

Er hielt mich auf und fragte mich, wo ich herkäme. Ich sagte ihm, ich käme aus den Privatgemächern des Kaisers, woraufhin er meinen Passierschein zu sehen wünschte. Ich zeigte ihm meine kupferne Marke, die ihn vollständig zu befriedigen schien, obgleich er irgend etwas von »neuen Gesichtern« murmelte und daß er mich noch nie gesehen hätte. Ich fragte ihn nach dem Ausgang. Er sagte, am Ende der Galerie käme ich zur westlichen Eingangstür. Da erinnerte ich mich, daß ich dort meinem Mentor in die Arme laufen würde. Ich sagte dem Mann daher, ich wolle zum anderen Ausgang, wo mein Wagen auf mich wartete.

»Sie meinen den Südausgang?«, fragte er und gab mir Anweisungen, die mich ohne weitere Schwierigkeiten auf den freien Platz führten, auf dem sich das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. befindet.

Die Nacht war klar, und man sah die Sterne am Himmel. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich den Schloßplatz im kalten Licht der Bogenlampen vor mir liegen sah. Wie befreiend wirkte die frische Nachtluft nach der bedrückenden Atmosphäre im Schloß. Trotz der Gefahren, die mich auch jetzt noch auf Schritt und Tritt bedrohten, wagte ich hier draußen wieder zu hoffen. Meine Situation war ja allerdings brenzlig. Mein Verschwinden aus dem Schloß mußte zweifellos Verdacht erwecken, und es war nur eine Frage von Stunden, wann die Suche nach mir beginnen würde. Bestenfalls würde man damit warten, bis der Klumpfuß im Schloß anlangte.

In Berlin konnte ich nicht bleiben, das war mir klar. Mein amerikanischer Paß war nicht in Ordnung, und wenn ich mich auf meine kupferne Marke verließ, so lief ich Gefahr, mit der Polizei in Berührung zu kommen, was alle möglichen unangenehmen Folgen haben könnte. Nein, ich mußte um jeden Preis aus Berlin hinaus. Weit weg von der Hauptstadt würde mir vielleicht mein kupfernes Abzeichen noch gute Dienste leisten oder mir Papiere verschaffen, die mich legitimieren könnten.

Aber Francis? So unbegreiflich mir auch das deutsche Gereime auf dem Zettel von Urutius erschien, eine innere Stimme sagte mir, daß es sich hier trotz allem um eine Botschaft von meinem Bruder handelte. Sie war aus Berlin datiert. Und ich hatte das sichere Gefühl, daß das Rätsel einzig und allein hier seine Lösung finden würde.

Ich war jetzt Unter den Linden. Aufs Geratewohl betrat ich ein Café und bestellte mir ein Glas Bier. Das Lokal war hell erleuchtet, und blauer Tabaksqualm hing über den Köpfen der Gäste. Eine lärmende Musikkapelle spielte populäre Schlager, und an allen Tischen war eine lebhafte Unterhaltung im Gange. Der Radau hier drin tat mir nach den Aufregungen der vorangegangenen Stunden wohl.

Ich zog das Stück Papier von Urutius aus der Tasche, das mir Dicky gegeben hatte und fing an, es noch einmal zu studieren. Ich war noch keine zwölf Stunden in Deutschland, aber ich wußte bereits, daß jemand, dessen Papiere nicht in Ordnung waren, das Land nie wieder würde verlassen können. Wenn er Glück hatte, konnte er sich hier durchschwindeln, aber über die Grenze kam er nicht.

Gesetzt den Fall, das wäre Francis passiert (wie der mit den roten Streifen ja auch tatsächlich angedeutet hatte), was würde er dann wohl unternehmen? Er würde versuchen, irgendeine Botschaft hinauszuschmuggeln, die von seinem Mißgeschick berichtete. Ja, so würde ich unter ähnlichen Umständen gewiß auch handeln.

Also ich wollte dieses Stückchen Papier einmal als Botschaft von Francis ansehen:

»Oh, Eichenholz! Oh, Eichenholz!
Wie leer sind deine Blätter.
Wie Achiles in dem Zelte.
Wo zwei sich zanken,
freut sich der Dritte.«

Die Botschaft zerfiel in drei Teile, und jede bestand aus einem Satz. Der erste Satz sollte zweifellos andeuten, daß Francis Mißerfolg gehabt hatte.

» Oh, Oakewood! Wie leer sind deine Blätter!« Was besagten nun aber die beiden anderen Sätze?

Sie waren kurz und einfach. Die darin enthaltene Botschaft konnte keinesfalls ausführlich sein. Daß sie sich auf Francis' Mission in Deutschland bezog, war nicht anzunehmen. Nein, gewiß nicht. Es war mehr als unwahrscheinlich, daß mein Bruder einem Holländer wie van Urutius, einem zwar wohlwollenden Menschen, den er aber doch nicht näher kannte, einen derartigen Bericht schicken würde.

Die in diesen zwei Sätzen enthaltene Botschaft mußte Francis' Person und sein Wohlergehen betreffen, davon war ich überzeugt. Was hatte er wohl sagen wollen? Daß er verhaftet war, daß er erschossen werden würde? Möglich. Aber wahrscheinlicher war es doch, daß er die paar Zeilen geschrieben hatte, um sein Stillschweigen zu erklären und Hilfe zu fordern.

Meine Augen fielen unentwegt auf den letzten Satz:

»Wenn zwei sich zanken,
freut sich der Dritte.«

Sollten diese Zahlen sich nicht etwa auf die Nummer einer Straße beziehen? Sollte nicht vielleicht in diesen beiden Sätzen eine Adresse versteckt sein, unter der man Francis finden oder schlimmstenfalls etwas von ihm hören könnte?

Ich ließ mir ein Berliner Adreßbuch kommen. Ich schlug das Straßenregister auf und überflog alle unter A fallenden Spalten. Aber ich fand nicht, was ich suchte, nämlich eine Achillesstraße. Weder mit einem noch mit zwei »l«.

Dann probierte ich es mit »Eichenholz«. Es gab eine Eichenallee in Westend, aber das war auch alles. Ich schlug bei »Blätter« nach, suchte eine »Blattstraße«, doch ebenfalls mit negativem Resultat.

Die Arbeit war recht entmutigend, aber ich ließ nicht locker. Das einzige übrigbleibende Wort, das noch auf eine Straße deuten konnte, war das Wort »Zelt«.

»Wie Achiles in dem Zelte.«

Ohne allzu große Hoffnung schlug ich das Register bei »Z« auf.

Da starrte mich eine Straße an, die »In den Zelten« hieß.

Ich hatte endlich eine Spur gefunden.

Der Plan klärte mich darüber auf, daß die Straße »In den Zelten« hieß, weil früher eine Anzahl von Biergärten und Buden diese Gegend im nördlichen Teil des Tiergartens eingenommen hatte. Die Straße war nicht lang. Dem Plan nach hatte sie nur 56 Häuser, von denen einige noch immer Biergärten waren. Es schien eine vornehme Straße zu sein, denn die meisten Bewohner waren adlig. Nr. 3 wurde zu meinem Erstaunen immer noch als Berliner Büro der »Times« geführt.

Der letzte Satz des Gedichts gab offenbar die Nummern an. »Zwei« bezog sich wahrscheinlich auf die Hausnummer, »der Dritte« auf das Stockwerk.

Aber die Lösung für »Achiles« zu finden, das gab ich auf.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten nach elf: zu spät, um jetzt noch mit der Suche zu beginnen. Da kam mir plötzlich zum Bewußtsein, wie erschöpft ich war. Ich hatte zwei Nächte lang nicht geschlafen, denn bei der Überfahrt nach Holland war ich auf Deck geblieben, und die vielen Abenteuer, die ich seit meiner Abfahrt aus London erlebt hatte, hatten alle Gedanken an Müdigkeit in mir verdrängt. Jetzt aber kam die Reaktion, und ich sehnte mich nach einem heißen Bad und einem behaglichen Bett. Zu dieser Stunde der Nacht ohne Gepäck und mit einem amerikanischen Paß, der nicht in Ordnung war, in ein Hotel gehen, das hieße das Verderben heraufbeschwören. Es sah so aus, als sollte ich mich die ganze Nacht in Lokalen herumdrücken müssen, dann das Geheimnis der Straße »In den Zelten« ergründen und darauf Berlin so schnell wie möglich den Rücken kehren.

Aber mein Kopf war schwer von Müdigkeit. Ich mußte mich zusammenreißen. Schwarzer Kaffee würde gut tun, dachte ich und hob den Blick, um einen Kellner zu rufen. Da fielen meine Augen auf die elegante Gestalt und das blasse Gesicht des einarmigen Offiziers, dem ich im Kasino in Goch begegnet war ..., den jungen Leutnant Schmalz.

Er hatte das Café soeben betreten und blickte sich suchend im Lokal um. Mir war nicht gerade sehr behaglich zumute, als ich seiner ansichtig wurde, denn das Kreuzverhör fiel mir ein, das er in Goch mit mir angestellt hatte. Aber ich konnte ja nicht fortgehen, ohne zu zahlen, und überdies versperrte er den Weg zur Tür.

Ehe ich Entschlüsse fassen konnte, kam er auch schon geradewegs auf meinen Tisch zu. »Guten Abend, Herr Doktor«, sagte er auf deutsch und lächelte liebenswürdig, »das ist ja wirklich eine unverhoffte Freude! Sie sehen sich also an, wie wir armen Deutschen uns in Kriegszeiten amüsieren. Allzu traurig geht es hier nicht zu, nicht wahr? Gestatten Sie?«

Ohne auf Antwort zu warten, setzte er sich an meinen Tisch und bestellte ein Glas Bier.

»Schade, daß Sie nicht früher gekommen sind«, sagte ich so verbindlich ich konnte, »ich bin nämlich gerade im Begriff zu gehen. Ich habe eine lange und ermüdende Reise hinter mir und möchte so schnell wie möglich in ein Hotel kommen.«

Kaum war mir das Wort entfahren, als mir mein Lapsus zu Bewußtsein kam.

»Sie haben noch kein Hotel?«, sagte Schmalz, »ach, nanu. Ich übrigens auch nicht. Da Sie in Berlin fremd sind, müssen Sie mir schon erlauben, Ihren Führer zu spielen. Wir gehen zusammen in ein Hotel, ist es Ihnen recht?«

Ich wollte ablehnen, so schwer es auch war, eine plausible Ausrede zu finden, aber sein Benehmen war so freundschaftlich, sein Angebot schien so aufrichtig, daß ich mich überreden ließ. Dieser offene, hübsche Junge hatte wirklich etwas Gewinnendes, und ich war so hundemüde!

Er bemerkte meinen Widerstand, aber auch meine Unentschlossenheit.

»Wir können in jedes Hotel gehen, das Sie wollen«, sagte er – »aber Ihr Amerikaner seid ja in puncto elegante Hotels verwöhnt. Doch wir in Berlin sind auch nicht rückständig in dieser Beziehung. Wie wäre es mit dem Esplanade? Es ist ein erstklassiges Hotel, gehört der Hamburg-Amerika-Linie. Ich bin da ganz gut bekannt, richtig »Kind des Hauses«, mein Onkel war mal Kapitän auf einem ihrer Schiffe. Man wird es uns dort schon sehr behaglich machen: ich bekomme immer ein kleines Appartement, Schlafzimmer, Wohnzimmer und Bad; das werde ich Ihnen auch verschaffen.«

Wäre ich nicht so sterbensmüde gewesen, so wäre ich wohl eher aufgestanden und aus dem Café geflohen, als solch einen verrückten Vorschlag anzunehmen. Aber schlaftrunken wie ich war, ergriff ich diese Gelegenheit ein Bett zu bekommen, denn ich meinte, daß ich unter dem Schutz des jungen Offiziers meines Passes wegen nicht behelligt werden würde. Wenn man morgen früh danach fragte, wäre ich schon über alle Berge. Ich nahm also Schmalz' Vorschlag an.

»Übrigens, ich habe kein Gepäck«, sagte ich, »meine Tasche ist am Bahnhof irgendwo abhanden gekommen, und ich habe wirklich keine Lust, sie heute abend noch zu suchen.«

»Ich kann Ihnen schon mit allem Nötigen aushelfen«, erwiderte der Andere bereitwillig. »Ich habe echt amerikanische Pyjamas. Übrigens«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, »ich hielte es für ratsamer, deutsch zu sprechen. Englisch wird augenblicklich in Berlin nicht gern gehört.«

»Ich verstehe vollkommen«, sagte ich. Und um das Thema zu ändern, das mir nicht gerade sehr lieb war, fügte ich hinzu:

»Sie sind aber schnell nach Berlin gekommen! Per Eisenbahn?«

»Oh, nein«, erwiderte er, »ich kam zufällig dahinter, daß der Wagen, in dem Sie zum Bahnhof gefahren sind ... er gehörte nämlich dem Herrn, der Sie abgeholt hat ... nach Berlin zurückfahren wollte, und da habe ich den Chauffeur gebeten, mich mitzunehmen.«

Er sagte das ganz leichthin in seinem gewohnten aufrichtigen Ton, aber ich bereute jetzt doch, daß ich mich hatte überreden lassen, ihn ins Esplanade zu begleiten. Womöglich wußte er mehr, als er sich den Anschein gab.

Doch ich verscheuchte den Verdacht bald.

»Unsinn«, sagte ich mir, »du siehst ja Gespenster, außerdem kannst du jetzt nicht mehr zurück!«

Wir stritten uns freundschaftlich darum, wer für die Getränke zahlen sollte, und schließlich zahlte ich. Dann, nach langem Warten, bekamen wir endlich eine Droschke, einen uralten Kasten mit einem achtzigjährigen Kutscher, und fuhren ins Esplanade.

Das war nun ein richtiger Palast mit einem prachtvollen Vestibül, dessen Wände und Fußboden aus verschiedenfarbigem Marmor bestanden, und wo Palmen einen kleinen, in ein Jadebassin plätschernden Springbrunnen beschatteten. Der Empfangschef begrüßte uns mit überströmender Liebenswürdigkeit, und nach ein paar konventionellen Redensarten führte er uns in ein Doppelappartement im Zwischenstock, das aus zwei Schlafzimmern mit einem gemeinsamen Bad und Wohnzimmer bestand.

Der Mann hatte einen tadellos sitzenden Smoking an und machte wirklich einen tipptoppen Eindruck. Das Gepäck des amerikanischen Herrn sollte morgen früh geholt werden. Die Papiere des Herrn? Ach, das hatte keine Eile; der Herr Leutnant würde seinem Freunde schon erklären, wie sie ausgefüllt werden müßten. Der Herr könnte sie ja morgen früh dem Kellner geben. Wünschte der Herr noch irgend etwas zu sich zu nehmen? Einen Whisky-Soda – Ah! der Whisky wurde jetzt rar. Nein? Nichts? Er hatte die Ehre, den Herrschaften angenehme Ruhe zu wünschen.

Wir gingen hintereinander zum Lift. Der Empfangschef voran, dann ein Kellner, dann wir selber, und der goldbetreßte Hotelportier bildete die Nachhut. In der Halle saßen nur zwei Personen, die von einer Schar von Kellnern umgeben waren. Das ganze Haus machte einen wohlhabenden, luxuriösen Eindruck und war mit den Ideen, die man in England über die Wirkungen der Blockade hatte, keineswegs in Einklang zu bringen. Ich konnte das traurige Gefühl nicht unterdrücken, daß Deutschland den Druck nicht sehr zu spüren schien.

Beim Lift wurden wir einem Fahrstuhlführer übergeben, einem pompös gekleideten Kerl, der aussah wie einer von der päpstlichen Garde. Im Handumdrehen waren wir im Zwischenstock. Der Leutnant führte durch den trübe beleuchteten Korridor.

»Hier ist das Wohnzimmer«, sagte er, eine Tür öffnend. »Das hier ist mein Zimmer, dies das Badezimmer und hier«, er riß eine Tür auf, »ist Ihr Zimmer!«

Er trat beiseite, um mich hineinzulassen. Im Zimmer brannte helles Licht. In einem Sessel saß ein großer Mann im Mantel.

Er hatte ein massiges, eckiges Gesicht und einen Klumpfuß.


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