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VI.

»Leipzig!« rief der Schaffner. Der »bayrische Zug« war in die Halle des bayrischen Bahnhofs zu Leipzig eingefahren; die Wagenräder brummten in ihrem tiefsten Baß, dann standen sie still. Fast alles stieg aus; auch Leopold. Er hängte sich seine Tasche wieder um, die im Coupé neben ihm gelegen hatte; verglich – nach einer alten Gewohnheit, die mit ihm reiste – seine Taschenuhr mit der des Bahnhofs: die Differenz war gering, die Bahnhofsuhr zeigte drei Viertel auf Neun. Schon jetzt hatte die Sonne diesen Aprilmorgen angenehm erwärmt; der Tag versprach warm, vielleicht heiß zu werden; – man merkt kaum, daß man nicht mehr in Italien ist! dachte Leopold. Nur die nackten Bäume, die grausam modernen Häuser, und die – Eingeborenen sagen mir's, wo ich bin. Heut noch nach Berlin? Wozu? Was tu' ich in Berlin? – Er seufzte. Still vor sich hinblickend schüttelte er den Kopf. »Morgen nach Berlin,« sagte er; »heute hier. Hier kennt mich kein Mensch. Diesen Reiz hat Leipzig mit Verona und Peschiera gemein! Also bleiben wir hier!«

Er verließ den Bahnhof, und da er nichts als seinen Stockschirm und seine – allerdings sehr gefüllte – Reisetasche zu tragen hatte, wehrte er alle Dienstmänner, die sich ihm antrugen, ab, und wanderte aufs Geratewohl in die Stadt hinein; entschlossen, sein Gasthaus diesmal nicht nach Bädeker, sondern nach dem Augenschein zu wählen und einfach da einzutreten, wo es ihm gefiel. Ich erinnere mich, dachte er im Gehn, ein paar Schritte von diesem Bahnhof gibt's einen »Nürnberger Hof«; ich war einmal drin; den vermeiden wir: denn da gefiel es mir nicht. Richtig, da steht er. Gehn wir also vorbei! – Er ging an ihm entlang, sah über seine Front hin, sich mit wehmütigem Gefühl jener Zeit erinnernd, als er auf seinem ersten größeren Ausflug in die Welt da oben am Fenster stand und den poesielosen Häuserwirrwarr, die furchtbare Einfachheit der Gegend überblickte; doch alles war merkwürdig, denn alles war neu; noch alles zu gewinnen und noch nichts zu verlieren. Ich glaube, dachte er, ich bin seitdem sechzig Jahre alt geworden! – Dieses Eckfenster war's. Ich erinnere mich, am Abend saß ich dann allein, bei der Lampe, schrieb einen langen Reisebrief nach Hause; mir ward so nächtig zu Mut, es fing mir an in den Ohren zu singen und zu summen, – und zum erstenmal trat Sie hinter meinen Stuhl, sah mir aufs Papier, und sagte nichts; und doch dachte ich mir: »sie ist es«. Damals begann unser Verhältnis. Was für ein Kind war ich! Gott, was für ein Kind! – Das alles ist nun vorbei. Sechzig Jahre alt. An diesem Eckfenster war's, wo jetzt die Dame heraussieht. Die junge Dame – – Ottilie! – Mir war schon wieder einmal, als hätt' ich Ottilie gesehn. Wie damals in Desenzano; wie in Verona auf der piazza delle erbe; – es gibt nichts Dümmeres, Verlogeneres als so ein paar Augen – wenn hinter ihnen, im Gehirn, etwas in Unordnung ist. Ich muß immer wieder hinsehn, um den Augen wissenschaftlich zu beweisen, daß sie es nicht ist – – nein, daß sie es ist. Sie ist es! Bei Gott! – Ihr Oval. Ihr Haar. Wie sie jetzt den Kopf hält – – Ottilie! Mein Herz schlägt wie verrückt. Säh' sie doch einmal her! – Wie blaß. – Sie sieht nicht her. Sie tut es um keinen Preis. Ist sie es? Ja! Oder ich kann nicht mehr sehn! – Wie kommt sie hierher? Was heißt das? Hinter ihr – ein Mann. Was für ein Mann? – Bin ich toll? Hab' ich das »zweite Gesicht«? – Sie spricht mit ihm. Sie wehrt etwas von sich ab – –

»Wohin wünschen Sie, mein Herr?« fragte der Portier, als Leopold in den »Nürnberger Hof« hineinstürmte und sogleich die Treppe hinan. Leopold murmelte etwas, das keines Menschen Ohr verstanden hätte, und sprang, drei Stufen auf einmal, hinauf, dem Portier aus dem Gesicht. Seine Tasche schlug ihm bei jedem Sprung in die Seite. Im zweiten Stockwerk war's; dessen entsann er sich. Die Tür dort in der Ecke mußte es sein; das sagte er sich. Er stand vor der Tür. Sollte er anklopfen? ohne weiteres öffnen? – Stimmen drangen heraus. Eine männliche und eine weibliche Stimme. Die männliche schien zu flüstern; die weibliche auch; dann hob sie sich und wuchs; nun erkannte er sie. »Sie haben gehört!« sagte sie laut. »Mein Herr, Sie haben gehört!«

Warte ich noch länger? dachte Leopold. Indem er das dachte, hatte er schon den Türgriff in der Hand und öffnete. Ja, in der Tat, es war Frivolin; Frivolin, mit feurigen Augen, sehr erhitztem Gesicht, – und in diesem Augenblick vor Ottilie Ritter auf den Knien.

»Sie sind unverschämt, mein Herr!« sagte das Mädchen, indem sie, rot bis an die Schläfen, einen Schritt zurücktrat. »Verlassen Sie – –«

Auf einmal brach sie ab. Sie bemerkte, daß jemand die Tür geöffnet hatte, und erblaßte heftig.

Leopold, ohne ein Wort zu sagen, ging auf Frivolin zu, der sich erhob, und faßte ihn am Arm. »Du – –!« sagte er außer sich. Er hatte so wenig Atem, so stürmisches Herzklopfen, und ein so grimmiges, zusammenziehendes Gefühl, daß er für jetzt keine weiteren Worte fand. Er war sich nur, nach dem Zustand seines Innern, bewußt, daß etwas geschehen werde; und zunächst, wie aus Furcht, der Gegenstand seines Grimms könne ihm in Luft zergehen oder in den Boden versinken, ergriff er Frivolin vorne bei der Brust.

»Leopold –!« rief dieser aus.

Ottilien entfuhr ein leiser Schrei der Überraschung; ein so freudiger Ton, daß es Leopold überlief. Doch im nächsten Augenblick trat sie heran, legte ihre Hand auf den Arm, den der junge Mann nach Frivolin ausgestreckt hatte, und zog ihn hastig zurück. »Ich bitte, ich bitte –!« sagte sie mit Fassung, »Keine Handgreiflichkeit. Ich danke Ihnen – aber mit diesem Herrn komm' ich selber zu Ende. Ich hab' ihm gesagt, was er ist. Ich ersuche ihn jetzt, mich zu verlassen – und dieses Zimmer nicht wieder zu betreten – dann ist es gut. Sie haben gehört, mein Herr, und Sie werden nun gehn!«

»Ich werde gehn,« erwiderte Frivolin, der wahrhaft heroische Anstrengungen machte, eine gewisse Würde zu behaupten. »Was diesen Herrn betrifft« (er vergaß im Augenblick, daß Leopold sein Freund und Duzbruder war), »so mag er nur sagen, was er von mir wünscht; ich bin zu allem bereit.«

»Imperti – –«

Ottilie unterbrach Leopold mitten im Wort, und legte mit vieler Grazie einen Finger auf ihren Mund. »Sagen Sie nichts, wenn ich bitten darf! Ich bin in meinem Zimmer, und ich helfe mir selbst. Es ist gar keine Ursache, daß die Herren sich schöne Sachen sagen; ich allein bin die Angegriffene, und ich bin mit dem Angreifer schon fertig. Herr – Herr Leopold!« fuhr sie fort, da sie sich nicht auf seinen Vatersnamen besann. »Ich bitte Sie, treten Sie hierher, neben mich. Bitte, bleiben Sie stehn. Dieser Herr findet seinen Weg hinaus, ohne daß Sie ihm helfen.«

»Sie sind sehr gütig, mein Fräulein!« sagte der kleine Frivolin, mit überlegener Ironie und würdevollster Haltung (wie er selber dachte); oder stammelte er vielmehr in großer Geistesverwirrung (wie man's in Wirklichkeit sah). »Sie fassen die Sache so auf – wie – – wie Sie sie auffassen. Ich – – mein Fräulein – – Leben Sie wohl!«

Damit richtete er sich in seiner ganzen Größe auf und schritt, ohne sich weiter um diese unbedeutende Episode seines Lebens zu bekümmern, grade auf den Türpfosten zu; dann allerdings verfehlte er die Tür. Indessen schon nach dem ersten Zusammenstoß mit dem Pfosten erkannte er, daß er sich mehr nach rechts zu wenden habe, und wendete sich nach rechts. Er stand in der Tür. Sein Ausweg war frei. Alles lag hinter ihm. Allerdings auch sein Hut. Er ward sich bewußt, daß er seinen Hut vergessen hatte; vollkommen bewußt. Umkehren? Nein. Holen lassen. Später. Jetzt im bloßen Haar und mit Würde hinaus! – So schritt er denn fest (wie er dachte) oder stolperte (wie Ottilie es ansah) hinaus, und machte die Tür hinter sich zu.

»So, das wäre vorbei!« sagte Ottilie, und versuchte zu lachen.

»Mein Fräulein –!« nahm Leopold das Wort, dem das Herz noch klopfte. »Und ich soll ihm nicht nach? Soll diesem – Menschen nicht nach?«

»Nein,« antwortete sie; die nun plötzlich, da sie sich ihm allein gegenüber sah, errötete. »Ich seh' keinen Grund. Ist ein Frauenzimmer denn so ein halber Mensch, daß immer ein Mann für sie eintreten muß? – Er hat seine Antwort, und nun kann er gehn.«

»Und Sie? Wie kommen Sie hierher? Wo sind alle die andern? Wo ist Fridolin?«

Sie sollte heute öfter als billig erröten. »Das alles erzähl' ich Ihnen,« sagte sie mit Mühe. »Jetzt – – Judica rührt sich. Bitte, leise, leise. Wo sie sich rührt? Dort, nebenan.«

»Sie liegt im Bett?«

Ottilie nickte.

»Sie ist krank?«

»Die arme Kleine; freilich ist sie krank. Wären wir sonst noch hier? – Sie rührt sich wieder. Entschuldigen Sie mich für einen Augenblick; – oder kommen Sie mit.«

»Ich komme mit,« sagte er leise. Sie traten ins Nebenzimmer ein. Bei gedämpftem Licht lag hier die kleine Judica in einem ungeheuren Bett, wie wenn man eine Puppe in eine Kinderwiege legt; sie hatte die Augen geöffnet und zeigte den beiden ihr sonderbar gerötetes und geschwollenes Gesicht. Als sie Leopold erkannte, lächelte sie ihn an. »Das ist gescheit!« sagte sie mit der drolligen Altklugheit eines kranken Kindes und hielt ihm eine ihrer heißen Hände hin. »Tante Ottilie, endlich sehn wir einen Menschen! – Du, Leopold, ich bin krank.«

»Es scheint so,« sagte er. »Rotlauf, Rose, nicht wahr?«

»So sagt der Arzt,« entgegnete Ottilie; »und so sieht's denn auch aus.«

»Und warum im Bett?«

»Als wir es gestern auf der Herfahrt entdeckten, ward der Herr – –« (sie brach ab, und die Arme mußte schon wieder ihre Farbe wechseln) »ward unser Begleiter sehr ängstlich und bestand darauf, daß wir hier in Leipzig aussteigen, statt sogleich weiterzufahren bis Berlin. Er brachte uns hierher. Er holte den Arzt; – so einen alten, bedächtigen –«

»Von der alten Schule,« fiel Leopold ein.

»Ich weiß nicht, von welcher Schule; aber als – jener Herr Frivolin ihn sehr eindringlich fragte, ob das Kind nicht hier übernachten, hier seine Genesung abwarten müsse, sagte der Arzt: allerdings. Er schüttelte den Kopf, daß mir Angst ward. Er schickte das Kind sogleich zu Bett und verordnete einen warmen, trockenen Umschlag aufs Gesicht – – Hast du ihn schon wieder heruntergewühlt, du schlechter Patient!«

»O, er macht mich so heiß,« antwortete die Kleine. »Muß ich denn so heiß sein, Leopold?« setzte sie fragend hinzu.

Leopold strich ihr in seiner ruhigen Art langsam übers Gesicht. Dann wandte er sich zu Ottilien, mit der ganzen Fassung, die ihm an diesem Krankenbett plötzlich wiedergekehrt war. »Mein Fräulein!« sagte er. »Ich bin freilich noch jung. Ich studiere noch. Ich bin kein Arzt. Dennoch weiß ich« (er sagte das alles mit der schlichtesten Ruhe), »daß ich von diesem Fall mehr weiß, als jener alte Herr. Daß seine Methode bei dieser Art von Gesichtsrose nicht die rechte ist. Hätten Sie so viel Vertrauen zu meinem bartlosen Gesicht, daß Sie mir erlaubten, das Kind nach meiner Methode gesund zu machen?«

Ottilie sah ihn an. Es verwunderte sie sehr, daß zwischen ihnen beiden jede Verlegenheit verschwunden, unmöglich geworden schien. Seine sinnigen grauen Augen, seine weit ausgewölbte Stirn machten ihn so viel älter, – sein treuherziges Lächeln machte ihn so viel kindlicher, als er war. »Gewiß!« sagte sie plötzlich, ohne sich zu besinnen, »Vertrauen? Gewiß.«

»Sie gestatten mir, Judica zu behandeln, wie ich es gut finde?«

»Ich weiß wirklich nicht,« sagte sie und lächelte, »warum ich so viel Vertrauen zu Ihnen habe; aber ich habe es. Was wollen Sie tun?«

»Bleiwasser,« sagte er kurz. »Kein Flanell; keine trockene Hitze. Das bißchen Fieber, das die Kleine hat« – er hatte inzwischen den Puls gefühlt, aber er legte nun auch ein Thermometer an, das der junge Naturforscher aus der Brusttasche zog – »das bißchen Fieber hat hier nichts zu sagen. Es kommt Ihnen aber wohl komisch vor, daß ich so zuversichtlich rede! – Ich – ich dachte nämlich, Sie lächelten. Nein, Sie lächeln nicht. Ich werde, wenn das Thermometer seine Schuldigkeit getan hat, unsre kleine Patientin ersuchen, wie andre Menschenkinder aufzustehn; und ich werd' das Bleiwasser besorgen.«

»Das werd' ich tun!« sagte Ottilie rasch. Sie klingelte und schickte zur Apotheke. Judica stand auf. Das Kind hatte während dieser ganzen Zeit den neuen Arzt mit großen Augen angesehn, doch ohne ein Wort zu sagen. Als sie sich wieder in ihren Kleidern sah, trat sie vor den Spiegel, entdeckte ihre Verunstaltung und schnitt sich selber ein verwundertes Gesicht.

»Du!« sagte sie dann. »Wie kommt's, daß du hier bist? Hat Frivolin dir's telegraphiert?«

»Nein, mein Kind,« antwortete Leopold, und sah dabei Ottilie an.

»Er wollte telegraphieren,« murmelte Ottilie; »noch gestern abend. Ob er's getan hat –«

»Vermutlich nicht,« murmelte Leopold. »Ich komme nicht von Berlin, mein Kind,« setzte er laut hinzu; »sondern von Italien her. Und du –? Warum bist du nicht mehr am Gardasee, sondern hier in Leipzig?«

»Weißt du das noch nicht?« fragte die Kleine zurück. »Mein Papa und der Onkel mußten ja plötzlich abreisen; – nämlich wegen Familiengeschichten,« setzte sie mit Wichtigkeit hinzu; »und wegen der heimlichen Ehre. Und denke dir, dann hatten wir kein Geld! Und dann kam Frivolin und war sehr verwundert, und bezahlte alles; – aber den mag ich nicht. Er hat unterwegs immer nur mit Tante Ottilie gesprochen, und gar nicht mit mir. Und überall hat er bleiben wollen; und als ich zuletzt krank wurde, hat er sich beinahe gefreut; und wir müßten hier aussteigen, denn es wäre bedenklich und mein Zustand wäre griechisch; und so blieben wir hier.«

Leopold murmelte etwas zwischen den Zähnen, das sie nicht verstand. »Schwatz nicht so viel, mein Kind,« sagte er dann; »sei ein gescheiter, vernünftiger Patient. Du hast achtunddreißig Grad.«

»Ist das viel?«

»Es ist mehr als genug. Du wirst die Ehre haben, dich auf dieses Sofa zu legen; – so. Ich deck' dich zu. Das Bleiwasser ist da; gut. Erster Umschlag. Das kühlt? – Ich werd' wechseln, so oft es nützlich ist. Unser Rezept heißt: Bleiwasser und Geduld!«

»Ich werd' Geduld haben, Leopold,« sagte die Kleine sanft. »Leopold, ganz gewiß. Du bist so nett und so gut!«

»Also auf Wiedersehn,« sagte er und ging ins andere Zimmer, Ottilien nach, die bei Judicas Mitteilungen über Frivolin geräuschlos hinausgegangen war. »Fräulein Ottilie!« sagte er mit gedämpfter Stimme, indem er vor ihr stehn blieb. »Verzeihen Sie. Nicht daß ich an das rühren will, was – hinter uns liegt. Aber – eine Frage. Eine einzige gestatten Sie mir.«

»Bitte –!« flüsterte sie.

»Die Kleine sprach vorhin von einer ›heimlichen Ehre‹. Was weiß dieses Kind –? Rätselhaft. Und – was wissen Sie?«

»Diese selbe Frage schwebte mir auf den Lippen,« antwortete sie; »von mir zu Ihnen. Aber ich hätte, fürcht' ich, den Mut nicht gehabt. Schauen Sie mich nicht so an; ich weiß, ich bin wieder rot. In – in irgend einem Brief hab' ich von einer ›heimlichen Ehe‹ gelesen, ohne ein Wort zu verstehen. Können Sie mir sagen, was das ist?«

»Ich will annehmen,« erwiderte Leopold, indem er die klugen Augen auf sie heftete, – »ich will annehmen, der Verfasser des Briefs sei eben wegen dieser ›heimlichen Ehe‹ plötzlich abgereist.«

»Nehmen Sie es an.«

»Und dieses Rätsel soll ich Ihnen lösen –«

»Wenn Sie können; ich bitte.«

»Fräulein Ottilie! Ein – ein jeder Mensch – Aber das Bleiwasser. Entschuldigen Sie einen Augenblick! – – – Hier, meine brave Patientin! eine neue Kühlung. Nun denk an etwas Angenehmes, meine kleine Judica, und lieg still! – – – Sie liegt still. Sie hat müde Augen –«

»Heute nacht schlief sie wenig,« erwiderte Ottilie.

»Also ich fahre fort,« sagte Leopold; immer die Stimme dämpfend. »Ich glaub' aber, ich kann Ihnen das so im Stehen nicht sagen; bitte, setzen Sie sich. Ein jeder Mensch – – Ein jeder Mensch ist ein Ganzes, hat also zwei Hälften; nicht wahr, das ist klar. Jener Mensch hat zwei sonderbare Hälften: eine männliche – und eine weibliche. Nun, und die eine ist mit der andern verheiratet. Das ist seine ›heimliche Ehe‹.«

Ottilie sah ihm lange ins Gesicht, ohne etwas zu sagen, ohne die Lippen zu bewegen. Dann nickte sie mehrmals, fast unmerklich, mit dem Kopfe.

»Sie verstehen mich?«

»Ich verstehe Sie,« gab sie leise zur Antwort.

»Ohne daß es – daß es Sie erschüttert?«

Sie erglühte, doch sie lächelte sanft. »Ich hab' vor allem das Verlangen nach Wahrheit,« flüsterte sie.

»Sie denken nicht übel von mir, daß ich es Ihnen sagte?«

»Nein.«

»Sie sehen also, diese heimliche Ehe ist ein psychologischer Zustand; weiter nichts. Vielleicht etwas Ähnliches, wie meine heimliche Verlobtheit – – Das Bleiwasser. Sie entschuldigen! – – – Hier, meine kleine Judica. Wahrhaftig! sie schläft. Ob es sie aufweckt, wenn ich den Umschlag wechsle? – Nein. Himmlischer Kinderschlaf! – – – Wir haben schon Hilfe,« sagte er in seinem leisen, ruhigen Baß, als er zu Ottilie zurückkam. »Morpheus ist schon da.«

Ottilie sah ihn mit stiller Dankbarkeit an. Ihr Atem eilte aber, ihr Busen hob sich stark. Die Gedanken in ihr schienen sich zu jagen. »Nun hätt' ich noch eine Frage,« flüsterte sie endlich. »Lachen Sie mich nicht aus.«

»Es ist durchaus keine Gefahr –!« murmelte er, indem er sich wieder setzte und sie ansah.

»Ihre ›heimliche Verlobtheit‹ – – Was für einen psychologischen Zustand meinten Sie damit? – Nicht wahr, ein neugieriges Frauenzimmer; das denken Sie jetzt.«

»Reden Sie nicht so! – Was sollte ich Ihnen nicht sagen? Ihnen sag' ich alles. Meine ›heimliche Verlobtheit‹? – Ich bin vielleicht ein kühler, nüchterner, phantasieloser Mensch, Fräulein Ottilie; aber was hilft das: die Natur in uns hat ihren Willen, ihre Phantasie. Man will mich ergänzen, Fräulein Ottilie; – ich meine, in mir die Natur. Ich hab' nämlich in mir keine weibliche Hälfte; – also trachtet man in mir danach, also träumt man davon. In stillen Stunden träumt man in mir von ihr. Nun, – und dann kommt sie. Ich fühle, daß sie da ist; ich sehe, ich höre sie; wir – lieben uns. Ich meine das unvollständige Ich in mir und seine Ergänzung. Also seine Braut. Das – nun ja, das ist meine ›heimliche Verlobtheit‹; – aber verstehen Sie das? Nicht wahr, mein Fräulein, Sie verstehen es nicht.«

»Warum sollt' ich nicht,« sagte sie, ohne ihn anzusehn.

»Es war also eine abgemachte Sache,« fing er wieder an und bemühte sich zu lächeln. »Ich glaubte an sie. Ich dachte: wenn ich sie finde, verstehen wir uns sogleich; wir ergänzen uns einfach; – und ich werd' sie finden, das ist gewiß! – Dann kam jener Abend – – Lachen Sie über mich; es tut nichts. Jener Abend in Berlin, wo ich Sie sah. Ich hätte geschworen, Sie sind es. Ich sagte es Ihnen; – nicht wahr, ich hab' es Ihnen gesagt? Und darauf hielten Sie mich für einen Narren; natürlich. Nur Sie? Ich selbst! – Darauf reisten Sie ab. In mir blieb man dabei: sie ist es; sie ist es! Ich reiste Ihnen nach. Ich – – Und so kam alles – – Und nun wissen Sie alles, Fräulein Ottilie; – und nun, bitte ich, lassen Sie uns vom Wetter sprechen.«


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