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Übersetzt von Emanuela Mattl-Löwenkreuz
An den Herausgeber des » Daily Chronicle«
Mein Herr! Zu meinem großen Bedauern entnehme ich den Spalten Ihres Blattes, daß die Gefängniskommission den Wärter Martin vom Reading-Gefängnis entlassen hat, weil er einem kleinen hungrigen Kind ein wenig Zuckerbrot geschenkt hat. Ich sah die drei Kinder mit eigenen Augen am Montag vor meiner Entlassung. Sie waren eben verurteilt worden und standen in der Haupthalle, in ihrer Gefängniskleidung, in einer Reihe, hielten ihre Bettücher unter den Armen und warteten, bis man ihnen ihre Zellen anweisen würde. Ich kam gerade durch einen der Gänge auf dem Weg nach dem Empfangszimmer, wo ich einen Freund sprechen sollte. Es waren ganz kleine Kinder, das jüngste – das, dem der Wärter das Zuckerbrot gegeben hatte – war ein winziges, zartes Bürschchen, für das man sichtlich keine Kleidung aufgetrieben hatte, die klein genug gewesen wäre, um zu passen. Natürlich hatte ich viele Kinder im Gefängnis gesehen, während der zwei Jahre, da ich selbst mich in Haft befand. Besonders das Wandsworth-Gefängnis enthielt immer eine große Anzahl von Kindern. Aber das kleine Kind, das ich am 17., Montag nachmittags, in Reading sah, war das kleinste von allen. Ich brauchte nicht erst zu sagen, welch entsetzliche Pein es mir verursachte, diese Kinder in Reading zu sehen; kannte ich doch die Behandlung, die ihrer harrte! Die Grausamkeit, die man Tag und Nacht an Kindern in englischen Gefängnissen ausübt, würde kein Mensch für möglich halten, der nicht Zeuge davon gewesen ist, und die ganze Brutalität des Systems kennt.
Heutzutage verstehen die Leute nicht, was Grausamkeit ist. Sie sehen in ihr eine Art gräßlichen mittelalterlichen Trieb und bringen sie mit Männern in Verbindung, wie Ezzelin da Romano und anderen, denen das geflissentliche Verursachen von Schmerzen einen wahren Taumel der Wollust gewährte. Aber Menschen vom Schlage Ezzelins sind bloß ein abnormer Typus eines perversen Individualismus. Für gewöhnlich ist Grausamkeit einfach Dummheit. Sie entspringt einem gänzlichen Mangel an Phantasie. Heutzutage ist sie das Ergebnis stereotyper Systeme, unverrückbarer Verordnungen und der Dummheit. Überall wo Zentralisation ist, dort ist Dummheit. Was im modernen Leben unmenschlich ist, das ist Bureaukratismus.
Die Autorität ist ebenso verderblich für diejenigen, die sie ausüben, wie für die, an denen sie ausgeübt wird. Die Gefängnisbehörde und das von ihr durchgeführte System, bildet die Hauptquelle aller Grausamkeit, die einem Kind im Gefängnis widerfährt. Die Leute, die das System aufrecht erhalten, haben gewiß die besten Absichten. Und die, die es durchführen, sind ihren Absichten nach ebenfalls human. Die Verantwortung wird auf die disziplinarischen Verordnungen geschoben. Man nimmt an, daß, sobald etwas Vorschrift ist, es auch recht sein muß.
Die gegenwärtige Behandlung der Kinder ist entsetzlich – in erster Linie, weil sie von Leuten ausgeht, welche die besondere Psychologie der Natur eines Kindes nicht verstehen. Ein Kind versteht eine Strafe, die eine einzelne Person verhängt, wie etwa Vater, Mutter oder ein Vormund, und erduldet sie mit einer gewissen Ergebung. Was es nicht versteht, ist eine Strafe, die von der Gesellschaft verhängt wird. Es begreift nicht, was die Gesellschaft ist. Bei Erwachsenen ist natürlich das Gegenteil der Fall. Diejenigen von uns, die entweder im Gefängnis sind oder gewesen sind, können begreifen, und begreifen auch, was jene kollektive Kraft, die sich Gesellschaft nennt, bedeutet, und was man auch von ihrem Verfahren und ihren Ansprüchen halten mag, wir können es über uns bringen, sie anzuerkennen. Eine Strafe, die eine einzelne Person über uns verhängt, ist andererseits eine Sache, die kein Erwachsener erträgt oder zu ertragen braucht. Wenn daher das Kind seinen Eltern von Leuten weggenommen wird, die es nie gesehen hat, und von denen es nichts weiß, wenn es sich in einer einsamen, ungewohnten Zelle befindet, von fremden Gesichtern bedient, hin und her geschickt und bestraft von den Stellvertretern eines Systems, das es nicht verstehen kann, so wird es sofort die Beute des ersten und hauptsächlichsten Gefühls, welches das moderne Gefängnisleben wachruft – des Gefühls des Schreckens. Der Schrecken eines Kindes im Gefängnis ist ganz grenzenlos. Ich erinnere mich, daß ich einmal in Reading, als ich im Begriff stand, meinen Spaziergang anzutreten, in der schwach erhellten Zelle, die gerade der meinigen gegenüber war, einen kleinen Jungen sah. Zwei Wärter – es waren keine unfreundlichen Männer – sprachen ihm scheinbar mit einiger Strenge zu oder gaben ihm vielleicht einen nützlichen Rat, wie er sich betragen sollte. Der eine befand sich mit ihm in der Zelle, der andere stand draußen. Das Antlitz des Kindes war vor lauter Schreck weiß wie ein Tuch. In seinen Augen lag der Schrecken eines gehetzten Tieres. Am anderen Morgen hörte ich ihn zur Frühstückszeit weinen und rufen, man möge ihn hinauslassen. Er rief nach seinen Eltern. Von Zeit zu Zeit konnte ich die tiefe Stimme des diensthabenden Wärters hören, der ihn ermahnte, sich still zu verhalten. Und doch hatte man ihm nicht einmal das kleine Vergehen nachweisen können, dessen man ihn angeklagt hatte. Er war einfach in Untersuchungshaft. Dies erkannte ich daran, daß er seine eigenen Kleider trug, die ziemlich sauber aussahen. Doch trug er Gefängnissocken und -schuhe. Dies bewies, daß er ein sehr armer Junge war, dessen eigene Schuhe, wenn er überhaupt welche hatte, sich in einem schlechten Zustand befanden. Richter und Behörden, die in der Regel höchst unwissend sind, halten Kinder oft eine Woche lang in Untersuchungshaft, und erlassen ihnen dann vielleicht die Strafe, die sie hätten verhängen können. Das nennen sie »ein Kind nicht ins Gefängnis schicken«. Natürlich ist dies eine ganz alberne Meinung von ihnen. Ob es bloß in Untersuchungshaft oder, nach dem Schuldspruch, im Gefängnis ist, das ist eine Spitzfindigkeit der sozialen Stellung, die ein kleines Kind nicht verstehen kann. Für ihn ist es das Gräßliche, überhaupt dort zu sein. In den Augen der Menschheit sollte es etwas Gräßliches sein, daß es überhaupt dort ist.
Jener Schreck, der das Kind ergreift und beherrscht, wie ja auch den Erwachsenen, wird natürlich durch das Einzellensystem unserer Gefängnisse auf eine Weise verschärft, die jeder Wiedergabe spottet. Jedes Kind muß dreiundzwanzig Stunden von vierundzwanzig in seiner Zelle verharren. Darin besteht das Furchtbare. Ein Kind in eine schwacherhellte Zelle dreiundzwanzig Stunden von vierundzwanzig einzusperren, beweist, wie grausam die Dummheit ist. Wenn eine einzelne Person, die Eltern oder der Vormund, solches mit einem Kinde täten, würden sie strenge bestraft. Die » Society for the Prevention of Cruelty to Children,« würde die Sache sofort aufgreifen. Überall würde man jeden, der sich eine solche Grausamkeit hätte zuschulden kommen lassen, aufs tiefste verabscheuen. Seine Verurteilung würde zweifellos eine schwere Strafe zur Folge haben. Aber unsere heutige Gesellschaft tut weitaus Schlimmeres, und für das Kind ist es viel ärger, von einer fremden, abstrakten Gewalt so behandelt zu werden, von deren Rechten es keine Kenntnis besitzt, als würde ihm diese Behandlung von seinem Vater oder seiner Mutter oder von irgend jemand zuteil, den es kennt. Die unmenschliche Behandlung eines Kindes bleibt immer unmenschlich, von wem sie auch ausgeht.
Aber die unmenschliche Behandlung der Gesellschaft ist um so schrecklicher für das Kind, weil es dagegen keine Berufung gibt. Die Eltern oder der Vormund können sich erweichen lassen und das Kind aus dem finsteren, einsamen Zimmer herauslassen, in welchem es eingesperrt ist. Aber ein Wärter kann das nicht. Die meisten Wärter haben Kinder sehr gern. Aber das System untersagt ihnen, dem Kinde Hilfe zu leisten. Tun sie es doch, wie der Wärter Martin, so werden sie entlassen.
Das zweite, woran ein Kind im Gefängnis leidet, ist der Hunger. Die Nahrung, die ihm verabreicht wird, besteht zum Frühstück um siebeneinhalb aus einem Stück Brot, das gewöhnlich schlecht gebacken ist, und einem Napf Wasser. Um 12 Uhr erhält es sein Mittagessen, das aus einem Napf grober Maisspeise besteht, und um fünfeinhalb erhält es ein Stück trockenes Brot und einen Napf Wasser zum Abendbrot. Handelt es sich um einen Mann von kräftiger Konstitution, so verursacht ihm diese Kost immer irgendwelche Krankheiten, hauptsächlich natürlich Durchfall mit den begleitenden Schwächeerscheinungen.
Tatsächlich werden in größeren Gefängnissen adstringierende Mittel von den Wärtern als etwas ganz Selbstverständliches regelmäßig verteilt. Handelt es sich um ein Kind, so vermag dieses gewöhnlich die Nahrung überhaupt nicht aufzunehmen. Jeder, der über Kinder einigermaßen Bescheid weiß, ist sich klar, wie leicht die Verdauung eines Kindes durch Weinen oder Angst oder irgendeine Seelenpein beeinträchtigt wird. Ein Kind, das den ganzen Tag und vielleicht die halbe Nacht allein in einer schwacherhellten Zelle geweint hat, das von allen Schrecken verfolgt wird, vermag einfach solch eine grobe, gräßliche Kost nicht aufzunehmen. Was das kleine Kind betrifft, dem der Wärter Martin das Zuckerbrot gab, so weinte es Dienstag morgen vor Hunger und konnte absolut das Brot und das Wasser nicht hinunterwürgen, das man ihm zum Frühstück brachte. Martin ging aus, nachdem er das Frühstück verteilt hatte, und kaufte lieber ein paar Stück Kuchenbrot für das Kind, als daß er es hätte verhungern lassen. Das war eine wunderschöne Handlung von ihm, und das Kind erkannte es als eine solche, und in seiner vollen Unkenntnis der Gefängnisstatuten erzählte es einem der Oberwärter, wie gut dieser Unterwärter zu ihm gewesen sei. Das Resultat war natürlich eine Anzeige und die Entlassung.
Ich kenne Martin außerordentlich gut, denn ich war die letzten sieben Wochen meiner Haft unter seiner Obhut. Als er in Reading angestellt wurde, erteilte man ihm die Aufsicht über den Gang C, in welchem ich mich befand und so sah ich ihn beständig. Es fiel mir auf, mit welcher besonderen Gutherzigkeit und Menschlichkeit er mit mir und den anderen Gefangenen sprach. – Gütige Worte gelten viel im Gefängnis, und ein freundliches »Guten Morgen« oder »Guten Abend« vermag einen so vergnügt zu machen, als man es in der Einzelhaft überhaupt sein kann. Er war immer sanft und rücksichtsvoll. Ich weiß zufällig von einem anderen Fall, in welchem er einem der Gefangenen viel Güte erwies, und ich habe kein Bedenken, ihn anzuführen. Eines der gräßlichsten Dinge im Gefängnis sind die unzureichenden sanitären Vorkehrungen. Es ist einem Häftling unter keinen Umständen gestattet, seine Zelle nach fünfeinhalb Uhr nachmittags zu verlassen. Wenn er daher an Durchfall leidet, muß er sich mit seiner Zelle begnügen, und die Nacht in einer höchst schlechten und ungesunden Luft zubringen. Einige Tage vor meiner Entlassung machte Martin mit einem der Oberwärter um einhalb acht die Runde und sammelte das Fadenwerg und die Arbeitsgeräte der Gefangenen ein. Ein Mann, den man unlängst erst verurteilt und der infolge der Kost, wie es gewöhnlich so ist, an heftigem Durchfall litt, ersuchte den Hauptwärter um die Erlaubnis, den Spülnapf auszuleeren wegen der gräßlichen Verpestung der Zelle, und weil die Möglichkeit vorlag, daß er in der Nacht wieder erkrankte. Der Hauptwärter schlug es rundweg ab; es war gegen die Statuten. Dem Mann blieb für seine Person nichts anderes übrig, als in dieser entsetzlichen Lage die Nacht zu verbringen. Aber um diesen unglückseligen Menschen nicht in dieser ekelhaften und abscheulichen Lage zu lassen, sagte Martin, er würde den Spülnapf des Mannes selbst ausleeren, und er tat es auch. Ein Wärter, der den Spülnapf des Häftlings ausleert, verstößt selbstverständlich gegen die Statuten, aber Martin tat dem Mann diesen Akt der Gutherzigkeit aus der schlichten Menschlichkeit seiner Natur heraus, und natürlich war ihm der Mann überaus dankbar.
Was die Kinder betrifft, so ist in letzter Zeit viel über den verderblichen Einfluß des Gefängnisses auf junge Kinder gesprochen und geschrieben worden.
Was man da sagt, beruht auf Wahrheit. Das Gefängnisleben verdirbt ein Kind in Grund und Boden. Aber der verderbliche Einfluß geht nicht von den Gefangenen aus.
Er geht vom ganzen Gefängnissystem aus – vom Direktor, dem Hausgeistlichen, den Wärtern, der Einzelhaft, der Einsamkeit, der empörenden Kost, den Statuten der Gefängnisbehörde, der Art der Disziplin, wie man es nennt, von der ganzen Lebensweise. Jede Vorkehrung ist getroffen, um einem Kind sogar den Anblick aller Gefangenen über sechzehn Jahre zu entziehen. Die Kinder sitzen in der Kapelle hinter einem Vorhang, man schickt sie zum Spaziergang in einen schmalen, sonnenlosen Hof, manchmal an einen Steinlagerplatz, manchmal in einen Hofraum hinter den Fabriken, damit sie nur ja nicht die älteren Gefangenen beim Spaziergang zu sehen bekommen. Und doch der einzige wirklich humane Einfluß im Gefängnis ist der der Gefangenen. Ihr Frohsinn unter den entsetzlichsten Umständen, die Sympathie des einen für den anderen, ihre Demut, ihre Sanftmut, das freundliche Lächeln ihres Grußes, wenn sie einander begegnen, die vollständige Ergebung, mit der sie sich in ihre Strafe fügen, alles das ist ganz wundervoll, und ich selbst habe manche gute Lehre von ihnen gelernt. Ich erlaube mir keinerlei Vorschlag zu machen, daß die Kinder nicht hinter einem Vorhang in der Kapelle sitzen, oder daß sie ihren Spaziergang in einem Winkel des gemeinsamen Hofes machen sollen. Ich betone nur, daß der schlechte Einfluß, unter dem die Kinder leiden, nicht von den Gefangenen ausgeht oder jemals ausgehen kann, sondern allein und immer von dem Gefängnissystem. Es gibt nicht einen einzigen Mann im Kerker von Reading, der nicht gerne die Strafe der drei Kinder auf sich genommen hätte. Ich sah sie zum letztenmal an dem Dienstag, der ihrer Verurteilung folgte. Ich ging mit etwa zwölf andern Männern spazieren, als die drei Kinder unter Obhut eines Wärters vom feuchten traurigen Steinlagerplatz an uns vorbeikamen, wo sie ihren Spaziergang gemacht hatten. Ich gewahrte das größte Erbarmen und Mitleid in den Augen meiner Gefährten, als sie sie ansahen. Im allgemeinen sind Gefangene außerordentlich gütig und mitfühlend füreinander. Leid und die Gemeinsamkeit des Leides macht die Menschen gütig, und Tag für Tag, als ich über den Hof trabte, fühlte ich mit Freude und Trost »den schweigenden rhythmischen Zauber menschlicher Genossenschaft«, wie es Carlyle irgendwo nennt, auf mich wirken. In diesem, wie in allen anderen Fällen, sind die Philanthropen und Leute ihres Schlages im Irrtum. Nicht die Gefangenen sind reformbedürftig, die Gefängnisse sind es.
Selbstverständlich sollte kein Kind unter dem vierzehnten Lebensjahr überhaupt ins Gefängnis geschickt werden. Es ist das vernunftwidrig und hat wie viele Vernunftwidrigkeiten durchaus tragische Folgen. Wenn man sie aber ins Gefängnis schicken will, sollten sie bei Tag in einer Werkstatt oder in einem Schulzimmer mit einem Wärter sein. Nachts sollten sie in einem allgemeinen Schlafraum unter der Aufsicht eines Nachtwärters schlafen. Man sollte ihnen gestatten, mindestens drei Stunden täglich sich Bewegung zu machen. Die finsteren, schlechtgelüfteten, übelriechenden Gefängniszellen sind gräßlich für ein Kind, wie sie in der Tat für jeden gräßlich sind. Man atmet im Gefängnis immer schlechte Luft.
Die Nahrung, die man den Kindern gibt, sollte aus Tee, Butterbrot und Suppe bestehen. Die Gefängnissuppe ist sehr gut und zuträglich. Ein Beschluß des Unterhauses könnte die Behandlung der Kinder in einer halben Stunde regeln.
Ich hoffe, Sie werden Ihren Einfluß nach dieser Richtung geltend machen. Die Art und Weise, wie die Kinder gegenwärtig behandelt werden, schlägt einfach der Menschlichkeit und dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht. Die Dummheit trägt daran schuld.
Erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit nun auf etwas anderes Schreckliches zu lenken, das in englischen Gefängnissen, übrigens in allen Gefängnissen auf der ganzen Welt, vorkommt, wo das System des Schweigens und der Einzelhaft durchgeführt wird. Ich meine die große Anzahl derer, die im Gefängnis wahnsinnig oder schwachsinnig werden. In Verbrechergefängnissen ist dies natürlich ganz alltäglich, aber auch in gewöhnlichen Kerkern, wie jener, in welchem ich gefangen saß, trifft man dergleichen an.
Vor ungefähr drei Monaten fiel mir unter den Gefangenen, die mit mir auf dem Spaziergang waren, ein junger Mann auf, der mir blöde oder schwachsinnig erschien. Jedes Gefängnis hat natürlich seine schwachsinnigen Kunden, die immer wiederkehren und von denen man sagen könnte, daß sie ihr Leben im Gefängnis verbringen. Aber es fiel mir auf, daß dieser junge Mann schwachsinniger war, als es die Regel zu sein pflegt, wegen seines blöden Grinsens, seines trottelhaften Insichhineinlachens, und der eigentümlichen Unruhe seiner ewig zupfenden Hände. Allen anderen Gefangenen war sein seltsames Betragen aufgefallen. Von Zeit zu Zeit erschien er nicht beim Spaziergang, was mir bewies, daß man ihn zur Strafe in seiner Zelle zurückhielt.
Endlich entdeckte ich, daß er unter Beobachtung stand und Tag und Nacht von Wärtern bewacht wurde. Wenn er doch zum Spaziergang erschien, machte er immer einen hysterischen Eindruck und ging weinend oder lachend herum. In der Kapelle mußte er zwischen zwei Wärtern sitzen, die ihn die ganze Zeit sorgfältig beobachteten. Manchmal begrub er den Kopf in die Hände, was ein Verstoß gegen die Verordnungen der Kapelle war, und sein Kopf wurde sofort von einem Wärter in die Höhe gestoßen, damit er seine Blicke unablässig in der Richtung des Kommuniontisches hielte. Manchmal weinte er – ohne irgendeine Störung zu verursachen –, aber die Tränen rannen ihm über das Gesicht, und ein hysterisches Schluchzen würgte ihm die Kehle. Manchmal grinste er trottelhaft vor sich hin oder schnitt Fratzen. Mehr als einmal sandte man ihn aus der Kapelle hinaus in seine Zelle zurück, und natürlich wurde er fortwährend gestraft. Da die Bank, in welcher ich in der Kapelle zu sitzen pflegte, gerade hinter der Bank war, an deren Ende dieser unglückliche Mann seinen Platz hatte, so war ich vollständig in der Lage, ihn zu beobachten. Ich sah ihn natürlich auch fortwährend beim Spaziergang, und ich sah, daß er dem Wahnsinn nahe war, und behandelt wurde, als ob er simuliere.
Am Samstag der letzten Woche war ich gegen ein Uhr in meiner Zelle beschäftigt, das Zinngeschirr, das ich zum Mittagessen benützt hatte, zu säubern und blank zu reiben. Plötzlich fuhr ich empor – das Gefängnisschweigen wurde durch das entsetzlichste, empörendste Schreien oder, besser gesagt, Heulen unterbrochen, denn anfangs dachte ich, ein Tier, ein Ochse oder eine Kuh würde von ungeschickter Hand vor den Gefängnismauern geschlachtet. Aber bald wußte ich, daß das Heulen von dem Erdgeschoß des Gefängnisses herrührte und daß irgendein bedauernswerter Mann gepeitscht wurde. Ich brauche nicht zu sagen, wie abscheulich und gräßlich mir das schien, und ich begann mich zu fragen, wer wohl in solch empörender Weise gestraft würde. Plötzlich dämmerte mir die Ahnung, daß man vielleicht diesen unglücklichen Wahnsinnigen peitsche. Meine persönlichen Gefühle in dieser Sache brauche ich nicht wiederzugeben, sie haben mit der Frage nichts zu schaffen.
Am nächsten Tag, Sonntag den 16., sah ich den armen Kerl beim Spaziergang; sein krankes, häßliches, elendes Gesicht war durch Tränen und Hysterie fast bis zur Unkenntlichkeit verschwollen. Er ging im Mittelring mit den Greisen, den Bettlern und den Lahmen, so daß ich ihn die ganze Zeit über beobachten konnte. Es war mein letzter Sonntag im Gefängnis, ein wirklich wundervoller Tag, der schönste Tag, den wir das ganze Jahr über gehabt hatten, und im schönen Sonnenlicht ging die arme Kreatur – einst nach Gottes Ebenbild geschaffen, grinste wie ein Affe und vollführte mit den Händen die phantastischsten Bewegungen, als spielten sie in der Luft ein Instrument mit unsichtbaren Saiten, oder als ordneten und handhabten sie die Spielmarken in irgendeinem merkwürdigen Spiel. Und die ganze Zeit rannen die hysterischen Tränen, ohne die keiner von uns ihn je gesehen, in schmutzigen Bächlein über sein weißes, verschwollenes Gesicht. Die gräßliche und bedächtige Grazie seiner Gebärden verlieh ihm das Aussehen eines Hanswurstes. Er war eine leibhaftige Groteske. Die anderen Gefangenen beobachteten ihn alle, und nicht einer unter ihnen lächelte. Jeder wußte, was mit ihm geschehen sei, daß man ihn zum Wahnsinn trieb –, daß er bereits wahnsinnig war. Nach einer halben Stunde befahl ihm der Wärter hineinzugehen, und er wurde wahrscheinlich bestraft. Wenigstens erschien er Montags nicht beim Spaziergang, obwohl ich glaube, ihn in einem Winkel des Steinlagerplatzes erblickt zu haben, wo er unter Obhut eines Wärters auf und ab schritt.
Am Dienstag – meinem letzten Tag im Gefängnis – sah ich ihn beim Spaziergang. Er war ärger als früher und wurde abermals hineingeschickt. Seither weiß ich nichts von ihm, aber ich erfuhr durch einen der Gefangenen, der beim Spaziergang neben mir ging, daß er am Samstag Abend nach Berichterstattung des Arztes auf Befehl der inspizierenden Behörden vierundzwanzig Hiebe erhalten hatte. Das Geheul, das uns alle entsetzte, rührte von ihm her.
Dieser Mann ist zweifellos dem Wahnsinn nahe. Die Gefängnisärzte besitzen keine Kenntnis von irgendwelchen Geisteskrankheiten. Sie sind im allgemeinen unwissende Menschen. Die Pathologie des Geisteslebens ist ihnen unbekannt. Wenn ein Mann verrückt wird, behandeln sie ihn als Simulanten. Sie lassen ihn immer wieder bestrafen. Natürlich verschlimmert sich der Zustand des Mannes. Wenn man die gewöhnlichen Strafen erschöpft hat, berichtet der Arzt über den Fall an die Behörden. Das Ergebnis ist Prügelstrafe. Natürlich wird die Prügelstrafe nicht mittels einer neunschwänzigen Katze vollzogen. Es ist, wie man es nennt, ein Auspeitschen. Hierzu dient eine Rute, aber man kann sich vorstellen, welche Wirkung das auf den erbarmungswürdigen blödsinnigen Menschen ausübt.
Seine Nummer ist oder war A 2. 11. Es gelang mir auch seinen Namen zu erfahren. Er heißt Prince. Es sollte sofort etwas für ihn geschehen. Er ist Soldat, und wurde kriegsgerichtlich verurteilt. Das Urteil lautet auf sechs Monate. Drei stehen ihm noch bevor.
Darf ich Sie bitten, darauf einzuwirken, daß auch dieser Fall untersucht werde, und darauf zu sehen, daß dieser geisteskranke Gefangene nach Gebühr behandelt werde?
Der Bericht der Gerichtsärzte ist ganz wertlos. Man kann sich nicht darauf verlassen. Die Inspektionsärzte verstehen scheinbar den Unterschied zwischen Blödsinn und Geisteskrankheit nicht – zwischen der gänzlichen Ausschaltung einer Funktion oder eines Organes und den Krankheiten einer Funktion oder eines Organes. Dieser Mann A 2. 11 wird zweifellos imstande sein, seinen Namen anzugeben, die Natur seines Vergehens, den Tag des Monats, das Datum des Beginnes und des Ablaufes seiner Strafe, er wird jede gewöhnliche, einfache Frage beantworten; aber daß er geisteskrank ist, läßt sich nicht bezweifeln. Augenblicklich vollzieht sich ein gräßlicher Zweikampf zwischen ihm und dem Arzt. Der Arzt kämpft um seine Theorie. Der Mann kämpft um sein Leben. Ich wünschte sehnlichst, daß der Mann siege. Aber veranlassen Sie, daß der ganze Fall von Sachverständigen, die etwas von Geisteskrankheiten verstehen, untersucht werde, auch von Menschen mit humaner Gesinnung, die noch ein wenig gesunden Menschenverstand und ein wenig Mitgefühl besitzen. Es ist nicht notwendig, daß man die Sentimentalen dazu heranzieht. Sie schaden immer. Sie gipfeln in ihrem Ausgangspunkt. Ihr Schluß ist, gleich ihrem Anfang, eine Emotion.
Der Fall ist ein besonderer Beweis, wie untrennbar die Grausamkeit einem albernen System anhaftet, denn der gegenwärtige Direktor von Reading ist ein Mann von vornehmem, humanem Charakter und wird von allen Gefangenen sehr geliebt und geachtet. Er wurde voriges Jahr im Juli angestellt, und obzwar er die Gefängnisstatuten nicht zu ändern vermag, änderte er den Geist, in welchem sie unter seinem Vorgänger ausgeführt wurden. Er ist sehr beliebt bei den Gefangenen und den Wärtern. Er hat tatsächlich die ganze Tonart des Gefängnislebens gehoben. Andererseits ist es natürlich nicht in seiner Macht, das System, was die Statuten betrifft, zu ändern. Ich zweifle nicht, daß er täglich vieles sieht, von dem er weiß, daß es ungerecht, dumm und grausam ist. Aber er hat gebundene Hände. Natürlich besitze ich keinerlei Kenntnis, was er vom Fall A 2. II tatsächlich hält, auch kenne ich natürlich ebensowenig seine Ansichten über unser gegenwärtiges System. Ich beurteile ihn bloß nach dem vollständigen Umschwung, den er im Gefängnis von Reading durchgeführt hat. Unter seinem Vorgänger wurde das System mit der größten Härte und Dummheit durchgeführt. –
Ich verbleibe, mein Herr, Ihr ergebener Diener
Oscar Wilde.
Frankreich, 27. Mai 1897.