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Gehalten vor den Kunststudenten der Königlichen Akademie in ihrem Klub zu Westminster, Golden Square, am 30. Juni 1883. Der Text ist den Originalhandschriften entnommen.
In der Vorlesung, welche ich heute abend vor Ihnen zu halten die Ehre habe, beabsichtige ich nicht, Ihnen überhaupt irgendeine abstrakte Definition der Schönheit zu geben. Denn da wir künstlerisch schaffen, können wir nicht eine Theorie der Schönheit als Ersatz der Schönheit selbst hinnehmen, und daher werden wir, weit entfernt davon, sie in einer Formel, welche sich an den Verstand wendet, abstrahieren zu wollen, sie im Gegenteil in einer Form zu verkörpern suchen, welche der Seele durch die Sinne Freude bereitet. Wir wollen sie gestalten, nicht definieren. Die Definition sollte dem Kunstwerk folgen: das Kunstwerk sollte also sich nicht etwa der Definition anpassen.
Nichts ist in der Tat für den jungen Künstler gefährlicher als irgendein bestimmter Begriff von idealer Schönheit: er wird durch einen solchen beständig entweder zu schwächlicher Geziertheit oder zu lebloser Abstraktion verleitet: während man doch, um sich überhaupt dem Ideal zu nähern, es nicht seiner lebendigen Verkörperung entkleiden darf. Man muß es im Leben finden und es in der Kunst nachschaffen.
Während ich also einerseits Ihnen nicht etwa irgendeine Philosophie der Schönheit bieten will – denn heute abend will ich untersuchen, wie wir künstlerisch schaffen, nicht wie wir darüber reden können –, so will ich andererseits mich nicht mit etwas Derartigem wie einer Geschichte der englischen Kunst befassen.
Um damit zu beginnen, so ist ein Ausdruck wie »Englische Kunst« ein Ausdruck ohne rechte Bedeutung. Man könnte ebensogut von englischer Mathematik sprechen. Kunst ist die Wissenschaft der Schönheit, Mathematik die der Wahrheit: von beiden gibt es keine nationale Schule. Eine nationale Schule ist in der Tat weiter nichts als eine provinziale. Auch gibt es nicht einmal so etwas wie eine Kunstschule. Es gibt nur Künstler, weiter nichts.
Und was die verschiedenen Kunstgeschichten anlangt, so sind sie ganz wertlos für Sie, wenn Sie nicht die prunkende Vergessenheit einer Kunstprofessur erstreben. Es hat keinen Wert für Sie, die Zeitdaten Peruginos oder den Geburtsort von Salvator Rosa zu wissen: Ihr Wissen über Kunst sollte sich darauf beschränken, ein gutes Gemälde zu erkennen, wenn Sie es erblicken, und ebenso ein schlechtes Gemälde. Was die Zeit des Künstlers betrifft, so mutet alle gute Arbeit stets völlig modern an: ein Stück griechischer Bildhauerei oder ein Bildnis von Velasquez – sie sind immer modern, immer zeitgemäß. Und was die Nationalität des Künstlers angeht, so ist die Kunst nicht national, sondern universal. Die Archäologie sollten Sie also gänzlich meiden: denn sie ist bloß die Wissenschaft davon, wie man schlechte Kunst rechtfertigt; sie ist der Fels, an welchem manch junger Künstler scheitert und zugrunde geht, sie ist der Abgrund, aus welchem kein Künstler, sei er alt oder jung, je zurückkehrt. Oder, falls er doch zurückkehrt, ist er so bedeckt mit dem Staube von Zeitaltern und dem Meltau der Zeit, daß er als Künstler überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen ist, und sich den Rest seines Lebens hindurch unter einem Professorenhut verbergen muß oder als bloßer Illustrator für alte Geschichte. Wie wertlos die Archäologie in der Kunst ist, können Sie ermessen aus der Tatsache, daß sie so populär ist. Popularität ist der Lorbeerkranz, den die Welt schlechter Kunst aufsetzt. Alles, was populär ist, ist verkehrt.
Da ich also zu Ihnen nicht über die Philosophie des Schönen oder die Geschichte der Kunst sprechen will, so werden Sie mich fragen, worüber ich denn nun eigentlich sprechen will. Der Gegenstand meiner heutigen Vorlesung ist die Frage, was den Künstler macht und was der Künstler schafft; welches die Beziehungen des Künstlers zu seiner Umgebung sind, welche Erziehung der Künstler erhalten sollte und welches die Beschaffenheit eines guten Kunstwerkes ist.
Was nun die Beziehungen des Künstlers zu seiner Umgebung betrifft, worunter ich die Zeit und das Land seiner Geburt verstehe, so bemerkte ich schon, daß alle gute Kunst nichts mit irgendeinem einzelnen Jahrhundert zu tun hat; sondern gerade diese Universalität ist die Grundeigenschaft des Kunstwerkes; nur die Umstände, welche diese Eigenschaft herbeiführen, sind verschieden. Und was Sie meines Erachtens tun sollten, besteht darin, Ihr Zeitalter vollständig zu erkennen, damit Sie sich gänzlich von ihm freimachen können, indem Sie sich vor Augen halten, daß, wenn Sie überhaupt Künstler sind, Sie nicht das Sprachrohr eines Jahrhunderts, sondern ein Meister für ewige Zeiten sein werden, daß alle Kunst auf allgemeiner Grundlage beruht, daß bloß zeitliche Erwägungen überhaupt keine Grundlage sind und daß diejenigen, welche Ihnen raten, Ihre Kunst zur Vertreterin des 19. Jahrhunderts zu machen, Ihnen damit den Rat erteilen, eine Kunst hervorzubringen, welche Ihre Kinder für altmodisch halten werden. Aber Sie werden mir sagen, daß wir in einem unkünstlerischen Zeitalter leben, daß wir ein unkünstlerisches Volk seien und daß daher der Künstler in diesem unseren 19. Jahrhundert viel zu leiden hat.
Das trifft in der Tat zu. Ich werde das am wenigsten leugnen. Aber bedenken Sie, daß es nie seit Weltbeginn ein künstlerisches Zeitalter oder ein Künstlervolk gegeben hat. Der Künstler war stets und wird stets eine auserlesene Seltenheit sein. Es gibt kein goldenes Zeitalter der Kunst, nur Künstler, welche geschaffen haben, was mehr wert ist als Gold.
Und wie, werden Sie mir einwenden, ist es mit den Griechen? Waren Sie nicht ein Künstlervolk?
Nun, die Griechen sicherlich nicht, aber vielleicht meinen Sie die Athener, die Bürger einer unter tausend Städten.
Glauben Sie wirklich, daß sie ein Künstlervolk waren? Nehmen wir sogar die Zeit ihrer höchsten künstlerischen Entwicklung, der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts vor Christus, als sie die größten Dichter und die größten Künstler der antiken Welt hatten, als das Parthenon auf das Geheiß eines Phidias in Lieblichkeit erstand, der Philosoph in dem Schatten der bemalten Säulenhalle Weisheit lehrte und die Tragödie in vollendetem Gepräge und Pathos über die marmorne Bühne rauschte. Waren sie damals ein Künstlervolk? Nein, nicht im geringsten. Was ist denn ein Künstlervolk anderes als ein Volk, das seine Künstler liebt und ihre Kunst versteht? Die Athener verstanden beides nicht.
Wie behandelten sie denn Phidias? Dem Phidias verdanken wir das große Zeitalter, nicht bloß in der griechischen, sondern in aller Kunst – ich denke dabei an die Einführung des lebenden Modells.
Und was würden Sie sagen, wenn alle englischen Bischöfe, unterstützt vom englischen Volk, eines Tages von Exeter Hall zur Königlichen Akademie herunterkämen und Sir Frederik Leighton in einem Gefangenenwagen nach Newgate schleppten unter der Beschuldigung, er habe Ihnen erlaubt, vom lebenden Modell bei Ihren Entwürfen für kirchliche Gemälde Gebrauch zu machen?
Würden Sie nicht gegen die Barbarei und den Puritanismus solch eines Gedankens protestieren? Würden Sie jenen nicht klar zu machen suchen, daß die schlimmste Art, Gott zu ehren, darin besteht, dem Menschen, den er zu seinem Bilde schuf und der das Werk seiner Hände ist, Unehre anzutun; und daß, wenn man Christus malen will, man die Christus am meisten ähnliche Person, die man finden kann, nehmen muß und, wenn man die Madonna malen will, das reinste Mädchen, das man kennt?
Würden Sie nicht fortrasen und nötigenfalls Newgate niederbrennen und sagen, daß so etwas in der Geschichte ohne Gegenstück wäre?
Wirklich ohne Gegenstück? Nun, genau dasselbe taten die Athener.
In dem Raume für die Marmorbildwerke des Parthenon im Britischen Museum werden Sie an der Wand einen marmornen Schild sehen. Auf diesem befinden sich zwei Gestalten; die eines Mannes, dessen Antlitz halb verborgen ist, die andere eines Mannes mit den götterähnlichen Zügen des Perikles. Dafür nämlich, daß er in ein Relief, das die griechische heilige Geschichte behandelt, das Bild des großen Staatsmannes eingeführt hat, der Athen zu der Zeit regierte, wurde Phidias ins Gefängnis geworfen, und dort, im gewöhnlichen Gefängnisse von Athen, starb der hervorragendste Künstler der antiken Welt.
Und glauben Sie etwa, daß dies ein Ausnahmefall gewesen wäre? Das Kennzeichen eines philiströsen Zeitalters ist der Schrei über Immoralität in der Kunst, und dieser Schrei wurde vom athenischen Volk gegen jeden großen Dichter und Denker ihrer Zeit erhoben – gegen Äschylus, Euripides und Sokrates. Ebenso war es im dreizehnten Jahrhundert in Florenz. Gute Handwerker verdankt man den Gilden, nicht dem Volk. In dem Augenblick, wo die Gilden ihre Macht verloren und das Volk sich darauf stürzte, erstarben die Schönheit und Ehrlichkeit des Schaffens.
Sprechen Sie daher nie von einem Künstlervolk; es hat nie so etwas gegeben.
Aber vielleicht werden Sie mir sagen, daß die äußere Schönheit der Welt fast gänzlich von uns geschwunden ist, daß der Künstler nicht mehr inmitten der lieblichen Umgebung weilt, welche in vergangenen Zeitaltern das natürliche Erbe eines jeden waren, und daß die Kunst sehr schwierig ist zum Beispiel in dieser unserer anmutlosen Stadt, wo, wenn Sie des Morgens an Ihre Arbeit gehen oder zur Abendzeit von ihr zurückkehren, Sie durch lauter Straßen von der närrischsten und geistlosesten Bauweise gehen müssen, welche die Welt je gesehen hat, einer Bauweise, bei welcher jede anmutige griechische Form entweiht und besudelt und jede gotische Form besudelt und entweiht ist, einer Bauweise, welche drei Viertel aller Londoner Häuser so herabdrückt, daß sie lediglich, gleich vierkantigen Kästen von den gemeinsten Proportionen, ebenso häßlich wie schmutzig, ebenso ärmlich wie gespreizt sind – die Vordertür stets von verkehrter Farbe, die Fenster von verkehrter Größe, und wo sogar, wenn Sie, der Häuser überdrüssig, dazu übergehen, die Straße selbst zu betrachten, Sie nichts weiter sehen als Angströhren, Leute mit schreienden Reklamebrettern, kraßrote Briefkästen und dabei sogar noch riskieren, von einem smaragdgrünen Omnibus überfahren zu werden.
Ist nicht, so werden Sie mir sagen, die Kunst in einer solchen Umgebung wie dieser schwierig? Freilich ist sie schwierig, aber die Kunst war ja nie leicht. Sie selbst würden nicht wünschen, daß sie leicht wäre; und außerdem ist nichts des Schaffens wert als das, was die Welt unmöglich nennt.
Und doch würden Sie nicht damit zufrieden sein, wenn ich Ihnen nur mit einem Paradoxon antwortete. Welches die Beziehungen des Künstlers zur äußeren Welt sind und was die Folge des Verlustes einer schönen Umgebung für Sie ist, das ist eine der wichtigsten Fragen der modernen Kunst, und es gibt keinen Punkt, auf welchem Ruskin so besteht, wie darauf, daß der Verfall der Kunst von dem Schwinden schöner Gegenstände herrührt und daß, wenn der Künstler nicht sein Auge an der Schönheit weiden kann, die Schönheit von seinem Schaffen schwindet.
Ich erinnere mich, daß er in einer seiner Vorlesungen, nach Beschreibung des schmutzigen Anblicks einer großen englischen Stadt, vor uns ein Bild der künstlerischen Umgebung vergangener Zeiten entwirft.
Denken Sie, sagt er in Worten von vollkommener und malerischer Anschaulichkeit, deren Schönheit ich nur schwach wiedergeben kann, denken Sie sich das Bild, welches sich einem Künstler der gotischen Schule von Pisa – Nino Pisano oder einem von seinen Männern – auf seinem Nachmittagsspaziergange darbot Die beiden Pfade, Vorles. III, S. 123 (ed. 1859).:
»Zu beiden Seiten eines glänzenden Flusses sah er eine Reihe glänzender Paläste sich hinziehen, mit Gewölben und von Pfeilern getragen und getäfelt mit tiefrotem Porphyr und mit Serpentin. Die Uferdämme entlang, vor ihren Toren, ritten Scharen von Rittern, edel von Antlitz und von Gestalt, mit strahlenden Helmbüschen und Schilden, Pferd und Mann ein Labyrinth von phantastischer Farbe und strahlendem Licht – purpurne, silberne und scharlachrote Fransen wallten über die kraftvollen Glieder und klirrenden Panzer herab, gleich Meereswogen über Felsen bei Sonnenuntergang. Zu beiden Seiten des Flusses dehnten sich Gärten, Paläste und Klöster aus, lange Reihen von weißen Pfeilern zwischen Weinranken; Springbrunnen plätscherten zwischen knospenden Granatapfel- und Orangebäumen: und dazu, die Gartenwege entlang, unter dem leuchtenden Rot der Granatapfelbäume, wandelten langsam Gruppen der schönsten Frauen, welche Italien je gesehen hat – der schönsten, weil der reinsten und sinnigsten; in hohem Wissen geschult und in jeder höfischen Kunst wohlbewandert – im Tanzen, im Singen, in geistreicher Rede, in edlem Wissen, in edlerem Mute und edelster Liebe – in gleicher Weise befähigt, die Seelen der Männer zu erheitern, zu berücken oder zu retten. Über diesem ganzen Bilde vollkommenen menschlichen Lebens stiegen der Dom und der Glockenturm an, leuchtend von weißem Alabaster und von Gold: über den Dom und den Glockenturm hinaus die Abhänge mächtiger Berge, welche von Oliven weiß waren; weiterhin im Norden, über der Purpursee der Spitzen der erhabenen Apenninen sandten die klaren, scharf gezackten Berge von Carrara ihre standhaften Marmorflammen in den bernsteinfarbenen Himmel; die große See, fast versengend unter der Lichtfülle, erstreckte sich vom Fuße derselben bis zur Insel Gorgona, und über all diesem, stets gegenwärtig, ob nah oder fern, ob durch die Blätter des Weinstocks hindurch strahlend oder mit all seinen dahinziehenden Wolken im Arnostrome widergespiegelt oder ob mit seinem tiefen Blau von dem goldenen Haar und den leuchtenden Wangen der Damen und Ritter sich abhebend – jener ungetrübte und heilige Himmel, welcher für alle Menschen in jenen Tagen unschuldigen Glaubens in der Tat das unangezweifelte Reich der Geister war, wie die Erde das der Menschen; und der direkt durch seine Wolkentore und Schleier aus Tau hindurch sich nach der Erhabenheit der ewigen Welt hin öffnete; ein Himmel, in welchem jede dahinziehende Wolke buchstäblich der Wagen eines Engels war und jeder Abend- und Morgenstrahl von dem Throne Gottes herabströmte.
Ist das nicht eine rechte Kunstschule?«
Und dann betrachte man dagegen das niederdrückende, eintönige Aussehen einer beliebigen modernen Stadt, die düstere Kleidung der Männer und Frauen, die ausdruckslose und dürftige Bauweise, die farblose und entsetzliche Umgebung. Ohne ein schönes Volksleben wird nicht nur die Bildhauerei, sondern werden alle Künste sterben.
Was nun das religiöse Gefühl am Schluß der Stelle betrifft, so halte ich es nicht für nötig, darüber zu sprechen. Die Religion entspringt dem religiösen Gefühl, die Kunst dem künstlerischen Gefühl: nie erlangt man die eine durch die andere; ohne die richtige Wurzel kann man auch nicht die richtige Blume erhalten; und wenn jemand in einer Wolke den Wagen eines Engels sieht, wird er sie wahrscheinlich einer Wolke sehr unähnlich malen.
Aber was die allgemeine Idee des ersten Teiles jenes anmutigen Stücks Prosa angeht, ist es wirklich wahr, daß eine schöne Umgebung für den Künstler notwendig sei? Ich bin nicht der Meinung, gewiß nicht. Denn für mich ist wahrlich das am meisten Unkünstlerische in diesem unseren Zeitalter nicht die Gleichgültigkeit des Publikums gegen das Schöne, sondern die Gleichgültigkeit des Künstlers gegen das, was man häßlich nennt. Denn dem wirklichen Künstler ist überhaupt nichts schön oder häßlich in sich selbst. Mit dem Tatsächlichen des Gegenstandes hat er nichts zu tun, sondern nur mit seiner Erscheinung, und die Erscheinung ist bedingt durch Licht und Schatten, durch die Masse, die Stellung und den Wert.
Die Erscheinung ist in der Tat lediglich Sache der Wirkung, und gerade mit den Wirkungen der Natur hat man es zu tun, nicht mit den wirklichen Zuständen des Gegenstandes. Was man als Maler darzustellen hat, sind nicht die Dinge, wie sie sind, sondern die Dinge, wie sie zu sein scheinen, also nicht die Dinge, wie sie sind, sondern die Dinge, wie sie nicht sind.
Kein Gegenstand ist nun so häßlich, daß er unter gewissen Verhältnissen von Licht und Schatten oder durch die Nachbarschaft anderer Gegenstände nicht schön aussehen könnte; und andererseits ist kein Gegenstand so schön, daß er nicht unter gewissen Bedingungen häßlich aussehen könnte. Ich glaube, daß wenigstens einmal alle 24 Stunden das Schöne häßlich und das Häßliche schön aussieht.
Und der alltägliche Charakter eines so großen Teiles unserer englischen Malerei scheint mir dadurch hervorgerufen zu sein, daß so viele unserer jungen Künstler nur auf das achten, was wir »fertige« Schönheit nennen können, während man doch als Künstler dazu da ist, nicht die Schönheit zu kopieren, sondern sie in seiner Kunst zu schaffen und sie in der Natur zu erspähen und zu beobachten.
Was würde man von einem Dramatiker sagen, der ausschließlich tugendhafte Personen für die Charaktere seiner Stücke wählen würde? Würde man nicht sagen, daß er die Hälfte des Lebens überginge? Nun, von dem jungen Künstler, der nur schöne Dinge malt, sage ich, daß er eine Hälfte der Welt übergeht.
Man warte nicht darauf, daß das Leben malerisch sei, sondern man versuche, das Leben unter malerischen Bedingungen zu sehen. Diese Bedingungen kann man sich selbst in seinem Atelier schaffen, denn es sind lediglich Bedingungen der Beleuchtung. In der Natur muß man sie abwarten, sie beobachten, sie auswählen; und wenn man wartet und beobachtet, werden sie sich einstellen.
In der Gowerstraße kann man bei Nacht einen Briefkasten sehen, der malerisch wirkt. Am Themsekai kann man malerische Polizisten sehen. Sogar Venedig ist nicht immer schön, auch Frankreich nicht.
Zu malen, was man sieht, ist eine gute Regel in der Kunst, aber zu sehen, was des Malens wert ist, ist besser. Man sehe das Leben unter malerischen Bedingungen. Es ist besser, in einer Stadt von veränderlichem Wetter zu leben als in einer Stadt von lieblicher Umgebung.
Nachdem Sie nun gesehen haben, was den Künstler macht und was der Künstler macht, ist die Frage, wer der Künstler sei? Es lebt ein Mann unter uns, der alle Eigenschaften der edelsten Kunst in sich vereinigt, dessen Werk für alle Zeit eine Freude ist, der selbst ein Meister für alle Zeit ist. Dieser Mann ist Whistler.
Aber, werden Sie sagen, die moderne Kleidung ist schlecht. Wenn Sie schwarzes Tuch nicht malen können, so hätten Sie auch ein seidenes Wams nicht malen können. Häßliche Kleidung ist besser für die Kunst – für den Eindruck, nicht für den Gegenstand.
Was ist ein Bild? Ursprünglich ist ein Bild lediglich eine schön kolorierte Fläche mit keiner anderen geistigen Botschaft oder Bedeutung als ein ausgesuchtes Stück venetianischen Glases oder ein blauer Ziegel von der Mauer von Damaskus. Es ist ursprünglich etwas rein Dekoratives, etwas, das ergötzlich anzusehen ist.
Alle archäologischen Bilder, welche einem den Ausruf entlocken »Wie seltsam!«, alle sentimentalen Bilder, welche einen ausrufen lassen »Wie traurig!«, alle geschichtlichen Bilder, welche einen ausrufen lassen »Wie interessant!«, überhaupt alle Bilder, welche einem nicht unmittelbar solch künstlerische Freude bereiten, daß man ausruft »Wie schön!« sind schlechte Bilder.
Wir können nie wissen, was ein Künstler künftig schaffen wird. Natürlich nicht. Denn der Künstler ist nicht ein Spezialist. Alle solche Einteilungen wie Tiermaler, Landschaftsmaler, Maler von schottischem Vieh in einem englischen Nebel, Maler von englischem Vieh in einem schottischen Nebel, Rennpferdmaler, Bullterriermaler, sind alle seicht. Wenn jemand Künstler ist, kann er alles malen.
Die Aufgabe der Kunst ist es, die göttlichste und entlegenste der Saiten, welche in unserer Seele erklingen, erzittern zu machen; und die Farbe an und für sich bringt das Göttliche an den Dingen zum Ausdruck, und der Ton kündigt es an.
Spreche ich mich denn aus für bloße Technik? Nein! Solange überhaupt irgendwelche Anzeichen von Technik da sind, ist das Bild unvollendet. Was heißt denn vollenden? Ein Bild ist vollendet, wenn alle Spuren der Arbeit und der zur Hervorbringung der Wirkung angewandten Mittel verschwunden sind.
Bei den Handwerkern – dem Weber, dem Töpfer, dem Schmied – bei deren Arbeit finden sich Spuren ihrer Hand, aber nicht so bei dem Maler; nicht so beim Künstler.
Bei der Kunst sollte man nichts empfinden als ihre Schönheit, und die Technik sollte sich der Beobachtung entziehen. Man sollte von einem Gemälde sagen können, nicht daß es »gut gemalt« sei, sondern, daß es »nicht gemalt« sei.
Was ist nun also der Unterschied zwischen ausgesprochen dekorativer Kunst und zum Beispiel einem Gemälde? Die dekorative Kunst betont ihr Material: die schöpferische Kunst beseitigt es. Ein gewirkter Teppich läßt seine Fäden als Teil seiner Schönheit sehen: ein Gemälde läßt seine Leinwand verschwinden: es zeigt nichts von ihr. Porzellan betont seine Lasur: Wasserfarben verleugnen das Papier.
Ein Gemälde hat keine weitere Bedeutung als seine Schönheit, keine Botschaft als seine Freude. Das ist die erste Kunstwahrheit, die man nie aus den Augen verlieren sollte. Ein Gemälde soll lediglich ein Ding der Schönheit sein.