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Vorträge über Kunst


Die englische Kunstrenaissance

(Vorlesung in den Vereinigten Staaten, zum ersten Male gehalten am 9. Januar 1882 zu Neuyork)

Nebst vielem anderen danken wir es Goethes unübertroffenem ästhetischen Genie, daß er uns zuerst gelehrt hat, die Schönheit in den denkbar konkretesten Ausdrücken zu bestimmen, sie, wenn ich so sagen darf, immer in ihren besonderen Offenbarungen zu erkennen. So will ich in der Vorlesung, die ich die Ehre habe vor Ihnen zu halten, nicht erst versuchen, eine abstrakte Definition der Schönheit zu geben, eine jener allgemeinen Formel für dieselbe, wie sie die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts suchte, noch weniger will ich Ihnen – was auch ganz unmöglich wäre – die Eigenschaft kennzeichnen, durch welche ein besonderes Bildwerk oder Gedicht uns mit einer ungewöhnlichen und unvergleichlichen Freude erfüllt; ich will vielmehr auf die allgemeinen Ideen Hinweisen, welche die große englische Kunstrenaissance dieses Jahrhunderts charakterisieren, ihre Quelle, soweit das möglich ist, aufdecken und ihre Zukunft, soweit es möglich ist, beurteilen.

Ich nenne sie unsere englische Renaissance, weil sie, wie die große italienische Renaissance des 15. Jahrhunderts, in der Tat gleichsam eine Neugeburt des menschlichen Geistes ist in ihrem Wunsche nach einer anmutigeren und schöneren Lebensweise, ihrer Leidenschaft für die körperliche Schönheit, ihrer ausschließlichen Berücksichtigung der Form, ihrem Suchen nach neuen Gegenständen der Dichtung, neuen Formen der Kunst, neuen Genüssen des Geistes und der Einbildungskraft; und ich nenne sie unsere romantische Bewegung, weil sie unser letzter Ausdruck der Schönheit ist.

Sie ist als ein bloßes Wiederaufleben griechischer Denkweise geschildert worden und auch wohl als ein bloßes Wiederaufleben mittelalterlichen Fühlens. Ich würde eher behaupten, daß sie diesen Formen des menschlichen Geistes alle die künstlerischen Werte hinzugefügt hat, welche die Kompliziertheit, die Vielfältigkeit und die Erfahrung des modernen Lebens zu geben vermögen. Dem Griechentum entnahm sie die Klarheit des Schauens und die verhaltene Ruhe, dem Mittelalter die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks und das Geheimnis des Schauens. Denn was ist, wie Goethe gesagt hat, das Studium der Alten anders als eine Rückkehr zur wirklichen Welt (denn diese haben sie dargestellt); und was ist, wie Mazzini gesagt hat, der Geist des Mittelalters anders als Individualismus?

Der Vereinigung des Hellenismus mit seiner Breite, seiner inneren Gesundheit und seinem ruhigen Schönheitsbewußtsein mit dem neu auftauchenden gesteigerten Individualismus, der leidenschaftlichen Färbung des romantischen Geistes entspringt die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts in England, so wie aus der Vermählung Fausts mit der trojanischen Helena der wunderschöne Knabe Euphorion hervorging.

Solche Ausdrücke wie »klassisch« und »romantisch« werden zwar leicht zu bloßen Schlagworten der Schulen. Wir müssen uns immer daran erinnern, daß der Kunst nur eine Aufgabe obliegt; es gibt für sie nur ein hohes Gesetz, das Gesetz der Form und Harmonie, und doch besteht zwischen dem klassischen und romantischen Geiste, wie mir scheint, wenigstens der Unterschied, daß jener es mit dem Typus, dieser mit der Ausnahme zu tun hat. In den Werken, die unter dem Einflusse des modernen romantischen Geistes hervorgebracht sind, werden nicht mehr die dauernden, die wesentlichen Wahrheiten des Lebens behandelt; vielmehr sucht die Kunst, die augenblickliche Lage, die augenblickliche Erscheinung desselben wiederzugeben. In der Bildhauerkunst, welche der Typus des einen Geistes ist, beherrscht der Gegenstand die Situation; in der Malerei, die der Typus des anderen ist, beherrscht die Situation den Gegenstand.

Es gibt also zwei Arten des Geistes; der hellenische Geist und der Geist der Romantik können als die wesentlichen Grundlagen unserer bewußten geistigen Tradition, unseres dauernden Maßstabes des Geschmacks angesehen werden. Was ihren Ursprung angeht, so gibt es in der Kunst wie in der Politik nur einen Ursprung für alle Umwälzungen, nämlich das Streben des Menschen nach einer edleren Form des Lebens, nach einer freieren Methode und Art des Ausdrucks. Und doch wäre es nach meiner Ansicht verfehlt, bei der Beurteilung des sinnlichen und intellektuellen Charakters unserer englischen Renaissance diese von dem Fortschritt, der Bewegung und dem gesellschaftlichen Leben der Zeit, die sie hervorgebracht hat, zu isolieren; das hieße sie ihrer wahren Lebenskraft berauben, vielleicht ihre wahre Bedeutung verkennen. Und indem wir von den Bestrebungen und Leidenschaften unserer geschäftig lärmenden modernen Welt die Leidenschaften und Bestrebungen ausscheiden, die es mit der Kunst und der Liebe zur Kunst zu tun haben, müssen wir viele große Ereignisse der Geschichte in Betracht ziehen, die von vornherein zu jedem künstlerischen Gefühl in Gegensatz zu stehen scheinen.

So fern also auch unsere englische Renaissance mit ihrem leidenschaftlichen Kultus der reinen Schönheit, ihrer vollständigen Hingabe an die Form, ihrem aristokratischen und empfindsamen Wesen der wilden politischen Leidenschaft oder der rauhen Stimme eines rohen empörten Volkes zu stehen scheint, so müssen wir doch die französische Revolution als die Grundursache ihres Werdens, die Grundbedingung ihrer Geburt betrachten, jene große Revolution, deren Kinder wir alle sind, wenn auch die Stimmen mancher unter uns sie laut anklagen; jene Revolution, der zu einer Zeit, wo in England selbst Männer wie Coleridge und Wordsworth den Mut verloren, Ihre junge Republik edle Grüße der Liebe über das Weltmeer sandte.

Zwar hat unser modernes Verständnis für die Kontinuität der Geschichte uns gezeigt, daß es weder in der Politik noch in der Natur Revolutionen gibt, sondern nur Evolutionen, und daß das Vorspiel zu jenem wilden Sturm, der im Jahre 1789 über Frankreich dahinfegte und jeden König in Europa für seinen Thron erzittern ließ, zuerst in der Literatur ertönte lange Jahre, ehe die Bastille fiel und der Palast des Königs erobert wurde. Der Weg für die blutigen Szenen an der Seine und der Loire ist von dem kritischen Geiste Deutschlands und Englands geebnet worden, der die Menschen daran gewöhnte, die Dinge nach dem Maßstab der Vernunft, des Nutzens oder beider zu messen, und die Unzufriedenheit des Volkes in den Straßen von Paris war nur das Echo des Lebens Emiles und der Leiden des jungen Werther. Denn Rousseau hatte am schweigsamen See und Berge die Menschheit zu dem goldenen Zeitalter zurückgerufen, das immer noch vor uns liegt, und in leidenschaftlicher Beredsamkeit, deren Musik noch in unserer scharfen nördlichen Luft nachtönt, die Rückkehr zur Natur gepredigt. Und Goethe und Scott hatten die Romantik aus dem Gefängnisse, in dem sie so viele Jahrhunderte gelegen hatte, befreit – und was ist die Romantik anderes als die Menschheit selbst?

Aber im Schoß der französischen Revolution und im Sturm und Schreck dieser wilden Epoche barg sich ein Streben, welches die Renaissance der Kunst ihren besonderen Zwecken zuwandte, als die Zeit gekommen war. Es war in erster Linie ein wissenschaftliches Streben, welches in unseren Tagen eine Brut etwas lärmender Titanen hervorgebracht, aber auch in der Sphäre der Dichtkunst manches Gute gezeitigt hat. Ich meine hiermit nicht bloß, daß es der Begeisterung die intellektuelle Basis gegeben hat, auf der seine Kraft beruht, oder jenen unverkennbaren Einfluß, an den Wordsworth wohl dachte, wenn er so schön sagte, daß die Poesie nur der leidenschaftliche Ausdruck des Wissens ist, und daß, wenn die Wissenschaft Fleisch und Blut werden wolle, der Dichter ihr für diesen Prozeß der Belebung seinen göttlichen Geist leihen müsse. Auch will ich nicht auf die große kosmische Gefühlserregung und den tiefen wissenschaftlichen Pantheismus hinweisen, die Shelley zuerst und nach ihm Swinburne in unseren Tagen mit dem Strahlenglanze des Liedes verklärt haben, sondern ich spreche vielmehr von dem Einflüsse der Wissenschaft auf den künstlerischen Geist, der sich darin kundtut, daß er jene genaue Beobachtung und das Bewußtsein der Beschränkung und des klaren Blicks bewahrt hat, die die Kennzeichen des wahren Künstlers sind.

Die große und goldene Regel der Kunst, schrieb William Blake, ist, daß ein Kunstwerk um so vollkommener ist, je deutlicher, schärfer und bestimmter seine Grenzlinie hervortritt, und daß die Anzeichen von schwacher Nachahmung, Plagiat und Stümperei sich um so mehr zeigen, je weniger scharf und klar diese ist. »Die großen Erfinder aller Zeiten wußten dies wohl – Michelangelo und Albrecht Dürer zeichnen sich hierdurch allein aus«, und ein andermal schrieb er mit der ganzen einfachen Geradheit des 19. Jahrhunderts »verallgemeinern heißt ein Idiot sein«.

Und diese Liebe zu einer bestimmten Auffassung, diese Klarheit des Blicks, dies künstlerische Bewußtsein der Beschränkung ist das Kennzeichen jedes großen Werkes und jeder echten Poesie; der Vision Homers und der Dantes, der eines Kants und William Morris, wie der Cheniers und Theokrits. Sie liegt allen edlen sowohl realistischen wie romantischen Werken zugrunde im Gegensatz zu den farblosen und leeren Abstraktionen unserer Dichter des 18. Jahrhunderts und der klassischen Dramatiker Frankreichs oder der unklaren Vergeistigungen der deutschen sentimentalen Schule; im Gegensatz auch zu jenem Geiste des Transzendentalismus, der zugleich die Wurzel und die Blüte der großen Revolution war. Er bildet die Grundlage der leidenschaftlichen Betrachtung Wordsworths und gab dem adlergleichen Fluge Shelleys Flügel und Feuer, er hat uns auf dem Gebiete der Philosophie, wenn auch heute der Materialismus und Positivismus ihn verdrängt haben, doch zwei große Schulen des Gedankens vererbt, die Schule Newmans in Oxford, die Schule Emersons in Amerika. Aber dem Geiste der Kunst ist dieser Geist des Transzendentalismus fremd. Denn der Künstler kann keine Sphäre des Lebens an Stelle des Lebens selbst annehmen. Er kann den Banden der Erde nicht entfliehen; er wünscht nicht einmal, ihnen zu entfliehen.

Er ist in der Tat der einzige wahre Realist; der Symbolismus, der das Wesen des transzendentalen Geistes ist, ist ihm fremd. Die metaphysische Seele Asiens schafft als ihren Ausdruck das widernatürliche, vielbrüstige Götzenbild von Ephesus, aber für den Griechen, der ein reiner Künstler ist, ist das Werk am meisten von geistigem Leben erfüllt, das am klarsten mit den vollkommenen Tatsachen des körperlichen Lebens übereinstimmt.

»Der Sturm der Revolution verlöscht«, wie André Chenier gesagt hat, »die Fackel der Poesie«. Für kurze Zeit macht sich der Einfluß eines solchen wilden Kataklysmus aller Dinge nicht fühlbar. Zuerst scheint gerade das Streben nach Gleichheit Persönlichkeiten von riesenhafterer und titanischerer Natur hervorgebracht zu haben, als sie die Welt je zuvor gesehen hatte. Es ertönte die Lyra Byrons, und Napoleons Legionen erschienen; es war eine Zeit maßloser Leidenschaften und maßloser Verzweiflung; Ehrgeiz und Unzufriedenheit rührten die Saiten des Lebens und der Kunst; durch diese Phase muß der menschliche Geist hindurch, aber er kann in ihr keine Ruhe finden. Denn das Ziel der Kultur ist nicht Rebellion, sondern Frieden; das Tal des Grauens, wo bei Nacht die Waffen wilder Heere aufeinander schlagen, ist kein passender Wohnsitz für diejenige, der die Götter die heiteren Hochlande und sonnigen Gipfel mit ihrer klaren, ungetrübten Luft bestimmt haben.

Und jener Drang nach Vervollkommnung, welcher der Revolution zugrunde lag, fand bald in einem jungen, englischen Dichter seine reinste und geläutertste Verkörperung. Phidias und die Meisterwerke der griechischen Kunst sind schon in Homer angedeutet. Dante ist für uns bloß eine Verkündung der Leidenschaft, der Farbenglut und der Gewalt italienischer Malerei. Der moderne Natursinn stammt von Rousseau, und in Keats entdeckt man die Anfänge der künstlerischen Renaissance in England. Byron war ein Rebell und Shelley ein Träumer; Keats aber in der ruhigen Klarheit seines Blickes, seinem unbeirrten Schönheitssinn und seiner Erkenntnis, daß die Phantasie ihr besonderes Reich hat, war der reine und lautere Künstler, der Vorläufer der präraffaelitischen Schule und so der großen romantischen Strömung, von der ich sprechen will. Zwar hatte Blake vor ihm der Kunst eine hohe, geistige Mission zugeschrieben und danach gestrebt, die Zeichnung zu der idealen Höhe der Poesie und Musik zu erheben, aber eine gewisse Schwäche des Blickes sowohl in der Malerei als in der Dichtung und unvollkommene technische Fähigkeiten hatten ihn verhindert, wirklichen Einfluß auszuüben. In Keats fand der künstlerische Geist dieses Jahrhunderts zuerst seine vollständige Verkörperung.

Um aber von den vorher genannten Präraffaeliten zu sprechen, was sind sie? Fragt man neun Zehntel des britischen Publikums, was das Wort »ästhetisch« bedeutet, so werden sie sagen, daß es französisch für Ziererei oder deutsch für Zimmergetäfel ist. Wenn man sich dann weiter über die Präraffaeliten erkundigt, wird man von einer Schar exzentrischer junger Leute hören, für die eine Art göttlicher Verschrobenheit und heiliger Unbeholfenheit die Hauptziele der Kunst waren. Nichts von ihren großen Männern zu wissen, bildet ja einen der notwendigen Bestandteile englischer Erziehung.

Was die Präraffaeliten angeht, so ist die Geschichte einfach genug. Im Jahre 1847 pflegte eine Anzahl junger Londoner Männer, begeisterte Anhänger von Keats, zusammenzukommen, um sich in Erörterungen über Kunst zu ergehen. Das Ergebnis dieser Erörterungen war, daß das englische Philisterpublikum plötzlich aus seiner gewöhnlichen Gleichgültigkeit aufgeschreckt wurde, als es hörte, daß in seiner Mitte eine Schar junger Männer sei, die einen Umsturz in der englischen Malerei und Poesie hervorzurufen beschlossen habe. Sie nannten sich die präraffaelitische Brüderschaft. In England bedeutete damals wie jetzt der Versuch, etwas wirklich Schönes hervorzubringen, soviel als sich seiner ganzen bürgerlichen Rechte begeben; und dann besagten die Mitglieder dieser präraffaelitischen Brüderschaft – unter denen die Namen Dante Rossetti, Holman Hunt und Millais wohlbekannt sein werden – etwas, was das englische Publikum nie verzeiht: Jugend, Kraft und Begeisterung.

Die Satire, die immer ebenso unfruchtbar ist wie schmachvoll, so unfähig wie unverschämt, leistete ihnen den üblichen Tribut, den die Mittelmäßigkeit dem Genie zollt; sie tat dem Publikum, wie immer, unendlichen Schaden, machte es blind gegen das Schöne, lehrte es jenen Mangel an Ehrfurcht, aus dem alles Gemeine und Enge im Leben entspringt, konnte aber dem Künstler nichts anhaben, sondern bestärkte ihn vielmehr in der Überzeugung von der vollkommenen Richtigkeit seines Werkes und seines Ehrgeizes. Denn mit Dreiviertel von ganz England in allen Punkten im Widerspruch zu sein, ist eins der Grundelemente der Gesundheit, eine der tiefsten Tröstungen in allen Augenblicken geistigen Zweifels.

Was die Ideen angeht, die diese jungen Leute der Wiedergeburt der englischen Kunst zuführten, so erscheint als Grundlage ihrer künstlerischen Schöpfungen der Wunsch, der Kunst sowohl einen tieferen geistigen als auch dekorativen Wert zu geben.

Sie nannten sich Präraffaeliten, nicht als ob sie die frühen italienischen Meister irgendwie nachgeahmt hätten, sondern weil sie in ihren Werken im Gegensatz zu den gefälligen Abstraktionen Raffaels einen kräftigeren Realismus der Phantasie und einen sorgfältigeren Realismus der Technik, eine glühendere und lebendigere Anschauungsgabe und eine innigere und intensivere Individualität zu fordern vermeinten.

Denn es genügt nicht, daß ein Werk sich der ästhetischen Forderungen seines Zeitalters anpaßt; wenn es uns dauernden Genuß bereiten soll, so muß es auch das Gepräge einer bestimmten Individualität tragen, einer Individualität, die von der der gewöhnlichen Menschen weit abweicht, die uns ergreift durch etwas Neues und Wunderbares in dem Werke selbst und die gerade durch das Außergewöhnliche ihrer Äußerungen in uns einen lauten Widerhall weckt. La personalité, sagt einer der größten modernen Kritiker Frankreichs, voilà ce qui nous sauvera.

Aber vor allen Dingen war es eine Rückkehr zur Natur – eine Formel, die auf so viele und so verschiedene Bestrebungen zu passen scheint. Sie zeichneten und malten nur, was sie sahen; sie versuchten sich die Dinge vorzustellen, wie sie wirklich geschahen. Später kamen zu dem alten Hause an der Blackfriars Bridge, wo diese junge »Brüderschaft« sich zu treffen und zu arbeiten pflegte, noch zwei junge Leute aus Oxford, Edward Burne-Jones und William Morris. Jener setzte an Stelle des einfacheren Realismus der Frühzeit einen erlesenen Geist der Auswahl, einen geläuterten Schönheitssinn, ein intensiveres Streben nach Vollkommenheit; er ist ein Meister feiner Zeichnung und der geistigen Anschauung. Er ist mehr der Schule von Florenz als der von Venedig verwandt, denn er fühlte, daß die ängstliche Nachahmung der Natur ein störendes Element in der auf die Phantasie aufgebauten Kunst sei. Der sichtbare Anblick des modernen Lebens stört ihn nicht; seine Aufgabe ist es vielmehr, allem Schönen aus der griechischen, italienischen und keltischen Überlieferung Ewigkeit zu geben. Morris verdanken wir dichterische Werke, deren vollendete Präzision und Klarheit in Wort und Anschauung in der Literatur unseres Landes nicht ihresgleichen hat, und ferner hat er durch die Neubelebung der dekorativen Künste der individualisierten romantischen Bewegung auch die soziale Idee und soziale Bedeutung gegeben.

Aber die Umwälzung, die dieser Kreis von jungen Leuten mit Hilfe von Ruskins glänzender und feuriger Beredsamkeit hervorbrachte, war nicht bloß eine solche der Ideen, sondern auch der Ausführung, nicht des Denkens allein, sondern auch des Schaffens.

Denn die großen Epochen in der historischen Entwicklung der Kunst sind nicht nur Epochen einer erhöhten Empfindungsfähigkeit oder Begeisterung für die Kunst gewesen, sondern in erster Linie und vor allem solche neuer technischer Vervollkommnung. Die Entdeckung von Marmorbrüchen in den purpurnen Schluchten des Pentelikus und auf den kleinen niedrigen Hügeln der Insel Paros gab den Griechen die Gelegenheit für die größere Lebensfülle in der Ausführung und den sinnlicheren und einfacheren Humanismus, welchen der ägyptische Bildhauer, der mühsam in dem harten Porphyr und rosenfarbigen Granit der Wüste arbeitete, nicht erreichen konnte. Der Glanz der venetianischen Schule begann mit der Verwendung der Ölfarbe in der Malerei. Den Fortschritt in der modernen Musik verdankt man ausschließlich der Erfindung neuer Instrumente und keineswegs dem Umstande, daß etwa der Musiker sich eines weiteren sozialen Zieles bewußt geworden wäre. Der Kritiker mag versuchen, die unausgeführten Auflösungen Beethovens aus irgendeinem Bewußtsein der Unvollkommenheit des modernen Geistes zu erklären, der Künstler würde darauf geantwortet haben, wie einer es später tat: »Sie mögen die Quinten heraussuchen und uns in Ruhe lassen.«

Und so ist es auch in der Dichtkunst; all jene Liebe zu seltsamen französischen Strophenformen, wie der Ballade, der Villanelle, dem Rondel, die erhöhte Schätzung kunstvoller Alliterationen und seltsamen Worte und Kehrreime, wie wir sie bei Dante, Rossetti und Swinburne finden, sind nur ein Versuch, Flöte, Geige und Trompete zu vervollkommnen, damit durch sie der Geist der Zeit und die Lippen des Dichters die Musik ihrer mannigfachen Botschaften verkünden.

Und nicht anders war es mit unserer romantischen Bewegung. Sie ist eine Reaktion gegen die leere konventionelle Arbeit und die nachlässige Ausführung der früheren Poesie und Malerei. Die Gemälde von Rossetti und Burne-Jones offenbaren eine weit reichere Schönheit der Zeichnung und Pracht der Farbe, als sie die englische Kunst früher jemals gezeigt hat. Die Dichtungen Rossettis und ebenso die von Morris, Swinburne und Tennyson zeichnen sich aus durch eine vollendete Präzision und Gewähltheit der Sprache, einen makellosen und kraftvollen Stil, ein Suchen nach lieblichen und köstlichen Melodien und ein durchgehendes Bewußtsein des musikalischen Wortes jedes einzelnen Wortes im Gegensätze zu seinem bloß begrifflichen Werte. In dieser Beziehung stimmte sie mit der romantischen Bewegung in Frankreich überein, für welche Théophile Gautier einen charakteristischen Ausdruck findet, wenn er dem jungen Dichter den Rat gibt, alle Tage sein Wörterbuch zu lesen als das einzige Buch, das wert sei, von einem Dichter gelesen zu werden.

Während also das Arbeitsmaterial so verfeinert wird und man entdeckt, daß es in sich undefinierbare und ewige Vorzüge birgt, Vorzüge, die den dichterischen Sinn vollkommen befriedigen und zu ihrer ästhetischen Wirkung keine erhabene geistige Anschauung, keine tiefe Kritik des Lebens, ja nicht einmal eine leidenschaftliche menschliche Erwägung bedürfen, sind doch der Geist und die Methode des dichterischen Schaffens – das, was man gewöhnlich seine Inspiration nennt – nicht dem regelnden Einflusse des künstlerischen Geistes entgangen. Nicht als ob die Phantasie ihre Flügelkraft verloren hätte, aber wir haben uns daran gewöhnt, ihre zahllosen Pulsschläge zu zählen, ihre schrankenlose Kraft zu berechnen und ihre zügellose Freiheit zu zügeln.

Für die Griechen hatte dies Problem der Bedingungen der dichterischen Produktion und des Verhältnisses des unbewußten, spontanen und des bewußten Schaffens etwas besonders Anziehendes. Der Mystizismus Platos wie der Rationalismus des Aristoteles beschäftigt sich damit. Später in der italienischen Renaissance erregte es das lebhafteste Interesse solcher Männer wie Leonardo da Vinci. Schiller versuchte das Gleichgewicht zwischen Form und Gefühl herzustellen, Goethe die Stellung der Selbsterkenntnis in der Kraft zu bestimmen. Wordworths Definition der Poesie als »Erregung, deren man sich in Ruhe erinnert«, kann als begriffliche Zergliederung einer der Stufen betrachtet werden, durch welche jedes Werk der Phantasie hindurchgehen muß; und in Keats' Sehnsucht, »ohne dieses Fieber zu schaffen« (ich zitiere aus seinem Briefe), seinem Streben, an die Stelle des dichterischen Feuers »eine gedankenvollere und ruhigere Kraft« zu setzen, können wir das wichtigste Moment in der Entwicklung seines Künstlerlebens erkennen. Die Frage ist auch früh und in seltsamer Weise in Ihrer Literatur aufgetaucht; und ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, einen wie tiefen und lebhaften Eindruck die jungen Dichter der französischen romantischen Bewegung von Edgar Allan Poes Analyse der Tätigkeit seiner eigenen Phantasie bei der Schöpfung jenes unvergleichlichen Gedichtes empfingen, das wir unter dem Namen » der Rabe« kennen.

Im 17. Jahrhundert, als das intellektuelle und didaktische Element soweit in das Reich eingedrungen war, das der Poesie gehört, sah sich ein Künstler wie Goethe genötigt, die Ansprüche des Verstandes zurückzuweisen. »Je unverständlicher ein Gedicht für den Verstand ist, um so besser für dasselbe«, sagt er einmal, dadurch die vollständige Vorherrschaft der Phantasie in der Dichtkunst wie der Vernunft in der Prosa behauptend. In unserem Jahrhundert muß der Künstler vielmehr die Ansprüche der Erregungsvermögen, die Ansprüche der bloßen Empfindung und des Gefühls in ihre Schranken weisen. Die einfache Äußerung der Freude ist ebensowenig Poesie wie ein bloßer persönlicher Schmerzensschrei, und die wahren Erlebnisse des Künstlers sind immer diejenigen, welche keinen unmittelbaren Ausdruck finden, sondern in eine künstlerische Form gesammelt und aufgesogen werden, die von solchen wirklichen Erlebnissen am weitesten entfernt und ihnen am meisten fremd scheint. »Das Herz enthält die Leidenschaft, aber die Phantasie allein enthält die Poesie«, sagt Charles Baudelaire. Dies war auch die Lehre, die Théophile Gautier, der scharfsinnigste aller modernen Kritiker, der fesselndste aller modernen Dichter nie müde war zu lehren. »Ein Sonnenaufgang oder ein Sonnenuntergang macht auf jeden Eindruck«. Was den Künstler vor allem auszeichnet, ist nicht sowohl seine Fähigkeit, die Natur zu fühlen, als seine Fähigkeit, sie wiederzugeben. In der vollständigen Unterordnung der Fähigkeiten des Verstandes und des Gefühls unter das lebendige und gestaltende Prinzip der Poesie offenbart sich die Stärke unserer Renaissance.

Wir haben gesehen, wie der künstlerische Geist sich zuerst in der reizvollen technischen Sphäre der Sprache geltend macht, der Sphäre des Ausdrucks im Gegensatz zu dem Gegenstande, und wie er dann die Einbildungskraft des Dichters in der Behandlung seines Gegenstandes leitet.

Und jetzt möchte ich darauf hinweisen, auf welche Weise das künstlerische Genie bei der Wahl seines Stoffes vorgeht. Die Anerkennung eines besonderen Reiches des Künstlers, das Bewußtsein der vollständigen Wesensverschiedenheit zwischen der Welt der Kunst und des wirklichen Geschehens, zwischen klassischer Anmut und vollständiger Wirklichkeit bildet nicht nur die Grundlage allen ästhetischen Reizes, sondern ist auch das Kennzeichen aller großen Werke der Phantasie und aller großen Zeitalter des künstlerischen Schaffens – des Zeitalters des Phidias wie des Zeitalters Michelangelos, des Zeitalters des Sophokles wie des Zeitalters Goethes.

Die Kunst schädigt sich niemals, wenn sie sich von den sozialen Problemen des Tages fernhält; vielmehr verwirklicht sie so für uns vollkommener, was wir ersehnen. Denn für die meisten von uns ist das wirkliche Leben das Leben, das wir nicht führen. Und indem die Kunst so dem Wesen ihrer eigenen Vollkommenheit getreuer bleibt und eifersüchtiger das Ideal der ihr eigenen Schönheit wahrt, wird sie weniger dazu neigen, die Form um des Gefühls willen zu vernachlässigen oder die Leidenschaft des Schaffens als einen Ersatz für die Schönheit des Geschaffenen zu betrachten.

Der Künstler ist gewiß das Kind seiner Zeit, aber die Gegenwart wird ihm nicht im geringsten wirklicher sein als die Vergangenheit; denn gleich dem Philosophen platonischen Schauens, ist der Dichter ein Beobachter aller Zeiten und aller Zustände. Für ihn ist keine Form verbraucht, kein Stoff veraltet, nein – alles, was die Welt an Liebe und Leidenschaft gekannt hat in der Wüste Judäas oder im Tale Arkadiens, an den Flüssen von Troja oder den Flüssen von Damaskus, in den dichtbevölkerten, häßlichen Straßen der modernen Großstadt oder an den lieblichen Wegen, die nach König Arthus' Residenz Camelot führen, – alles liegt vor ihm wie eine offene Rolle, alles ist noch voll von schönem Leben. Er wird daraus entnehmen, was seinem eigenen Geiste zusagt, und nicht mehr; einige Tatsachen auswählend und andere verwerfend mit der ruhigen, künstlerischen Sicherheit desjenigen, der das Geheimnis der Schönheit besitzt. Es gibt zwar eine dichterische Haltung gegenüber allen Dingen, aber alle Dinge sind keine passenden Gegenstände für die Dichtkunst. In das sichere und heilige Haus der Schönheit läßt der wahre Künstler nichts Rauhes oder Mißtönendes ein, nichts, das Schmerz verursacht, nichts Umstrittenes, nichts, über das die Menschen disputieren. Er kann, wenn er will, sich eingehend beschäftigen mit allen sozialen Problemen seiner Zeit, Armengesetzen und Steuern, Freihandel und Bimetallismus und dergleichen; wenn er aber darüber schreibt, so tut er dies, wie Milton so schön gesagt hat, mit der linken Hand, in Prosa und nicht in Versen, in einem Pamphlet und nicht in einem lyrischen Gedicht. Diesen erlesenen Geist künstlerischer Auswahl hatte Byron nicht, und ebensowenig Wordsworth. In den Werken dieser beiden Männer ist vieles, das wir verwerfen müssen, vieles, das uns nicht jenes Gefühl vollendeter Ruhe gibt, das jede schöne Schöpfung der Phantasie auslösen sollte. Aber in Keats scheint er Wirklichkeit geworden, und in seiner lieblichen Ode auf eine griechische Urne hat er seinen sichersten und vollkommensten Ausdruck gefunden; in der prächtigen Szenenfolge des Irdischen Paradieses von Morris und den Rittern und Damen von Burn-Jones ist er das herrschende Motiv.

Es ist ganz vergeblich, wenn die Muse der Dichtkunst aufgefordert wird, sei es auch in den Posaunentönen Whitmans, aus Griechenland und Ionien auszuwandern und auf den Felsen des schneeigen Parnaß öffentlich »ausgezogen« und »zu vermieten« anzuschlagen. Kalliopes Ruf ertönt noch immer, und Asien liefert immer neue epische Stoffe; die Sphinx schweigt noch nicht und die kastalische Quelle ist noch nicht ausgetrocknet. Denn die Kunst ist das Leben selbst und weiß nichts vom Tode. Sie ist die vollkommene Wahrheit und kümmert sich nicht um Tatsachen; sie erkennt (wie ich Swinburne einmal bei einem Tischgespräch betonen hörte), daß Achilles sogar heute noch aktueller und wirklicher ist als Wellington, nicht bloß edler und interessanter als Typus und Gestalt, sondern bestimmter und wirklicher.

Die Literatur muß sich immer auf einem Prinzip aufbauen, und zeitliche Betrachtungen sind überhaupt kein Prinzip. Denn dem Dichter sind alle Zeiten und Orte gleich, das Material, das er bearbeitet, ist ewig und in aller Ewigkeit dasselbe; kein Gegenstand ist an sich abgeschmackt, keine Vergangenheit oder Gegenwart vorzuziehen. Die Dampfpfeife erschrickt ihn nicht und die Flöten Arkadiens ermüden ihn nicht. Er kennt nur eine Zeit, den künstlerischen Augenblick, nur ein Gesetz, das Gesetz der Form, und ein Land, das Land der Schönheit – ein Land, das zwar weit abliegt von der wirklichen Welt und das doch sinnlicher ist, weil es dauernder ist, ruhig, aber von jener Ruhe, die im Antlitz griechischer Statuen wohnt, der Ruhe, die nicht die Folge der Verwerfung, sondern der Verarbeitung der Leidenschaft ist, der Ruhe, die Verzweiflung und Leid nicht stören können, sondern nur kräftigen. Und so kommt es, daß derjenige, der scheinbar seiner Zeit am entferntesten gegenübersteht, zugleich der ist, der sie am besten widerspiegelt, denn er hat vom Leben alles Zufällige und Vergängliche abgestreift, jenen Dunst der Vertraulichkeit, der, wie Shelley zu sagen pflegte, uns das Lebensbild verfinstert.

Man betrachte jene seltsamen, glutäugigen Sibyllen mit dem ewig starren ekstatischen Blick, jene starkgliedrigen titanischen Propheten, auf denen das Geheimnis der Erde und des Geschicks zu lasten scheint, die die Kapelle des Papstes Sixtus in Rom bewachen und verherrlichen, verkünden sie uns nicht mehr von dem wirklichen Geiste der italienischen Renaissance, von den Träumen Savonarolas und den Sünden Borgias, als alle die zankenden Bauern und kochenden Weiber der holländischen Kunst uns von dem wirklichen Geiste der Geschichte Hollands lehren können?

Und so haben auch in unseren Tagen die beiden lebendigsten Strömungen des 19. Jahrhunderts, die demokratische und pantheistische Strömung und die Strömung, das Leben um der Kunst willen zu schätzen, ihre vollständigste und vollkommenste Äußerung in der Poesie von Shelley und Keats gefunden, die den blinden Augen ihrer eigenen Zeit wie Wanderer in der Wildnis erschienen, wie Prediger unklarer und unwirklicher Dinge. Und ich erinnere mich, wie einmal Burne-Jones, als wir über die moderne Wissenschaft sprachen, zu mir sagte: »Je materialistischer die Wissenschaft wird, um so mehr Engel werde ich malen; ihre Flügel sind mein Protest dagegen zugunsten der Unsterblichkeit der Seele.«

Aber dies sind die intellektuellen Theorien, die der Kunst zugrunde liegen. Doch wo sollen wir in den Künsten selbst jene Breite der menschlichen Sympathie finden, die die Grundbedingung alles edlen Schaffens ist; wo sollen wir in den Künsten das suchen, was Mazzini die sozialen Ideen nannte im Gegensatz zu den bloß persönlichen Ideen? Auf Grund welches Anspruches fordere ich für den Künstler die Liebe und Verehrung der Männer und Frauen der Welt? Ich glaube das beantworten zu können.

Welcher Art die geistige Botschaft ist, die ein Künstler seiner Zeit verkündet, das geht nur seine eigene Seele an. Vielleicht bringt er Gericht wie Michelangelo oder Frieden wie Angelico; er kommt in Trauer wie der große Athener oder in Freude wie der Sänger Siziliens; was bleibt uns übrig als seine Lehren hinzunehmen? Können wir doch die bitteren Lippen Leopardis nicht zum Lachen zwingen oder Goethes heiterer Ruhe nicht unsere Unzufriedenheit aufbürden. Aber als Bürge ihrer Wahrheit muß eine solche Botschaft die Flamme der Beredsamkeit auf den Lippen haben, die sie verkünden, Glanz und Herrlichkeit in der Vision, die für sie zeugt, und ihre Rechtfertigung kann nur eins sein – die makellose Schönheit und vollkommene Form ihres Ausdrucks, denn das ist die soziale Idee, d. h. die Bedeutung der Freude in der Kunst. Sie liegt niemals im gemalten Gegenstande, sondern allein in dem malerischen Zauber, dem Wunder der Farbe, der befriedigenden Schönheit der Zeichnung.

Die meisten von Ihnen haben vermutlich das große Meisterwerk von Rubens gesehen, das in der Brüsseler Galerie hängt, jenen kühnen und wundervollen Prachtaufzug von Roß und Reiter, im packendsten und feurigsten Moment wiedergegeben, wenn sich der Wind im karmoisinfarbenen Banner fängt und die Luft leuchtet vom Glanz der Waffen und dem Flammenzüngeln der Federbüsche. Nun wohl, solcherart ist Freude in der Kunst, obzwar die wunden Füße Christi dieses goldene Hügelland betreten, und diese prunkvolle Kavalkade dem Tod des Menschensohnes gilt.

Aber unser unruhiger moderner Geist ist nicht empfänglich genug für das sinnliche Element der Kunst; und so bleibt der wirkliche Einfluß der Künste vielen von uns verborgen. Nur wenige, die der Tyrannei der Seele entgehen, kennen das Geheimnis jener erhabenen Stunden, die der Gedanke nicht beherrscht.

Und das ist wohl der Grund des Einflusses, den die östliche Kunst auf uns in Europa jetzt ausübt, und der Anziehungskraft aller japanischen Arbeit. Während die westliche Welt der Kunst die unerträgliche Last ihrer eigenen intellektuellen Zweifel und die seelische Tragödie ihrer eigenen Leiden aufgebürdet hat, ist der Osten immer den ursprünglichen malerischen Bedingungen der Kunst treu geblieben.

Bei der Beurteilung einer schönen Statue zeigt sich das ästhetische Vermögen durchaus und vollkommen zufriedengestellt durch die geistigen Kurven von Marmorlippen, die stumm sind auf unsere Klagen, und durch die edle Formung von Gliedern, die machtlos sind, uns zu helfen. Von vorneherein bringt ein Gemälde keine andere geistige Botschaft mit sich, als etwa ein köstliches Bruchstück von Venetianerglas oder ein blauer Hügel aus der Mauer von Damaskus; es ist eine schön gefärbte Fläche, nichts weiter. Denn nicht auf denselben Wegen, wie die Wahrheiten des Lebens oder die der Metaphysik, sollte edle und phantasiereiche Malerei unsere Seele rühren und rührt sie in der Tat. Vielmehr erklärt sich jener malerische Reiz, der in seiner Wirkung nicht von irgendwelchen literarischen Reminiszenzen abhängt und ebensowenig ein bloßes Ergebnis einer mitteilbaren technischen Geschicklichkeit ist, allein aus einer gewissen erfinderischen und schöpferischen Behandlung der Farbe. Fast immer in der holländischen Malerei und in den Werken Georgiones oder Tizians ist er vollständig unabhängig von jeglicher ausgesprochener Poesie des Gegenstandes, liegt vielmehr in der Art der Form und Auswahl bei der Ausführung, ist an und für sich vollkommen befriedigend und hat, wie die Griechen sagen würden, sich selbst zum Endzweck.

So entspringt auch in der Poesie das wirklich Dichterische, die Freude an Gedichten nie aus dem Stoff, sondern aus der erfinderischen Behandlung rhythmischer Sprache, aus dem, was Keats »das sinnliche Leben des Verses« nannte. Das gesangliche Element im Singen, begleitet von der tiefen Freude der Bewegung, ist so lieblich, daß, während das unvollständige Leben gewöhnlicher Menschen keine Heilkraft in sich trägt, die Dornenkrone des Dichters zu unserem Vergnügen Rosen treibt; zu unserem Entzücken vergoldet seine Verzweiflung ihre eigenen Dornen, und sein Schmerz ist wie Adonis schön in seiner Qual; und wenn das Herz des Dichters bricht, so bricht es in Musik.

Und Gesundheit in der Kunst – was soll das sein? Sie hat nichts zu tun mit einer gesunden Kritik des Lebens. Es ist mehr Gesundheit in Baudelaire als in Kingsley. Gesund ist die Kunst, wenn der Künstler die Beschränkungen der Form, in der er arbeitet, anerkennt. Gesundheit ist die Ehre und die Huldigung, die er seinem Material zollt – sei es die Sprache mit ihren Herrlichkeiten oder Marmor oder Farbstoff mit den ihren – wohl wissend, daß die wahre Brüderschaft der Künste nicht darin besteht, daß die eine die Methode der anderen borgt, sondern darin, daß sie, jede mit ihren eigenen besonderen Mitteln, jede unter Einhaltung ihrer objektiven Grenzen, dasselbe einzigartige künstlerische Entzücken hervorbringen. Das Entzücken ist wie dasjenige, das uns die Musik gibt, denn die Musik ist die Kunst, in der Form und Inhalt immer eins sind, die Kunst, deren Gegenstand sich von der Methode ihres Ausdrucks nicht trennen läßt, die daher am vollständigsten das künstlerische Ideal verwirklicht und zu deren Zustand alle anderen Künste beständig hinstreben.

Welchen Rang nimmt aber nun die Kritik in unserer Kultur ein? Ich glaube, die erste Pflicht eines Kritikers ist, seinen Mund zu halten, zu jeder Zeit und über jeden Gegenstand. C'est un grand avantage de n'avoir rien fait, mais il ne faut pas en abuser. Sie haben der Operette »Patience« an hundert Abenden zugehört, und hören mich nur an einem. Dies wird zweifellos den pikanten Reiz jener Satire erhöhen, indem Sie etwas über ihren Gegenstand erfahren. Aber aus der Satire des Herrn Gilbert können Sie kein Urteil über die ästhetische Bewegung gewinnen. So wenig Sie die Macht und Schönheit von Sonne und See nach den tanzenden Sonnenstäubchen oder dem Schaum auf der Woge beurteilen sollten, dürfen Sie den Kritiker für einen untrüglichen Beurteiler der Kunst halten. Denn die Künstler, wie die griechischen Götter, offenbaren sich nur ihresgleichen; wie Emerson irgendwo sagt; bloß die Zeit vermag ihren wahren Wert und Rang zu bestimmen. Auch in dieser Beziehung ist sie allmächtig. Der wahre Kritiker wendet sich niemals an den Künstler, sondern nur an das Publikum. Ihm gilt sein Wirken. Die Kunst kann nie irgendein anderes Ziel haben als ihre eigene Vollkommenheit; des Kritikers Aufgabe ist es, der Kunst auch ein soziales Ziel zu schaffen, indem er die Menschen lehrt, in welchem Geiste sie an alles künstlerische Werk herantreten, wie sie es lieben, wie sie eine Lehre daraus ziehen sollen.

Alle diese Aufforderungen an die Kunst, sich mehr in Einklang mit dem modernen Fortschritt und der Zivilisation zu setzen und sich zum Sprachrohr für die Stimme der Menschheit zu machen, diese Aufforderung an die Kunst, »eine Botschaft zu haben«, sind Aufforderungen, die sich an das Publikum richten sollten. Die Kunst, die die Bedingungen der Schönheit erfüllt hat, hat alle Bedingungen erfüllt; es ist Sache des Kritikers, die Menschen zu lehren, wie sie in der Ruhe einer solchen Kunst den höchsten Ausdruck ihrer eigenen stürmischsten Leidenschaften finden können. »Ich hege keine Ehrfurcht«, sagt Keats, »vor dem Publikum oder vor irgend etwas Existierendem, außer vor dem ewigen Wesen, dem Andenken großer Männer und dem Prinzip der Schönheit.«

So also ist der Geist beschaffen, der, wie ich sagen darf, unsere englische Renaissance leitet und ihr zugrunde liegt; eine vielseitige und wundervolle Renaissance, die starken Ehrgeiz und große Persönlichkeiten hervorgebracht hat, und die doch trotz all der herrlichen Werke der Dichtkunst, der dekorativen Künste und der Malerei, trotz der vielfach gesteigerten Anmut und Grazie in Kleidung, Hausgerätschaften und dergleichen noch nicht vollständig ist. Denn es gibt keine große bildende Kunst ohne ein schönes Nationalleben, und Englands kaufmännischer Geist hat dies vernichtet; auch kein großes Drama ohne ein edles Nationalleben, und Englands kaufmännischer Geist hat auch das vernichtet.

Nicht als ob der Marmor in seiner heiteren Ruhe die Last des modernen Geistes nicht tragen oder das Feuer der romantischen Leidenschaft nicht voll ausdrücken könnte – das Grabmal des Herzogs Lorenzo und die Kapelle der Medici beweisen das Gegenteil – aber, wie Thèophile Gautier zu sagen pflegte, die sichtbare Welt ist tot, le monde visible a disparu.

Es ist auch nicht etwa der Roman, der das Schauspiel vernichtet, wie uns einige Kritiker glauben machen möchten. Die romantische Periode Frankreichs beweist es; die Werke Balzacs und Hugos reiften nebeneinander, ja sie ergänzten einander sogar, obwohl keiner von beiden es merkte. Alle anderen Formen der Poesie können in einem unedlen Zeitalter blühen; der prächtige Individualismus des Lyrikers, der sich von seiner eigenen Leidenschaft nährt und an seiner eigenen Kraft entzündet, kann wie eine Feuersäule sowohl durch die Wüste gehen wie durch liebliche Orte. Er ist nicht weniger herrlich, wenn auch niemand ihm folgt, ja vielleicht feuert ihn gerade die größere Erhabenheit seiner Einsamkeit zu höheren Äußerungen an und steigert die Klarheit seines Gesanges. Von dem gemeinen Schmutz des niederen Lebens, das ihn umgibt, erhebt sich der Träumer oder der Idyllendichter auf den unsichtbaren Schwingen der Dichtkunst, wandert in Rehfell gehüllt mit dem Speere durch die mondbeleuchteten Höhen des Kithäron, wenn auch Faun und Bacchantin dort keine Tänze mehr aufführen. Wie Keats streift er vielleicht durch die alten Wälder von Latmos oder steht wie Morris mit dem Wikinger auf dem Verdeck der Galeere, wenn der Vikingerkönig und die Galeere längst verschwunden sind. Aber das Drama ist der Platz, wo sich Kunst und Leben begegnen; es handelt, nach Mazzini, nicht bloß vom Menschen, sondern vom sozialen Menschen, vom Menschen in seinem Verhältnis zu Gott und der Menschheit. Es ist das Produkt einer Periode großer, nationaler, geeinigter Kraft. Ohne ein hochherziges Publikum ist es undenkbar und gehört daher Zeitaltern an, wie es das Zeitalter der Elisabeth in London und das des Perikles in Athen war. Es ist ein Teil der hohen Moral und des geistigen Feuers, die die Griechen beseelten nach Vernichtung der persischen Flotte, und die Engländer nach der Zerstörung der spanischen Armada.

Shelley fühlte, wie unvollständig unsere Bewegung in dieser Hinsicht sei, und zeigte in einer großen Tragödie, wie er durch Erregung von Furcht und Mitleid unser Zeitalter reinigen wollte. Aber trotz der »Cenci« ist das Drama eine der künstlerischen Formen, in denen der Genius Englands in unserem Jahrhundert umsonst einen Ausdruck sucht. Er hat keine würdigen Nachahmer gefunden.

Wir sollten uns vielleicht eher ihnen zuwenden, daß diese unsere große Bewegung vollenden und vervollkommnen. Denn etwas Hellenisches ist in eurer Luft und eurer Welt, etwas, das einen frischeren Hauch von der Freude und der Kraft des England der Elisabeth hat, als uns unsere alte Zivilisation geben kann. Denn ihr seid wenigstens jung; »keine hungrigen Generationen treten euch nieder«, und die Vergangenheit ermüdet euch nicht mit der unerträglichen Last ihrer Erinnerungen und äfft euch nicht mit den Ruinen einer Schönheit, deren Geheimnis euch verloren ging. Gerade der Mangel einer Tradition, der, wie Ruskin meinte, euren Flüssen das Lachen und euren Blumen das Licht raubt, ist vielleicht vielmehr die Quelle eurer Freiheit und Kraft. Mit der vollkommenen Sachlichkeit und Sorglosigkeit der Regungen der Tiere und der Reinheit der Gefühle der Bäume in den Wäldern und des Grases am Wegrand in der Literatur zu sprechen, ist von einem eurer Dichter als ein makelloser Triumph der Kunst bezeichnet worden; es ist ein Triumph, den ihr, allen Nationen voran, vielleicht bestimmt seid, zu erreichen. Denn die Stimmen, die im Meere und auf den Bergen wohnen, sind nicht allein die Musik, die sich die Freiheit zur Sprache erkoren hat. Andere Botschaften sind in dem Wunder der windumtosten Höhe und der Majestät der stillen Tiefe, Botschaften, die, wenn Ihr nur auf sie hören wollt, euch vielleicht die Pracht einer neuen Phantasie, das Wunder einer neuen Schönheit erschließen werden.

»Ich sehe«, sagt Goethe, »die Dämmerung einer neuen Literatur voraus, die alle Völker als ihre eigene betrachten können, da alle zu ihrer Gründung beigetragen haben.« Wenn dem so ist und das Material einer Zivilisation euch umgibt, die so groß ist wie die Europas, welchen Nutzen – werdet Ihr mich fragen – wird das Studium unserer Dichter und Maler dann für euch haben? Ich könnte entgegnen, daß sich der Verstand ohne einen unmittelbaren, belehrenden Zweck mit einem künstlerischen und historischen Problem beschäftigen kann, daß der Verstand bloß den Drang hat, sich tätig zu wissen; daß nichts, was Männer oder Frauen jemals interessiert hat, aufhören kann, ein passender Gegenstand für die Kultur zu sein.

Ich könnte Sie daran erinnern, was ganz Europa dem Leid eines einzigen verbannten Florentiners in Verona verdankt oder der Liebe Petrarkas an jener kleinen Quelle im Süden Frankreichs; ja noch mehr, wie sogar in diesem öden materialistischen Zeitalter der einfache Ausdruck des einfachen Lebens eines alten Mannes, das fern von dem Lärme der großen Städte unter den Seen und nebligen Hügeln von Cumberland dahinfloß, England Schätze von neuer Freude erschlossen hat, im Vergleich mit denen die Schätze seines Luxus so unfruchtbar sind wie das Meer, das es zu seiner Landstraße gemacht hat, und so bitter wie das Feuer, das es zu seinem Sklaven machen möchte. Aber ich glaube, ein solches Studium wird euch erkennen lehren, was wirkliche künstlerische Kraft bedeutet: nicht als ob ihr die Werke großer Männer nachahmen solltet; aber ihren künstlerischen Geist, ihr künstlerisches Verhalten solltet ihr, meine ich, in euch aufnehmen.

Denn wenn den Schaffensdrang, sowohl bei Nationen als Individuen, nicht auch die kritische und die ästhetische Fähigkeit begleitet, so wird er sicherlich seine Kräfte zwecklos vergeuden. Er wird vielleicht den Geist künstlerischer Auswahl vermissen lassen oder sich in dem Gefühl für Form irren oder endlich falschen Idealen folgen. Denn die verschiedenen geistigen Formen der Einbildungskraft haben eine natürliche Verwandtschaft mit gewissen sinnlichen Formen der Kunst, und die Eigenschaften jeder Kunst zu erkennen, ihre Grenzen wie ihre Ausdrucksmöglichkeiten scharf hervorzuheben, ist eins der Ziele, das die Kultur uns stellt. Nicht ein gesteigertes moralisches Gefühl ist es oder eine strengere moralische Aufsicht, die eure Literatur bedarf. Man sollte tatsächlich nie von einem moralischen oder unmoralischen Gedichte sprechen. Gedichte sind gut oder schlecht geschrieben, das ist alles. Und jegliches moralische Element oder eine stillschweigende Bezugnahme auf einen Maßstab von Gut oder Böse in der Kunst beweist eine gewisse Unzulänglichkeit der Anschauungsgabe, oft auch eine Disharmonie in einer Schöpfung der Phantasie; denn jede gute Arbeit zielt nach rein künstlerischer Wirkung. »Wir müssen uns hüten,« sagt Goethe, »die Kultur immer nur in dem rein Moralischen zu suchen. Alles, was groß ist, fördert die Zivilisation, sobald wir es nur gewahr werden.« Aber sowohl in euren Städten als auch in eurer Literatur ist es gerade eine feste Regel und ein Maßstab des Geschmacks, ein verfeinertes Schönheitsgefühl, was fehlt. Jede edle Arbeit ist nicht bloß national, sondern universell. Geistige Freiheit wird euer großzügiges Leben, die freie Luft, die ihr atmet, euch gewähren. Von uns werdet ihr klassische Beschränkung der Form lernen. Denn alle große Kraft ist feine Kunst; Rauheit hat wenig mit Stärke gemeinsam und Härte wenig mit Kraft. »Der Künstler«, sagt Swinburne, »muß vollständig klar sein.«

Diese Beschränkung ist für den Künstler vollkommene Freiheit; sie ist zugleich der Grund und das Zeichen seiner Stärke. Daher sind auch alle höchsten Meister des Stils – Dante, Sophokles, Shakespeare – zugleich die höchsten Meister seelischen und geistigen Schauens. Liebet die Kunst um ihrer selbst willen, und alles, was ihr noch braucht, wird euch gegeben werden. Diese Freude an der Schönheit und an der Schöpfung schöner Dinge ist das Zeichen aller großen Zivilisationen. Die Philosophie mag uns lehren, das Unglück unserer Mitmenschen mit Gleichmut zu ertragen, und die Wissenschaft den moralischen Sinn in eine Absonderung von Zucker auflösen, aber die Kunst ist das, was das Leben jedes Bürgers zum Sakrament macht und nicht zu einer Spekulation; die Kunst ist es, die das Leben der ganzen Rasse unsterblich macht. Denn die Schönheit ist das einzige, was die Zeit nicht zerstören kann – Philosophien sinken dahin wie Sand, Religionen folgen einander, wie die welken Blätter des Herbstes, aber was schön ist, bleibt eine Freude zu jeder Zeit, ein Besitztum für alle Ewigkeit. Kriege und Waffengeklirr und der Zusammenprall von Männern in der Schlacht auf zertrampeltem Felde oder vor der belagerten Stadt, und die Erhebung von Völkern müssen immer sein. Aber ich glaube, daß die Kunst durch Schöpfung einer gemeinsamen geistigen Atmosphäre zwischen allen Ländern, wenn sie auch nicht die Welt mit den silbernen Schwingen des Friedens überschatten kann, die Menschen doch soweit zu Brüdern machen könnte, daß sie nicht mehr ausziehen würden, um einander um der Laune oder Torheit eines Königs oder Ministers willen zu erschlagen, wie das in Europa geschieht. Die Brüderlichkeit würde nicht mehr mit den Händen Kains kommen, und die politische Befreiung nicht mehr die natürliche Freiheit mit dem Kusse der Anarchie verraten; denn der nationale Haß ist immer da am stärksten, wo die Kultur am tiefsten steht. Als Goethe vorgeworfen wurde, daß er nicht wie Körner gegen die Franzosen geschrieben habe, sagte er: »Wie hätte ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte!« Große Reiche müssen so lange bestehen, als persönlicher Ehrgeiz und der Zeitgeist eins sind; aber die Kunst ist das einzige Reich, das die Feinde einer Nation ihr nicht durch Eroberung nehmen können, sondern das bloß durch Unterwerfung genommen wird. Die Herrschaft von Griechenland und Rom ist noch nicht dahin, wenn auch die Götter des einen tot sind und die Adler des anderen müde sind. Und wir streben in unserer Renaissance danach, eine Herrschaft zu schaffen, die England noch besitzen wird, wenn seine gelben Leoparden kampfesmüde sein werden und die Rose in seinem Schild nicht mehr vom Blut der Schlachtfelder gerötet ist.

Und auch ihr, indem ihr dem edlen Herzen eines großen Volkes diesen durchdringenden künstlerischen Geist einflößt, werdet euch Reichtümer schaffen, wie ihr sie nie noch geschaffen habt, obwohl euer Land ein Netzwerk von Eisenbahnen ist und die Häfen eurer Städte die Schiffe der Welt beherbergen.

Ich weiß wohl, daß die göttliche natürliche Anlage zur Schönheit, die das unveräußerliche Erbteil des Griechen und Italieners ist, nicht unser Erbteil ist. Jenen lenkenden und leitenden Kunstsinn, der uns vor allen herben und schädlichen Einflüssen schützen soll, müssen wir, die Angehörigen der nordischen Rassen, eher in jenem starken Selbstbewußtsein unseres Zeitalters suchen, das, wie es die Grundnote unserer ganzen romantischen Kunst ist, die Quelle aller oder beinahe unserer ganzen Kultur sein muß. Ich meine jene intellektuelle Neugierde des neunzehnten Jahrhunderts, welche immer nach dem Geheimnis des Lebens sucht, das alten vergangenen Kulturformen noch anhaftet. Sie entnimmt jeder, was dem modernen Geiste noch dienen kann, Athen seine wunderbaren Schöpfungen ohne seine Religion, Venedig seinen Glanz ohne seine Sünde. Derselbe Geist denkt immer nach über seine eigene Stärke und seine Schwäche, erwägt, was er dem Osten und dem Westen verdankt, den Ölbäumen des Kolonos und den Zedern des Libanon, was Gethsemane und dem Garten der Proserpina.

Und doch können die Wahrheiten der Kunst nicht gelehrt werden. Sie offenbaren sich nur, offenbaren sich Naturen, welche sich für alle schönen Eindrücke empfänglich gemacht haben, indem sie schöne Dinge studierten und verehrten. Daher stammt die ungeheure Wichtigkeit, die unsere englische Renaissance den dekorativen Künsten beilegt; daher stammen jene Wunder der Linienführung aus der Hand von Edward Burne-Jones, daher all das Weben von Wandbekleidungen, die Glasmalerei und die schönen Arbeiten in Ton, Metall und Holz, die wir William Monis verdanken, dem größten Kunsthandwerker, den wir in England seit dem vierzehnten Jahrhundert gehabt haben.

So wird in künftigen Jahren nichts in irgendeines Mannes Hause sein, das seinem Schöpfer nicht Freude gemacht hat und dem, der es gebraucht, nicht Freude macht. Die Kinder werden, wie die Kinder von Platos Idealstaat, »in einer einfachen Atmosphäre alles Schönen« aufwachsen – ich zitiere aus der Stelle in Platos Republik – »einer einfachen Atmosphäre alles Schönen, wo die Schönheit, die der Geist der Kraft ist, Auge und Ohr wie ein frischer Windhauch berühren wird, der Gesundheit von einem frischen Hochlande bringt, und unmerklich und allmählich die kindliche Seele zu allem Wissen und aller Weisheit leiten wird, so daß das Kind das Schöne und Gute lieben und das Böse und Häßliche (denn die sind immer zusammen) hassen wird lange, ehe es den Grund dazu kennt; und dann, wenn die Vernunft kommt, sie wie einen Freund mit einem Kusse auf die Wange begrüßen wird.«

Das ist es, was nach Platos Meinung die dekorative Kunst für ein Volk tun kann. Er fühlte, daß das Geheimnis nicht bloß der Philosophie, sondern alles edlen Lebens dem äußerlich verschlossen bleiben könnte, dessen Jugend in häßlicher und gemeiner Umgebung verbracht wäre, und daß die Schönheit der Form und der Farbe sogar in den gewöhnlichsten Gefäßen des Hausrats in das Innerste der Seele dringen und den Knaben auf natürlichem Wege dazu leiten wird, jene göttliche Harmonie des geistigen Lebens zu suchen, deren materielles Sinnbild und deren Bürgschaft ihm die Kunst war.

Diese Liebe zum Schönen wird in der Tat für uns das Vorspiel zu allem Wissen und aller Weisheit sein; und doch gibt es Zeiten, wenn das Wissen zur Last wird und die Weisheit eins ist mit dem Leiden. Denn, wie jeder Körper seinen Schatten, so hat jede Seele ihren Skeptizismus. Wohin sollen wir in solchen Augenblicken des Mißklangs und der Verzweiflung, wir Kinder dieses zerrissenen und unruhigen Zeitalters, unsere Schritte wenden, wenn nicht zu jenem sicheren Hause der Schönheit, wo immer ein wenig Vergessen, immer große Freude ist; zu jener città divina, wie die alte italienische Ketzerei sie nannte, jener göttlichen Stadt, wo man, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, ferne bleiben kann von der Zwietracht und dem Schrecken der Welt, ja auch von dem, was die Welt vorzieht.

Das ist jene consolation des arts, die das Grundmotiv der Poesie Gautiers ist, das Geheimnis des modernen Lebens, welches Goethe – wie alles in unserem Jahrhundert – vorgeahnt hat. Sie erinnern sich an das, was er den Deutschen sagte: »Habt nur den Mut«, sagte er, »euch euren Eindrücken hinzugeben, euch erfreuen, erregen, erheben, ja belehren, zu etwas Großem begeistern zu lassen.« Der Mut, sich seinen Eindrücken hinzugeben: ja, das ist das Geheimnis des künstlerischen Lebens; denn während die Kunst als eine Flucht vor der Tyrannei der Sinne definiert worden ist, ist sie vielmehr eine Flucht vor der Tyrannei der Seele. Aber nur denen, die sie über alles verehren, offenbart sie jemals ihren wahren Schatz; sonst wird sie euch so wenig helfen können, wie die verstümmelte Venus im Louvre dem romantischen aber skeptischen Geiste Heines.

Und ich glaube in der Tat, es wäre unmöglich, den Gewinn zu überschätzen, der uns daraus erwachsen würde, wenn wir nur das um uns hätten, was dem Schöpfer Vergnügen machte und dem Gebraucher Vergnügen macht, denn das ist die einfachste aller Regeln der Ausschmückung. Eins wenigstens, glaube ich, würde es für uns tun. Es gibt keinen sichereren Prüfstein für ein großes Land, als die Art, wie es zu seinen eigenen Dichtern steht, aber zwischen den Sängern unserer Tage und den Arbeitern, für die sie singen möchten, scheint eine sich immer erweiternde und trennende Kluft zu sein, eine Kluft, die Verleumdung und Spott nicht überbrücken können, die aber überspannt wird von den leuchtenden Schwingen der Liebe.

Und solche Liebe würde, glaube ich, die beständige Gegenwart schöner phantasiereicher Dinge in unseren Häusern am sichersten erwecken und vorbereiten. Ich meine nicht bloß mit Bezug auf den direkten literarischen Ausdruck der Kunst, durch die ein griechischer Knabe aus dem schwarzroten Öl- oder Weinkrüglein von dem Löwenmute des Achilles, der Stärke Hektors, der Schönheit des Paris und der Herrlichkeit der Helena erfahren konnte, lange ehe er auf gedrängtem Marktplatze oder im Marmortheater stand und lauschte; oder durch die ein italienisches Kind aus dem geschnitzten Türweg oder der bemalten Truhe etwas wissen konnte von der Keuschheit der Lucrezia und dem Tode der Camilla. Denn das Gute, das uns die Kunst bringt, ist nicht, was wir aus ihr lernen, sondern was wir durch sie werden. Ihr wirklicher Einfluß besteht darin, daß sie dem Geiste jene Begeisterung mitteilt, die das Geheimnis des Griechentums ist; sie wird ihn daran gewöhnen, alles von ihr zu fordern, was sie tun kann, die Tatsachen des gemeinen Lebens für uns neu zu ordnen, indem sie unseren Augenblicken der höchsten Leidenschaft die innerlichste geistige Deutung oder denjenigen unserer Gedanken, die den Sinnen am fernsten stehen, den sinnlichsten Ausdruck verleiht; sie wird den Geist daran gewöhnen, die Dinge der Einbildungskraft um ihrer selbst willen zu lieben und in allem nach Schönheit und Anmut zu streben. Denn wer nicht die Kunst in allen Dingen liebt, liebt sie überhaupt nicht, und wer nicht die Kunst in allem braucht, braucht sie überhaupt nicht.

Ich will hier nicht bei dem verweilen, was Sie sicher alle in unseren großen gotischen Kathedralen erfreut hat. Ich meine, daß der Künstler jener Zeit, selbst ein Handwerker in Stein oder Glas, die besten Motive für seine Kunst, immer zur Hand und immer schön, in der täglichen Arbeit der Handwerker gefunden hat, die er um sich sah, wie in jenen lieblichen Fenstern von Chartres, wo der Färber in die Krüge taucht und der Töpfer am Rade sitzt und der Weber am Webstuhl steht, alles wirkliche Arbeiter mit der Hand und entzückend anzusehen, nicht wie der geschniegelte und grinsende Ladendiener unserer Zeit, der nichts weiß von dem Gewebe oder der Vase, die er verkauft, als daß er einem den doppelten Wert dafür abnimmt und einen für einen Narren hält, daß man sie kauft. Auch kann ich nur beiläufig den ungeheuren Einfluß erwähnen, den die dekorative Arbeit von Griechenland und Italien auf ihre Künstler gehabt hat; die Bildhauer Griechenlands haben durch sie jenen hemmenden Einfluß der Zeichnung gelernt, der das Parthenon auszeichnet, die Maler Italiens sind immer dem ursprünglichen malerischen Wesen schöner Farbe getreu geblieben, die das Geheimnis der Schule von Venedig ist. Ich will lieber, wenigstens in dieser Vorlesung, bei der Wirkung verweilen, die die dekorative Kunst auf das menschliche Leben ausübt – auf ihrer sozialen, nicht ihrer rein künstlerischen Wirkung.

Es gibt zweierlei Menschen auf der Welt, zwei große Glaubensrichtungen, zwei verschiedene Arten von Naturen: Menschen, für die das Ziel des Lebens die Handlung ist, und Menschen, für die das Ziel des Lebens das Denken ist. Was die letzteren angeht, die die Erfahrung selbst suchen und nicht die Früchte der Erfahrung, die immer von einer der Leidenschaften dieser feuerfarbenen Welt entflammt sein müssen, die das Leben interessant finden nicht um seines Geheimnisses, sondern um seiner Situationen willen, wegen seiner Pulsschläge, nicht wegen seines Zweckes, so wird die Leidenschaft für die Schönheit, wie sie die dekorativen Künste hervorbringen, sie mehr befriedigen, als politische oder religiöse Begeisterung, Begeisterung für die Menschheit, Ekstase oder Leid der Liebe. Denn die Kunst tritt in erster Linie an uns heran mit dem Anspruch, unseren Augenblicken die höchste Wonne zu geben und nur um jener Augenblicke willen. Das gilt also von denen, für die das Ziel des Lebens das Denken ist. Was die anderen angeht, die der Meinung sind, daß es kein Leben ohne Arbeit gibt, so sollte ihnen diese Bewegung besonders teuer sein; denn, wenn unsere Lage unfruchtbar sind ohne Fleiß, so ist Fleiß ohne Kunst bloße Barbarei. Holzhauer und Wasserträger müssen zwar immer unter uns sein. Unsere modernen Maschinen haben die Arbeit des Menschen schließlich doch nicht sehr erleichtert; so möge wenigstens der Krug, der am Brunnen steht, schön sein, und die Tagesarbeit wird dadurch gewiß erleichtert werden, möge das Holz so sein, daß es eine liebliche Form, eine anmutige Zeichnung annehmen kann, und der Arbeiter wird nicht länger Unzufriedenheit, sondern Freude bei der Arbeit empfinden. Denn was ist der Schmuck anders als der Ausdruck der Freude des Arbeiters an seinem Werke. Und nicht der Freude bloß – sie ist etwas Großes, aber doch noch nicht genug –, sondern der Gelegenheit, seine eigene Individualität auszudrücken, die, wie das Wesen alles Lebens, die Quelle aller Kunst ist. »Ich habe versucht,« sagte Morris einmal zu mir, »jeden meiner Arbeiter zu einem Künstler zu machen, und wenn ich sage zu einem Künstler, so meine ich zu einem Menschen.« Dann ist für den Arbeiter, welches auch sein Handwerk sei, die Kunst nicht länger ein Purpurgewand, das von einem Sklaven gewebt und über den bleichen Körper eines aussätzigen Königs geworfen wird, um die Sünde seiner Ausschweifung zu verbergen und zu schmücken, sondern vielmehr der schöne und edle Ausdruck eines Lebens, das etwas Schönes und Edles in sich birgt.

Und so müssen Sie Ihren Arbeiter aussuchen und ihm, soweit es möglich ist, die richtige Umgebung geben, denn dann vergessen Sie nicht, daß der wirkliche Prüfstein und die Tüchtigkeit eines Arbeiters nicht auf seinem Ernst und auch nicht einmal auf seinem Fleiß beruht, sondern bloß auf seiner Fähigkeit zu entwerfen, und »der Entwurf ist nicht der Sproß müßiger Laune, er ist vielmehr das durchdachte Resultat angehäufter Beobachtung und schöner Gewohnheit«. Aller Unterricht der Welt nutzt nichts, wenn Sie den Arbeiter nicht mit glücklichen Einflüssen und schönen Dingen umgeben. Es ist unmöglich, daß er richtige Ideen über die Farbe habe, wenn er nicht die lieblichen Farben der Natur unverdorben sieht; es ist unmöglich, daß er schöne Vorfälle und Handlungen liefert, wenn er nicht schöne Vorfälle und Handlungen in der ihn umgebenden Welt sieht.

Denn um das Mitgefühl zu pflegen, muß man unter lebendigen Dingen sein und an sie denken, und um die Bewunderung zu pflegen, muß man unter schönen Dingen sein und sie betrachten. »Der Stahl von Toledo und die Seide von Genua gaben nur der Unterdrückung Stärke und dem Stolze Glanz«, wie Ruskin sagt; lassen Sie es Ihre Sache sein, eine Kunst zu schaffen, die von den Händen des Volkes zur Freude des Volkes gemacht wird und um das Herz des Volkes zu rühren; eine Kunst, die Ihr Ausdruck Ihrer Freude am Leben ist. Es gibt nichts, was im gemeinen Leben so niedrig wäre, was in gemeinen Dingen so gewöhnlich wäre, daß Ihre Berührung es nicht veredeln könnte; nichts im Leben, was die Kunst nicht heiligen kann.

Einige von Ihnen werden vermutlich in Verbindung mit der ästhetischen Bewegung in England von zwei Blumen gehört haben, von denen man (ich versichere Ihnen, mit Unrecht) behauptet, sie seien die Nahrung einiger ästhetischer junger Männer. Nun wohl, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß der Grund, warum wir die Lilie und die Sonnenblume lieben, was auch Herr Gilbert Ihnen sagen mag, nicht in irgendeiner vegetabilischen Mode zu suchen ist, sondern weil diese beiden lieblichen Blumen in England die vollkommensten Muster der Zeichnung sind, weil sie sich am natürlichsten zur dekorativen Kunst eignen, denn die prunkhafte, löwenartige Schönheit der einen, die köstliche Lieblichkeit der anderen gewähren dem Künstler die vollendetste, vollkommenste Freude.

Und so möge es bei euch sein: keine Blume sei auf euren Matten, die ihre Ranken nicht um eure Kissen flicht, kein kleines Blatt in euren Riesenwäldern, das seine Form nicht dem Zeichenstift leiht, kein gebogener Zweig der wilden Rose oder des Brombeerstrauches, der nicht im geschnitzten Schwibbogen oder Fenstersims oder in Marmor verewigt wäre. Kein Vogel sei in eurer Luft, der das schillernde Wunderspiel seiner Farben, den köstlichen Schwung seiner gespannten Flügel nicht böte, um die Köstlichkeit einfacher Verzierung noch köstlicher zu machen. Wir verbringen, ein jeder von uns, unsere Tage damit, daß wir nach dem Geheimnis des Lebens suchen. Nun wohl, das Geheimnis des Lebens liegt in der Kunst.


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