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Hier klopfte das Schicksal an die Tür. In dem Augenblick stand mein Entschluß fest. Fürs Erste wenigstens hatte ich alle Trümpfe in der Hand. Ich würde diese Leute schon bluffen. Ich würde meine Rolle frech durchführen: von jetzt an war ich Semlin und wollte es bis zum bitteren Ende bleiben, und sollte es mich auch ans Tor der Hölle führen.
Es klopfte noch einmal.
»Darf man hinein?«, sagte eine Frauenstimme auf deutsch.
Ich trat über die Leiche hinweg und öffnete die Tür einen Spalt weit.
Da stand eine Frau. Sie war in mittleren Jahren und hatte ein ovales, weißes, fettes und gedunsenes Gesicht und blasse, verschlagene Augen. Sie trug einen riesengroßen, ordinären Hut und ein altmodisches Sealcape mit hohem Kragen. Das vom Regen triefende Cape stand halb offen und enthüllte einen üppigen, in eine weiß seidene Bluse gezwängten Busen. In einer Hand trug sie eine Petroleumlampe.
»Frau Schratt«, stellte sie sich vor, und hob die Lampe hoch, um mich näher zu betrachten.
Dann sah ich, wie ihr Gesichtsausdruck sich veränderte. Sie blickte an mir vorbei ins Zimmer, und ich wußte, daß das Lampenlicht voll auf das abscheuliche Etwas da unten auf der Erde fiel.
Ich ahnte, daß die Frau drauf und dran war zu schreien, und packte sie daher am Handgelenk. Sie hatte Hände mit dicken, kurzen, ringgeschmückten Fingern.
»Ruhe!«, flüsterte ich ihr erregt ins Ohr und hielt ihre Gelenke weiter fest umklammert. »Sie werden ganz still sein und hereinkommen, verstanden?«
Sie versuchte sich loszureißen, aber ich gab sie nicht frei und zog sie ins Zimmer herein.
Sie stand mit ihrer Lampe regungslos neben dem Kopf des Leichnams, schien aber ihre Fassung wieder gefunden zu haben. Nein, die Frau hatte keine Angst mehr. Ich spürte instinktiv, daß sie nur an sich selbst gedacht hatte, nicht etwa an den bleichen Toten da unten. Als sie anfing zu sprechen, war ihr Benehmen beinahe geschäftsmäßig.
»Davon hat man mir nichts gesagt«, fing sie an. »Wer ist es denn? Was wollen Sie, daß ich tue?«
Keines von allen Erlebnissen dieser Nacht hat einen so krassen Eindruck bei mir hinterlassen, wie das Benehmen dieser Frau in dem Sterbezimmer. Ihre Stimme klang unglaublich hart. Ihre trüben Basiliskenaugen, die in meinen die Antwort auf ihre Frage suchten, waren mir so unheimlich, daß es mir noch immer kalt über den Rücken läuft, wenn ich an sie denke.
Da, auf einmal, war ihr unverschämtes, arrogantes, grausames Benehmen wie verwandelt. Sie wurde höflich. Unterwürfig. Die Art von früher hatte wesentlich besser zu ihr gepaßt. Sie sah mich seltsam, beinahe demütig an und sagte mit girrender Stimme:
»Ach so! Das wußte ich ja nicht. Der Herr müssen schon entschuldigen.«
Und noch einmal säuselte sie:
»Soso!«
Da erst bemerkte ich, daß ihre Augen auf meine Brust geheftet waren. Ich folgte ihrem Blick.
Sie ruhten auf dem kupfernen Abzeichen, das ich mir an die Hosenträger gesteckt hatte.
Jetzt verstand ich und hielt den Mund. Schweigen war mein einziger Trumpf, solange ich noch nicht im Bilde war. Wenn ich diese Frau machen ließ, würde sie mir schon selber alles erzählen, was ich erfahren wollte.
Tatsächlich fing sie auch wieder an zu sprechen.
»Sie habe ich erwartet«, sagte sie, »aber das hier nicht. Wer ist es denn diesmal? Wohl ein Franzose, wie?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ein Engländer«, sagte ich kurz.
Sie riß die Augen erstaunt auf.
»Ach nein!« rief sie aus, und es schien beinahe, als ob ihre Stimme vor Vergnügen vibrierte. »Ein Engländer! Ei, ei!« Sie leckte sich die Lippen vor Begeisterung.
Dann schüttelte sie den Kopf und sagte noch einmal vor sich hin: »Ei, ei!«
»Es is der Erste, den wir haben«, fügte sie hinzu, wie um eine Erklärung für ihre Überraschung zu geben. »Sie haben ihn hierhergebracht, wie? Aber warum denn hier rauf? Oder hat ihn der Dr. Grundt geschickt?«
Sie bombardierte mich mit diesen Fragen hintereinander, ohne auf Antwort zu warten. Dann fuhr sie fort:
»Ich war nicht zu Hause, aber Karl hat's mir erzählt. Es is noch einer gekommen, den Franz geschickt hat.«
»Das ist der hier«, sagte ich. »Ich habe ihn ertappt, wie er in meinem Zimmer herumschnüffelte, und da ist er gestorben.«
»Ach!« stieß sie hervor ... Und in ihrer Stimme lag die ganze Welt von Bewunderung, die eine deutsche Frau für brutale Männer empfindet ... »Der Herr Engländer is also in Ihr Zimmer gekommen und gestorben. So, so! Aber man muß mal mit Franz reden. Der Mann trinkt zuviel. Er is immer betrunken. Macht lauter Fehler. Das geht nicht. Ich werde ...«
»Ich wünsche, daß Sie nichts gegen Franz unternehmen«, sagte ich, »dieser Engländer sprach ausgezeichnet deutsch. Karl wird es Ihnen bestätigen.«
»Wie der Herr wünschen«, erwiderte die Frau mit einer so honigsüßen, unterwürfigen Stimme, daß mir übel wurde.
Gräßliche Schlampe! dachte ich im stillen, als ich sie so fett, schleimig und abscheulich dastehen sah.
»Hier ist der Paß und die übrigen Papiere«, sagte ich, beugte mich nieder und nahm sie aus der Tasche des Toten heraus. »Er war englischer Offizier, sehen Sie«, und ich schlug das kleine schwarze Büchlein mit dem Königlichen Wappen auf.
Sie neigte sich vor, und der schale Patschuligeruch, mit dem ihr welker Körper durchtränkt war, widerte mich an.
Dann faltete ich Paß und Einreiseerlaubnis zusammen und hielt sie über die Kerzenflamme.
»Aber wir heben sie doch immer auf!«, warf die Hotelbesitzerin vorwurfsvoll ein.
»Dieser Paß muß mit dem Manne sterben«, erwiderte ich fest. »Seine Spur darf nicht gefunden werden. Ich will alle peinlichen Nachfragen vermeiden. Verstehen Sie? Darum ...« Und ich warf die brennenden Papiere in den Kamin.
»Schön, schön!«, sagte die Deutsche und stellte ihre Lampe auf den Tisch. »Es is 'n Telegramm für Sie gekommen«, fügte sie hinzu, »in dem steht, daß Dr. Grundt morgen um acht Uhr früh herkommen wird, um in Empfang zu nehmen, was Sie mitgebracht haben.«
Teufel nochmal! das wurde ja peinlich. Wer war um Gottes willen Dr. Grundt?
»So, um acht Uhr kommt er?« fragte ich, um nur überhaupt etwas zu sagen.
»Jawohl!« erwiderte Frau Schratt. »Er war schon heute morgen hier, er war nervös, o schrecklich, und erwartete Sie bereits. Seit zwei Tagen wartet er schon, um vorwärts zu kommen.«
»So«, sagte ich, »er will ... es also mitnehmen, wie?«
Wenn die Frau von Dr. Grundt sprach, klang ihre Stimme boshaft. Davon hoffte ich zu profitieren. Ich fragte sie also weiter aus.
»Dr. Grundt war also heute hier und hat Ihnen seine Befehle gegeben, wie?«, fragte ich. »Und ... und hat überhaupt hier nach dem Rechten gesehen, nicht wahr?«
Sie blinkerte bösartig mit den Augen.
»Ach!« sagte sie. »Er hat Ansehen und Macht. Er kann Leute hochbringen und sie vernichten. Aber ich ..., ich habe zu meiner Zeit 'n Dutzend viel bessere Männer kaputt gemacht, und doch wagt er Anna Schratt zu sagen, daß ..., daß ...«
Sie hatte die Stimme hysterisch erhoben, brach aber ab, ehe sie den Satz beendet hatte. Offenbar dachte sie, sie hätte bereits zu viel gesagt.
»Ich laß nicht so mit mir umspringen«, sagte ich. Kraft ist eine Eigenschaft, die jeder Deutsche verehrt. Kraft und nur Kraft allein. Meine Sicherheit hing davon ab, daß ich dieser Kreatur da zeigte, daß ich von niemandem Befehle in Empfang nahm. »Sie kennen ihn ja! Man begibt sich in Gefahr, man setzt sein Leben aufs Spiel, man hat Erfolg. Und dann kommt er und heimst die Lorbeeren ein. Nein, ich denke gar nicht daran, sein Kuli zu sein!«
Die Hotelbesitzerin sprang auf, und ihr welkes Gesicht war ganz verzerrt vor Angst.
»Das werden Sie doch nicht wagen!«, sagte sie.
»Allerdings«, entgegnete ich. »Ich habe meine Arbeit geleistet und werde der Zentrale Bericht erstatten und niemandem sonst.«
Meine Augen fielen auf den Leichnam. »Na, und was fangen wir mit dem hier an?« fragte ich. »Sie müssen mir helfen, Frau Schratt. Der Fall ist ernst. Der darf hier nicht gefunden werden.«
Sie blickte verwundert zu mir empor. »Der?«, sagte sie, und gab dem Leichnam einen Stoß mit dem Fuß. »Oh, das wird die Schratt schon besorgen! Er wird nicht hier gefunden werden, junger Mann!«
»Meinen Sie?«
»Ich meine, was ich meine, junger Mann, und was Sie auch meinen«, erwiderte sie. »Wenn Se in 'ner Klemme sitzen, wenn's Komplikationen gibt, wenn irgendwo was peinlich is ... wie das hier ... dann erinnern Sie sich an die Schratt, ›die fesche Anna‹, wie man mich früher nannte, und dann heißt's ›gnädige Frau‹ hier und ›gnädige Frau‹ da, und ein Brillantarmband oder ein Perlenring, wenn ich mich nur auf eine kleine Verschwörung einlassen und alles wieder in Ordnung bringen will. Aber wenn alles klappt, dann bin ich ›die alte Schratt‹, ›die olle Hexe‹, und ich muß gehorchen und schön bitte sagen und ... bäh!«
Ihre Worte endeten in einem Schlucken, der bei jeder anderen Frau ein Seufzer gewesen wäre.
Dann fügte sie mit ihrer harten Hurenstimme hinzu: »Über den da brauchen Se sich keine Gedanken zu machen! Den überlassen Se nur mir! Das is ja mein Geschäft!«
Als ich diese Worte hörte, die Gott weiß was für Greuel in den dunklen Kellern dieses üblen Hauses andeuteten, hätte ich alles Mögliche darum gegeben, um von diesem Unternehmen loszukommen, in das ich so überstürzt hineingeraten war. Erst jetzt begann ich, etwas von der abscheulichen Grausamkeit, der kalt berechnenden Wildheit dieses bittersten und mächtigsten Feindes, den das britische Reich jemals gehabt hat, zu begreifen.
Aber jetzt war es zu spät, um sich zurückzuziehen. Der Würfel war gefallen. Das Schicksal hatte an meine Tür geklopft und hatte mich bereit gefunden. Jetzt war ich allem ausgeliefert, was mir in meiner neuen Haut zustoßen konnte.
Die Frau wandte sich zum Gehen. »Also Dr. Grundt wird um acht Uhr hier sein«, sagte sie. »Ich nehme an, daß der Herr seinen Kaffee vorher trinken will.«
»Ich werde nicht mehr da sein«, sagte ich. »Sie können Ihrem Freund erzählen, daß ich fort bin.«
Sie fuhr wild herum.
Jetzt war sie wieder stahlhart.
»Nein«, schrie sie, »Sie bleiben hier.«
»Nein«, erwiderte ich ebenso hart. »Ich denke gar nicht daran ...«
»Befehl ist Befehl, und Sie und ich müssen gehorchen!«
»Wer ist denn der Dr. Grundt, daß er mir Befehle geben sollte?«, rief ich aus.
»Wer der ...?« Sie war vollkommen entgeistert.
»Sie haben doch selber gesagt ...«, fuhr ich fort.
»Wenn ein Befehl ausgegeben worden is, so is das, was Sie oder ich denken oder sagen, belanglos«, fiel die Frau ein. »Es is eben ein Befehl, und wir wissen beide genau, woher er kommt. Das mag genug sein. Sie bleiben hier! Gute Nacht!«
Damit ging sie. Sie machte die Tür hinter sich zu; der Schlüssel rasselte im Schloß, und ich begriff, daß ich gefangen war. Ich hörte die Schritte der Frau auf dem Flur verhallen.
In der Ferne durchschnitt die Uhr die Stille der Nacht mit zwölf gewichtigen Schlägen. Dann spielte das Uhrwerk eine hübsche, klingende Melodie, die klar durch die stille Regenluft tönte.
Ich stand zu Stein erstarrt und überlegte, was nun zu tun sei.
Mitternacht! Ich hatte noch acht Stunden Frist, ehe der Dr. Grundt, der geheimnisvolle und mächtige Mann kam, um mich zu entlarven und mich der zärtlichen Gnade von Madame und Karl auszuliefern. Ich mußte also vor acht Uhr aus dem Hotel verschwunden sein und im Zug nach Deutschland sitzen – wenn ich so einen Zug bekommen konnte – jedenfalls aber Rotterdam bis dahin verlassen haben.
Das hieß also handeln, und zwar unverzüglich. Man konnte ja nicht wissen, wann der Tote da mir einen zweiten Besuch von Madame oder ihren Helfern verschaffen würde. Je schneller ich aus diesem Totenhaus hinaus war, um so besser.
Die Tür war solide; das Schloß war stark. Das stellte ich mühelos fest. Die Hoteltür unten war zweifellos um diese nächtliche Stunde verriegelt und verrammelt, und ich durfte kaum hoffen, vorn herum unentdeckt zu entkommen, auch wenn Karl sich nicht gerade in der Eingangshalle befand. Aber das Hotel mußte doch auch einen Hinterausgang haben, dachte ich, denn das Fenster meines Zimmers ging ja auf die schmale Straße am Rande des Kanals, der hinterm Hause entlang lief.
Durchs Fenster zu entkommen, war unmöglich. Die Hausfassade fiel steil ab und bot nirgends einen Halt. Da fiel mir das Fenster im Waschraum ein, das auf den kleinen Luftschacht blickte. Da war vielleicht eine leise Möglichkeit zur Flucht.
Zum zweitenmal in dieser Nacht öffnete ich das Fenster und atmete den Gestank ein, der aus dem schmalen Hof empordrang. Sämtliche Fenster, die wie meines auf den Lustschacht gingen, waren in Dunkel gehüllt. Nur ein Licht brannte noch hinter dem Gitter neben dem Eisentreppchen. Was am Fuß dieser Treppe war, konnte ich nicht erkennen, aber mir schien, als sei dort eine Tür.
Vom Fenster des Waschraumes aus fiel das schmutzige Mauerwerk des Hauses glatt hinab. Nach meiner Schätzung mußten es vom Fenster bis zum Pflaster unten ungefähr 50 Fuß sein. Mit einem Seil und irgend etwas, was den Sturz aufhielt, ließ es sich vielleicht machen.
Ich machte mich schnell ans Werk. Zuerst trennte ich mit meinem Taschenmesser das Schild mit der Schneiderfirma aus meinem Rockfutter und verbrannte es an der Kerze. Weiter hatte ich nirgends ein Erkennungszeichen, denn ich hatte mir, als ich aus dem Lazarett kam, fast alle Sachen neu gekauft. Nun trug ich Semlins Mantel, seinen Hut und seinen Koffer in den Waschraum und legte ihn neben das Fenster. Zur Vorsicht gegen etwaige Überraschungen schob ich das schwere Mahagonibett vor die Tür und verbarrikadierte so den Eingang zum Zimmer.
Rechts und links vom Kamin hingen zwei Klingelschnüre, gedrehte, seidene Kordeln mit staubigen Quasten. Ich kletterte auf den Kamin und schnitt die Klingelschnüre oben kurz ab. Sie schienen ziemlich haltbar zu sein – jedenfalls würden sie herhalten müssen. Ich knüpfte sie zusammen.
Dann kehrte ich in den Waschraum zurück und suchte irgendein geeignetes Objekt, an dem ich meine Schnur befestigen konnte. In dem Kabinettchen stand nichts weiter als der Waschtisch, und der war gebrechlich und für meinen Zweck ganz ungeeignet. Da bemerkte ich, daß das Fenster Läden hatte, die draußen an der Mauer festgemacht waren. Sie schienen jahrelang nicht berührt worden zu sein, denn der Eisenpflock, der sie hielt, war ganz rostig, und die Läden waren mit dickem Staub bedeckt. Ich schloß den linken Laden und konstatierte, daß er mit schweren Eisenriegeln oben und unten am Fensterrahmen befestigt war.
Da hatte ich also die gesuchte Stütze für mein Seil. Der Haken an der Einfassung des Ladens hielt das Seil gut fest. Ich befestigte mein Seil mit einem Seemanns-Knoten, den ich in einer besonders langweiligen Woche in der französischen Etappe gelernt hatte. Dann nahm ich das riesige Plumeau und die beiden massiven Kopfkissen vom Bett und zog die Überzüge ab, damit ihr helles Weiß keine Aufmerksamkeit erregte, während sie das ungewöhnliche Amt erfüllten, für das ich sie bestimmt hatte.
Am Fenster des Waschraums blieb ich einen Augenblick lauschend stehen. Alles war totenstill. Entschlossen warf ich das Plumeau in den dunklen schmutzigen Luftschacht. Es segelte graziös erdwärts und landete mit sanftem Plumpsen auf den Steinen des Höfchens. Die Kissen folgten hinterdrein. Der lautere Schall, den sie verursacht hätten, wurde von der wogenden Masse des Plumeaus abgedämpft. Dann wurde Semlins Tasche hinuntergefeuert und fiel ganz leise auf; zuletzt folgten sein Mantel und sein Hut.
Ich stellte dankbaren Herzens fest, daß das Plumeau und die Kissen so gut wie alle Fliesen des Hofs bedeckten.
Noch einmal kehrte ich ins Zimmer zurück und blies die Kerze aus. Dann faßte ich meine seidene Schnur so kurz wie möglich, kletterte auf das Fenstersims hinaus und fing an, mich langsam in die Tiefs hinunterzulassen.
Meine beiden zusammengeknoteten Klingelschnüre waren etwa zwanzig Fuß lang, ich mußte also damit rechnen, mindestens dreißig Fuß tief zu stürzen. Der Haken und der Laden hielten prachtvoll fest. Und das Hinunterlassen glückte gut, obgleich ich mir am rauhen Mauerwerk höchst unsanft die Knöchel stieß. Als ich am Ende meines Seils angelangt war, warf ich einen Blick hinab. Das rote Plumeau, das im Licht des Fensters nebenan eben sichtbar wurde, schien grauenhaft tief unter mir zu liegen. Ich bekam es mit der Angst. Mein Entschluß geriet ins Wanken. Nein, ich konnte es nicht wagen.
Das Seil nahm mir die Lösung der Frage ab. Es riß unversehens – wie es mein Gewicht überhaupt bis dahin gehalten hatte, weiß ich nicht – und ich fiel mit aller Wucht auf den weichen Diwan, den ich zu meinem Empfang vorbereitet hatte.
Der Sturz war hart, mächtig hart. Aber Madames dickes Plumeau und ihre gut gefüllten Kissen taten das Ihre, um meinen Fall zu dämpfen. Ich fiel flach mitten auf das Plumeau und mit einem Knie auf ein Kissen. Ich war zwar durchgerüttelt, hatte mir aber keinen Knochen gebrochen.
Auch die Besinnung hatte ich nicht verloren. Eine Minute später stand ich schon wieder auf den Beinen. Ich lauschte. Noch immer war alles still. Ich warf einen Blick nach oben. Das Fenster, aus dem ich mich herabgelassen hatte, lag noch im Dunkeln. Ich sah die abgerissenen Klingelschnüre vom Laden herunterbaumeln und stellte mit nicht geringem Stolz fest, daß mein Seemanns-Knoten zwischen den beiden Schnüren nicht nachgegeben hatte. Die untere Schnur war in der Mitte durchgerissen.
Ich stülpte Semlins Hut auf den Kopf, holte seinen Mantel und seinen Koffer aus der Ecke des Hofs, in die sie gefallen waren, und kletterte dann auf Zehenspitzen die Stufen hinunter.
Die Eisentreppe lief neben dem Fenster hinab, in dem ich Licht hatte brennen sehen. Vor der unteren Hälfte des Fensters hing eine schmutzige Musselingardine. Durch die obere Hälfte konnte man auf eine Art Waschküche sehen, in der eine Lampe auf einem Holztisch stand. Der Raum war leer. Das Fenster war von oben bis unten mit schweren Eisenstangen vergittert.
Am Fuß der Eisentreppe befand sich, wie ich vermutet hatte, eine Tür. Meine letzte Fluchtmöglichkeit. Es war eine kleine Tür mit einer Messingklinke, die ein paar Schritte weit von der Treppe entfernt lag, hinter einem feuchten, gepflasterten Vorplatz, wo Mülleimer standen.
Ich duckte mich tief, während ich die Eisentreppe hinunterstieg, um nicht eventuell vom Fenster der Waschküche aus gesehen zu werden. Auf leisen Sohlen schlich ich über den kleinen Vorplatz und klinkte so vorsichtig wie möglich den Drücker der Tür herunter. Die Klinke gab nach, aber es ereignete sich nichts.