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VI.

Ottilie schritt unten im Speisezimmer, das auf den Garten hinausführte, schon lange ungeduldig auf und ab. Die Tafel war, Gott weiß wie lange, gedeckt, die Suppe war erschienen und war wieder entfernt worden; denn von den drei Herren der Gesellschaft ließ sich noch immer nicht ein einziger sehn. Das Fräulein trat wieder einmal (ungefähr zum zehnten Mal) an die Glastür, um in den Garten hinauszuschauen und vielleicht dort einen dieser Männer zu entdecken. Sie legte ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe. Sie trommelte mit allen zehn Fingern darauf. Alles war umsonst. Endlich trat sie zum zehnten Mal in das Zimmer zurück und wandelte wieder – wie die Figuren eines mechanischen Theaters, die immer von neuem vorüberspazieren, vorüberreiten oder vorüberrauchen – bis an die andere Tür.

Die kleine Judica kam hereingesprungen. »Nun?« fragte Ottilie, »hast du den Papa, oder den Onkel, irgendwo entdeckt?«

»Den Papa – nein.«

»Aber den Onkel?«

»Tante Ottilie,« fragte das Kind, anstatt zu antworten, »ist es eigentlich eine Sünde, wenn man horcht?«

»Warum fragst du danach? – Hast du den Onkel gesehn?«

Etwas unsicher, was sie sagen solle, schüttelte Judica den Kopf. »Ich hab' ihn nicht gesehn – aber ich hab' ihn gehört.«

»Wo?«

»In seinem Zimmer. Weißt du, was er da tat? Er ging da grade so auf und ab, wie du hier unten. Du, Tante Ottilie! Wenn einer an eine Tür kommt und hört, daß in dem andern Zimmer einer laut mit sich selber spricht, und wenn einer dabei so sonderbar ist, und wenn einer dann horcht, – ist das Sünde?«

»Was hast du denn behorcht?« fragte Ottilie unruhig, ohne auf die Frage zu antworten,

»Zuerst sagte er immer: ›Ottilie! Ottilie!‹ und ich dachte, Tante Ottilie, du wärst da oben bei ihm; aber du warst doch hier unten. Und dann – – Du! Warum nennt er dich sonst immer Sie, und warum nannte er dich nun Du?«

»Das weiß ich nicht; aber du bist ein kleines dummes Ding und hast gewiß alles falsch verstanden; – und nun ist's genug.«

»Oho! es fängt ja erst an! – Tante Ottilie, hat denn jeder Mensch eine heimliche Ehre? Onkel Fridolin hat eine heimliche Ehre; das hat er dreimal gesagt.«

»Was redest du da alles; ich verstehe nichts,« fiel Ottilie ihr ins Wort.

»Ich auch nicht,« sagte Judica treuherzig. »Ich weiß auch gar nicht, warum er dich so bedauert; bist du denn so unglücklich? Immer wieder hat er dich bedauert; und sich auch; – aber dann kam eine andere dazwischen; denn auf einmal sagte er: ›Eva des Herzens!‹ Und die hat er dann auch bedauert; und dann –«

Das Kind schmiegte sich näher an Ottilie und flüsterte, wie wenn ein Küchlein, das den Habicht gesehen hat, unter dem Flügel der Mutterhenne piepst: »Und dann, glaub' ich, hat er geweint.«

Ottilie stand in wachsender Unruhe da. Was war geschehn?

»Und dann, Tante Ottilie, kam offenbar irgend ein Mensch zu ihm ins Zimmer, der etwas von ihm wollte –«

»Was?« fragte Ottilie unwillkürlich.

»Ich weiß nicht; aber Onkel Fridolin wollte nicht. Er wurde sehr laut und sagte: ›Ich kann nicht! Ich darf nicht! Mein Schicksal!‹ – Und dann rief er: ›Ich dich unglücklich machen! Und mich!‹ – Und dann rief er: ›O Gott!‹ – Und da ging denn wohl auch der andre Mensch wieder fort; denn es wurde still. Da bin ich endlich an die Tür gegangen und wollte sie aufmachen; aber sie war verschlossen. Onkel Fridolin fragte furchtbar laut: ›Wer ist da?‹ Und ich wär' vor Schreck beinahe fortgelaufen. Ich dacht', er hätte gemerkt, daß ich gehorcht hatte; – glaubst du, Tante Ottilie, daß er's gemerkt hat?«

»Siehst du: dein böses Gewissen!« sagte Ottilie; doch mit Anstrengung. »Nun, und was dann?«

»Dann bin ich doch stehen geblieben, weil du mir gesagt hast, daß ich vor Menschen, die mir nichts zuleide tun, nie davonlaufen soll. Und hab' hineingerufen: Onkel Fridolin, warum du denn nicht zum Essen kommst? – ›Geh' nur!‹ sagte er dann, ›ich komme gleich! Geh', laß mich allein!‹ Und da bin ich fortgegangen, und die Treppe herunter.«

»Also wird er ja kommen!« murmelte Ottilie vor sich hin. »Also wird er ja kommen!« wiederholte sie laut, wie um ihrem unmäßig klopfenden Herzen zuzusprechen. Sie nahm ihr Taschentuch, das sie vorhin mit Kölnischem Wasser getränkt hatte, und legte es sich gegen die Schläfen, die Stirn. Ich verstehe nichts, dachte sie; nichts. Aber es ist ja wohl in diesem Leben nicht das erste Mal! – Warten und sich fassen.

Sie ging wieder an die Glastür; Judica kam ihr nach. »Tante Ottilie!« sagte das Kind, indem es an ihrem Kleide zupfte, »der Carlo. Er hat eine lettera; einen Brief.«

Carlo, der Sohn des Hausknechts, stand mit einem Billet in der Hand hinter Judica. »Gib her,« sagte Ottilie hastig und nahm es ihm aus der Hand. Es war an sie. Von wem? – Sie schickte den Jungen fort und öffnete. »Leopold Rheinau« war die Unterschrift. Die Buchstaben erschienen ihr ungeheuer groß, übermenschlich groß, – vielleicht weil sie eine ungewöhnlich kleine Handschrift zu sehen erwartet hatte. Sie lächelte über ihre Aufregung und las:

»Verehrtes Fräulein! Warum schreibe ich Ihnen? Ich weiß es nicht. Es wäre vielleicht würdevoller, wenn ich schwiege. Ich weiß es nicht. Es zieht mich auf eine wirklich unwiderstehliche Weise, Ihnen zu sagen, daß ich nun alles weiß, und alles begreife.

»Vielleicht hat die Natur, die so gern ihre kleinen Geheimnisse vor uns hat, Ihnen vorbehalten, einen Menschen, der unheiratbar schien (Gott im Himmel, was für ein Wort; verzeihen Sie), zu einer richtigen ganzen ›Hälfte‹ zu machen. Glauben Sie mir, ich bin kein besonders guter Mensch; und mir ist schlecht zu Mut; aber ich wünsche Ihnen alles Glück, alles Gute. Alles. Ich sehe jetzt, ich bin nicht ganz so schlecht, wie ich als Skeptiker, als Physiolog von mir dachte. Alles Glück, alles Gute! Und verzeihen Sie mir, daß ich zu denken wagte, es könnte sein, – was nicht ist.

»Ich bin schon fort, wenn Sie dieses lesen; mit dem Dampfschiff, nach Peschiera, und dann so weiter. Grüßen Sie die andern; sagen Sie ihnen, – was? – Plötzliche Notwendigkeit, abzureisen; bitte, sagen Sie das. Ich werde Sie ewig verehren. Solange ich lebe, mein' ich; solange ich atme. Solange ich Ich bin. Ich werde verzweifelt gelehrte Bücher schreiben und – – – Und leben Sie wohl!«

Was für ein sonderbarer Brief das ist, dachte Ottilie. Wie er mich rührt.

»Kind, was zupfst du schon wieder?« fragte sie Judica, die sich mit dem ganzen Gewicht ihrer kleinen Person an Ottiliens Kleid hängte.

»Paolo!« antwortete das Kind. »Er hat eine lettera; einen Brief.«

Paolo, der Kellner, trat in der doppelten Würde seiner Stellung und seiner Nation vor das Fräulein hin. »Hier ist die Rechnung,« sagte er in seinem zischenden Mailänder Italienisch; »der Schignor Filippo hatte sie verlangt. Die Wochenrechnung. Und hier ist ein Brief.«

»Geben Sie, geben Sie!« sagte Ottilie. – Paolo ging.

Sie öffnete das Billet; ihr erster Blick flog wieder zur Unterschrift. Sie las:

»Hochachtungsvoll
ergebenst

der durch Sie glückliche Vater Judicas.«

Der Vater Judicas schreibt mir? – Warum? – Sie wendete das Blatt und las den Anfang: »Mein verehrtes Fräulein! Ein plötzlicher, an sich unbedeutender Anlaß zwingt mich, mit dem nächsten Omnibus –«

Abzureisen? Der auch?

»Der nach Mori an die Eisenbahn geht –«

Ist der nicht schon seit einer Stunde fort? dachte sie. Ja; seit einer Stunde! – Sie las weiter; sie las bis zum »hochachtungsvoll ergebenen« Schluß. Das Blut trat ihr in die Wangen, mehr als einmal. Endlich lachte sie, legte Pastor Philipps Brief in dieselbe unnatürliche Form wieder zusammen, in der sie ihn empfangen hatte, und nahm die Rechnung zur Hand.

Sie las sie Wort für Wort, Ziffer für Ziffer, von oben bis unten; dann bemerkte sie, daß sie nicht ein Wort, nicht eine Ziffer wirklich verstanden hatte. »Wir haben keine Andacht dafür!« sagte sie vor sich hin. »Mein Gott, was für ein Tag!« – – Plötzlich fuhr sie zusammen. Warum? Weil sie Schritte hörte; weiter nichts. Wessen Schritte? – Sie sah nicht zurück; sie blieb gegen die Glastür gewendet stehn. Gleich darauf fühlte sie wieder an ihrem Kleid – als arbeite jedesmal ein elektrischer Apparat – Judicas Zupfen.

»Was gibt's?« fragte sie.

»Du, Tante Ottilie!« sagte das Kind. »Der Herr von diesem Hause. Der Herbergo.«

 

»Hat er auch eine lettera?« fragte Ottilie und drehte sich herum. Auf einmal wurde sie blaß. Der kleine Wirt, der mit sehr ernstem Gesicht, ungefähr mit dem Ausdruck eines die Anklage begründenden Staatsanwalts, vor ihr stand, hielt wirklich auch einen Brief zwischen seinen gelblichen Fingern.

»Wegen der Rechnung, Signora; ich komme wegen der Rechnung,« sagte er (auf italienisch) fast etwas unverschämt.

»Eilt es Ihnen so sehr?« fragte sie erstaunt. »Wollen Sie sich gefälligst an den Herrn Professor wenden, sobald er kommt.«

»Sie sind sehr gütig,« erwiderte der Wirt mit beleidigendem Lächeln. »Der Signor Filippo weist mich an, die Rechnung Ihnen zu überreichen; Sie weisen mich an den Signor Professore; der Signor Professore weist mich an den Signor Filippo. Aus diesem Kreislauf komm' ich nicht heraus, – und ebensowenig mein Geld.«

»Mein Herr!« sagte Ottilie, die über und über erglühte; »ich verstehe Sie nicht. Wie kann es Ihnen einfallen, in diesem Ton – – Ich werde den Herrn Professor ersuchen, augenblicklich zu kommen!«

»Werden Sie ihn wirklich ersuchen? – Ich führe dieses Hotel seit zehn Jahren, meine Dame, ich kenne diese kleinen Kunstgriffe alle. Alle. Bemühen Sie sich nicht. Ich weiß schon, woran ich bin; Dio mio! wie hatt' ich mich in diesen Herren getäuscht! – Sie sind noch da. Ich halte mich an Sie. Ich ersuche Sie um mein Geld.«

»Mein Herr, Sie sind verrückt!« fuhr es aus Ottilien heraus. »Sowie der Herr Professor kommt –«

»Glauben Sie, daß er kommt?« fiel ihr der Wirt ins Wort. »Ich glaube es nicht. Er hat sich schon empfohlen, Madame. Ich Ahnungsloser! Ich wußte noch nichts vom Verschwinden des Signor Filippo; darum ließ ich ihn fort! In diesem Billet wird das Geld für die Rechnung wohl nicht stecken, Madame; ich fürchte, nein.«

»Was für ein Billet? Geben Sie her!« – Sie nahm es ihm aus der Hand und riß es auf, ohne nach der Aufschrift zu sehn. Kleine, sehr kleine Buchstaben hüpften ihr entgegen; hüpften wie Flöhe, da ihr alles vor den Augen auf und nieder flog. Endlich, nachdem sie die Lider mehrmals mit Gewalt geschlossen, las sie und erriet sie, was da geschrieben stand:

»Mein lieber Philipp!«

Also nicht an mich, dachte sie; doch in der Not des Augenblicks, in der Angst ihres Herzens las sie weiter:

»In dieser unglückseligen Stunde, wo ich Dir so unbrüderlich den Krieg erklärt, meiner selbstsüchtigen Leidenschaft das erste und letzte Wort gelassen habe, sprach nicht Ich aus mir, sondern Es; dieses schreckliche Es, das nicht ›Wir‹ ist, aber sich oft mit so verhängnisvoller Macht bemüht, es zu sein. Nenne es, wie Du willst; ich nenne es Es. Jetzt komme ich wieder zu mir. Ich werde wieder der Mann, der sein Schicksal begreift; der ihm stille hält; der seine im Leid geübten Schultern hinhält, das auf ihn gelegte Verhängnis zu tragen. Ich weiß, ich weiß, ich soll keiner von den ›Glücklichen‹ sein. Ich weiß, daß ich für Dein Glück zu sorgen habe; dies ist meine Pflicht; andres zu wollen, habe ich kein Recht. Ich weiß es. Ich verzichte. Ich ward zum Verzichten geboren. Was ist einfach zu tun? Daß wir Dich glücklich machen. Gut, wir wollen es tun. Unserer sterbenden Mutter hab' ich es gelobt. Wir wollen es tun. Kümmere Dich nicht um das, was mir dabei geschieht. Ich drücke mein Herz zusammen, daß es nicht verblutet, und bleibe mit mir allein; in meiner heimlichen Ehe.

»Vergessen! Ottilie vergessen! – – Ich werde versuchen, es zu machen, wie ich's damals machte, als der Arzt mir sagte: Geben Sie die Zigarren auf; rauchen Sie nicht mehr. Damals ergriff ich die einzig richtige Maßregel gegen mich. Ich sagte mir: mein Lieber, es ist ein Ding der Unmöglichkeit, Morgens und Abends zu rauchen. Ich gab mir diese Unmöglichkeit zu, und rauchte nur noch ›nach Tische‹. Anfänglich noch meine vier Zigarren hintereinander; allerdings. Ich ließ mich einige Tage gewähren; dann sagte ich mir: Drei Zigarren sind schicklich und deiner würdig; mehr nicht. Ich gab es mir zu. Dann: zwei. Dann: eine. Dann ging ich zum Arzt und sagte: ›Soll ich Ihnen auch diese eine noch opfern? Verlangt es die Wissenschaft? Gut! So soll es geschehn!‹ – Nein. Er ließ mir die eine. Ich rauche sie noch.

»So will ich's auch hier versuchen! – – Vielleicht laßt ihr mir dann wenigstens einen Seufzer, einen Gedanken ... Werde glücklich, Philipp! Ich eile, euch zu verlassen. Ein Einspänner führt mich nach Arco, und von da nach Trient. Wohin weiter? Laß mich daran nicht denken ... Lege meinen Anteil an der Rechnung aus. Kein falsches Mitleid mit mir! Ich kann nicht mehr schreiben, nicht mehr denken. Sag Ottilien – das heißt, sag ihr nicht – daß ich fliehe, weil ich verzichte; daß ich verzichte, weil ich bin

Dein unglücklicher

Fridolin.«

– – »Nun? und meine Rechnung?« fragte der Wirt, als sie schon lange ausgelesen hatte und noch immer nichts vernehmen ließ. »Werden Sie mich gefälligst zahlen, Madame?«

Auf diese Frage starrte Ottilie ihm wie erwachend ins Gesicht. Es stand ihr mit erstaunlicher Klarheit alles auf einmal vor Augen: daß sie kein Geld hatte, daß Fridolin auf sie verzichtete, und daß sie mit Judica und der unbezahlten Rechnung in der Fremde allein war.

Von dieser Tragikomödie überwältigt sank sie auf einen Stuhl. Sie hatte noch Besinnung genug, ihre Lage grausam komisch zu finden; und indem sie das dachte, fing sie an zu weinen.


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