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III.

Der März dieses Jahres (es ist lange her) war nach einem harten Winter plötzlich mild geworden; und drei Wochen lang hatte er nun schon diese menschenfreundliche Rolle gespielt. Man hatte, nach Menschenart, bereits vergessen, daß Berlin eine der Hauptstädte des Nordens ist, man glaubte die Herrschaft des Frühlings angebrochen, die »Erdachse« zu Gunsten eines milderen Klimas »gedreht«; das dem nordischen Menschen eigene, stillende, festigende, schön befriedende Wintergefühl zerflatterte mehr und mehr in die Unruhe der Seele, die der Lenz hervorbringt. Der Abend dieses zwanzigsten März war noch mehr als alle früheren von lauen Lüften und fast sommerlich warm gefärbten Wolken verklärt. Als Fridolin mit Leopold auf die Straße hinaustrat, hatte der beinahe volle Mond das klare Gewölbe erstiegen und beleuchtete den langsamen Wolkenzug, den ein phantasievolles Auge für einen ungeheuren Wanderzug heimkehrender Frühlingsvögel halten konnte. Die beiden, diesem Zuge folgend, schlenderten über den Potsdamer Platz, durch die stillere Bellevuestraße in den Tiergarten hinein, und auch die Nacktheit seiner dunklen Bäume beirrte ihre Frühlingsgefühle nicht. Die leise Luft wehte so mild; der Geruch sprießender Blätter, Veilchenduft und Vogelgesang schien sie zu durchschwärmen. Fridolin hatte seines jungen Freundes Arm genommen; er fing an, leise ein Lied zu singen; Leopold sang nicht mit, aber er störte ihn nicht. So hatten sie noch wenig gesprochen, als sie endlich der »Rousseau-Insel« gegenüber stehen blieben und ein träumerischer Gedankengang, der Fridolins Züge weich machte, ihn festzubannen schien. Er lehnte sich an einen Baum. Der Mond beschien seinen schwarzen, weichen, künstlerisch eingedrückten Hut, und das immer noch schöne Gesicht. Die Falte zwischen den Augen war von der lyrischen Stimmung, in der er sich fühlte, fast aufgelöst; die blauen Augen hatten einen Ausdruck beinahe weiblicher Empfindsamkeit, einen sanften Glanz, sanft wie das Mondlicht, das ihn überfloß. Leopold, den klugen, beobachtenden Blick auf Fridolin geheftet, stand gleichfalls still, ohne sich zu rühren. Um seine Lippen rührte sich wieder der feine, frühreife, überlegene Zug; doch er ließ Fridolin träumen, wie er wollte, und störte ihn nicht.

»In solcher Nacht,« fing Fridolin endlich an,

»In solcher Nacht ward ich zur Nachtigall
Und flötete von unerhörter Liebe.«

»In solcher Nacht,« sagte Leopold mit seinem ruhigen Baß, »lief ich an der Rousseau-Insel Schlittschuh, mit einer Dame im Pelzmuff, und ward geliebt.«

»Mein teurer Freund,« erwiderte Fridolin wehmütig, »dein jugendlicher Hochmut hat leider recht. Du bist jung, ich bin alt.«

Leopold lächelte. »Du bist vierzig, ich zweiundzwanzig! Wenn ich vierzig Jahre alt sein werde, werd' ich nicht ›von unerhörter Liebe flöten‹, sondern alle zweiundzwanzigjährigen Jünglinge durch mein Liebesglück beschämen, zur Verzweiflung bringen, rasend machen.«

»Glaubst du? – Es scheint, mein Lieber, dieses Jahr, seit ich dich nicht gesehn, hat dich Sohn des Glücks noch glücksstolzer, noch selbstgewisser gemacht! – Du hast dich verschönert, das ist wahr; du siehst reifer, geistreicher, siehst bedeutender aus. Du siehst aus wie deine Briefe: fünfundzwanzigjährig. Wär' ich deine Mutter, so würd' ich stolz auf dich sein. Da ich aber nur dein Freund bin – und vor einem Jahr noch dein ›Meister‹ war – so möcht' ich dir lieber sagen, mein Sohn, daß du doch immer noch ein Werdender bist.«

»Ebensogut könntest du dem Baum sagen, daß er ein Baum ist,« erwiderte Leopold lächelnd. »Wie und wann sollt' ich denn vergessen, daß ich ein Werdender bin? Daß ich werde, das ist's ja, warum ich lebe.«

Fridolin nickte zufrieden. »Da sagst du einmal ein gutes Wort! Wenn du so denkst, mein Sohn, sehe ich den Klettersprüngen deines Lebens etwas ruhiger zu. Und wie lange denkst du noch ein Werdender zu sein?«

»Ich will dir sagen, Fridolin, was ich denke, – damit du mich auslachen kannst. Ich hab' mir vorgesetzt, mit fünfundzwanzig Jahren fertiger Selbstarzt, mit dreißig Jahren fertiger Charakter, mit fünfunddreißig Jahren fertiger Meister meines Berufs zu sein.«

»Deines Berufs als Naturerforscher?«

»Ja.«

Fridolin seufzte mit sentimentalem Humor. »Und ich, mit vierzig Jahren, bin weder als Selbstarzt, noch als Charakter, noch als Berufsmeister fertig. Ich bin die Unfertigkeit. Ich bin das Niefertigwerden.«

»Du bist die Unzufriedenheit,« entgegnete Leopold.

Fridolin schüttelte den Kopf. »Mein guter Freund, wolle mich nicht trösten! In einem bin ich vielleicht fertig, fertiger als ihr alle: in der Selbsterkenntnis. Ich scheue mich auch nicht aus falschem Stolz oder falscher Scham, dir, einem zweiundzwanzigjährigen Menschen, zu sagen, was ich von mir denke. Warum sollt' ich mich scheuen? Vor Risotto, vor Frivolin bin ich der Meister, der höhere Mensch, den sie ehren sollen; aber vor dir, der du mir eines Tages hoch über den Kopf wachsen sollst – widersprich mir nicht –, vor dir zeig' ich mein nacktes, hemdloses Ich. Was für ein Ich? Wer bin ich? Ich weiß es nicht. Niemand weiß es! Ich bin der Mensch ohne Mittelpunkt. Warum treib' ich dies oder das? Warum bin ich dies geworden, und warum nicht das? Niemand weiß es. Ich glaube, ich konnt' alles werden und nichts; das ist das tragische Rätsel meiner Erschaffung.«

Leopold lachte.

»Worüber lachst du?«

»Über diese Wirkung des Frühlings. Der warme Abend lagert wie eine Bruthenne über deinem Hirn und brütet das Ei deiner Schwermut aus. Was du bist? Jedenfalls das Original, das der Schöpfer aus dir machen wollte; und das ist ihm gelungen.«

»Ein schönes Original! Ohne Mittelpunkt. Das Original des Nieoriginalwerdens. Ich lehre, und weiß nichts. Ich schreibe, und hab' keinen Stil. Wie oft hat deine junge Weisheit, dein Goethetum mir meine stillosen Sätze vorgeworfen! Ich bin die Disharmonie. Oben ein schöner Mann, unten zu kurze Beine. Ein Jupiterbart und eine dünne Stimme. Ein Herz, das für eine Idee, für einen Freund auf der Stelle verbluten könnte, und ein für sein Junggesellenbehagen sorgender, ängstlicher Egoist. Warum bin ich Kunstprofessor geworden? Ich weiß es nicht. Meine Gliedmaßen sagen mir, daß ich ursprünglich etwas anderes werden sollte. Meine Muskeln, meine Gelenkigkeit, meine Fähigkeit, mich zu verrenken, meine Tanzmeistergrazie. Wenn dir das alles nicht sagt, daß ich meinen Beruf verfehlt habe, so sagt die Natur dir nichts! So oft ich in einem Zirkus sitze, möcht' ich aufstehen und zu dem versammelten Volke sprechen: Seht hier einen Mann, der seinen Beruf verfehlte – der zum Kunstreiter bestimmt war!«

Fridolin trug diesen Satz mit so dramatischer Lebendigkeit, mit so ausdrucksvollen Bewegungen der Arme vor, daß Leopold unwiderstehlich gereizt ward, in ein heftiges Lachen auszubrechen. Es zeigte sich auf Fridolins Gesicht, daß dieser Erfolg seiner Rede ihm schmeichelte. Er unterbrach den Lachenden nicht. Er blieb noch in der theatralischen Haltung stehn, in der er geendet hatte. Doch als Leopold wieder still ward, ließ er die Arme und die Augen sinken und setzte mit halb humoristischem, halb wirklichem Ernst hinzu: »Bekenne, mein Freund, daß dieser Zustand meines Organismus teils lächerlich, teils verächtlich ist.«

»Kunstreiter oder Kunstprofessor,« erwiderte Leopold mit derselben Art von Ernst: »immer doch noch Kunst.«

»Aber gegen die Natur. Ich zeige dir, dem Naturforscher, eine interessante Erscheinung. Ich bin ein Protest gegen die Natur.«

»Vor allem glaub' ich, daß du unverheiratet bist,« entgegnete Leopold mit seinem klügsten Lächeln. »So mancher Mensch, der seinen Mittelpunkt vergebens in sich selber suchte, fand ihn dann in der Ehe. Dahin verlegte ihn die Mutter Natur! Wenn du noch heiraten würdest, Fridolin, würdest du vielleicht nicht mehr finden, daß du zum Kunstreiter bestimmt warst.«

Über Fridolins Züge flog ein Hauch von Schwermut, der sich jedoch in einem Ausdruck geistreicher Erregtheit sogleich wieder verlor. »Gut!« sagte er, »ich lehne mich noch einmal gegen meinen Baum und antworte auf diese Einrede. Warum heirat' ich nicht? Es wäre vielleicht noch Zeit. Es gäbe noch jüngere und ältere Damen, die mir Tante Ritter zu ersetzen geneigt wären. Es ist wahr, die alte Tante Ritter, diese so sehr vortreffliche Frau, genügt mir nicht. Mein Verhältnis zur Welt als Onkel genügt mir nicht. Mein Beruf, meine Leibschwaben, meine Freunde, das alles genügt mir nicht. Ich sehne mich nach einer Ergänzung, Leopold! Ich mache noch immer lyrische Gedichte, worin ich mich nach dieser Ergänzung sehne. Ich hole sogar zuweilen noch meine Flöte wieder hervor, um auf ihr auszudrücken, daß ich mich sehne. Zuweilen, im Verlauf dieses Jahres, hab' ich geglaubt, es sei die Sehnsucht nach dir; habe Briefe an dich geschrieben, wie an eine Geliebte – unterbrich mich nicht – verrückte Briefe –«

»Die ich nicht kenne,« fiel Leopold ein.

»Nein. Ich hab' sie nicht abgeschickt. Sie liegen noch in meinem Schreibtisch; nie wirst du sie lesen. Ich liebe dich sehr, mein Sohn; ich sonne mich in dir; – aber auch du bist mir diese Ergänzung nicht. Du bist mir zu positiv; zu klar; – sagen wir, zu männlich. ›Was von Menschen nicht gewußt, oder nicht bedacht‹ – so eine Ergänzung mein' ich.«

»Eine weibliche Ergänzung also,« sagte Leopold lächelnd.

»Mein lieber Sohn,« erwiderte Fridolin,

»Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,
Das schwer sich handhabt wie des Messers Schneide!

Eine weibliche –! Natürlich. Man sieht mich an, sieht meinen schönen Bart, und sagt: ›eine weibliche Ergänzung!‹ – Laß mich darauf folgendes antworten – und stell dich nicht immer von einem Bein aufs andere, steh ein wenig still. Warum heirat' ich nicht? Warum hab' ich deine schöne Schwester geliebt, und dann auf ihrer Hochzeit mit einem andern – Kotillon getanzt? Warum hat mein Bruder, der Franz, die Kinder mit meiner Schwägerin Therese erzeugt, die jetzt seine Neffen wären, wenn ich Therese ebensosehr geheiratet wie geliebt hätte? Warum bin ich vierzig Jahre alt geworden, ohne zu heiraten? Warum werd' ich fünfzig, sechzig, siebzig Jahre alt werden und nicht geheiratet haben? Warum? – Mein teurer Leopold, weil ich – –«

Er brach ab und versank in geheimnisvolles Schweigen.

»Nun?« fragte Leopold.

Fridolin verließ seinen Baum, trat auf den Jüngling zu und blieb vor ihm stehn. Nachdem er dann sein sanftes Auge hatte umherschweifen lassen, ob irgend ein dritter ihn vernehmen könnte – doch kein Mensch war in dieser nächtlichen Öde zu sehen – sagte er mit scheinbarer Gelassenheit: »Weil ich in einer heimlichen Ehe lebe, mein Sohn.«

Er beobachtete die Wirkung dieser Worte auf Leopolds Gesicht. Die klugen, geistreichen Züge des Jünglings gerieten so außer Fassung, daß er einem einfältigen Menschen sehr ähnlich sah. Fridolin schlug ihm auf die Schulter, mit einem elegischen Lächeln: »Soll ich dir sagen, Leo, wie du in diesem Augenblick aussiehst? Nicht wie der weise Schweiger Oranien vor seinem Egmont – wie du mich früher nanntest. Nicht wie Goethe vor Napoleon. Sondern wie jener Leutnant, der nachts vor Dummheit nicht schlafen konnte.«

»Eine heimliche Ehe!« sagte Leopold endlich. »Ich denke nur noch nach, ob ich dir ein Wort davon glauben soll, oder nicht.«

»Mein teurer Leopold! ›Wer darf sagen, ich glaub' es? Wer darf sagen, ich glaub' es nicht?‹ – Fasse dich, Leo. Es handelt sich um eine jener heimlichen Ehen, die sich vor den Augen der Menschen ereignen, ohne daß sie sie sehn. Um eine Naturerscheinung. Um eine psychologische Tatsache!«

Leopold konnte nicht umhin, seine Augen noch weiter als vorhin zu öffnen. Fridolin freute sich dieser Wirkung. Er zündete sich dann, seine Überlegenheit genießend, mit behaglicher Ruhe eine Zigarre an, ohne zu sprechen. Es war hier windstille Luft. Er blies den Rauch kunstvoll in untadelhaften blauen Ringen nach oben, wo sie langsam verschwebten, bis er endlich fortfuhr: »Du erwartest schweigend, wie ein Philosoph, was ich zur Erläuterung dieses Satzes sagen werde. Darin erkenn' ich dich. Darin gefällst du mir. Ich will dich zum Dank dafür mit jenem zu Tode zitierten Worte Hamlets von den ›Dingen im Himmel und auf Erden‹ und von der ›sich nichts träumen lassenden Schulweisheit‹ verschonen; obwohl es mein Vorrecht ist, dein Dasein durch klassische Zitate zu schmücken. Und nachdem ich dich nun lange genug auf dem Stuhl der Erwartung habe sitzen lassen, werde ich, der Kunstprofessor, dir, dem Naturforscher, ein Geheimnis der Natur enthüllen, mein Sohn.«

»Ich höre!«

»Gut. Du hörst. Ich rede. Was unterscheidet die Kunst von der Natur? Daß die Kunst das in sich Abgeschlossene, ewig Fertige, die Natur das ewig Werdende und Vergehende, ewig Unfertige ist. Die Kunst duldet keine Grenzenlosigkeit, die Natur keine Grenze. Nehmen wir an, die Natur hätte – als ihr höchstes irdisches Gebilde – den Menschen hervorgebracht. Hat sie ihn als eine abgeschlossene, fertige Einheit hervorgebracht? Nein. In ebenso vielen Formen und Farben, als es Individuen gibt. Der törichte Laie sagt: sie hat den weißen, den schwarzen, den roten Menschen geschaffen. Die höheren Intelligenzen – du und ich – wir sagen: es gibt nicht den weißen, den schwarzen und den roten Menschen, sondern es gibt alles, was es geben kann; vom weißesten Weiß durch alle Möglichkeiten der Verdunklung bis zum schwärzesten Schwarz. Es fehlt kein Übergang, es fehlt keine Verbindung. Könnte man alle Menschen dieser Erde in einer Reihe nebeneinander stellen, nach ihrer Hautfarbe geordnet, vom hellsten Albino bis zum verfinstertsten Neger, so würde jener törichte Laie trotz aller Mühe nirgends eine Grenze finden, wo die eine Farbe aufhört und die andere beginnt. Er würde ganz vergebens eine Lücke suchen. Oder wenn er endlich den Triumph erlebte, zwischen zwei Menschen die sie verschmelzende kleine Schattierung zu vermissen, so würde ihm der Weltgeist auf die Schulter klopfen und sagen: ›Mein Sohn, stelle du dich zwischen diese beiden Menschen; denn diese Schattierung bist du.‹«

Leopold mußte lachen.

»Lachst du,« fragte Fridolin, »über meine Darstellung oder über die Sache? Gibst du die Richtigkeit meines Satzes zu?«

»Ich bin entschlossen, sie zuzugeben, Fridolin,« antwortete Leopold.

»Gut. Du bist entschlossen. Wie hat diese selbe Natur es mit diesem selben Menschen in Hinsicht seines Geschlechts gemacht? Fragen wir den törichten Laien! Der törichte Laie – der ewig törichte – antwortet: Die Natur schuf den Mann und schuf die Frau; und weiter nichts. Fragen wir ihn weiter: Und es ist also jeder Mann einfach ein rechter Mann, jede Frau einfach eine rechte Frau? Wenn du die Menschen deiner Bekanntschaft auf ihre geistige Beschaffenheit, auf ihr Gemüt, auf ihren Charakter ansiehst, findest du, mein Lieber, daß jeder Mann durchaus männlich, jedes Weib durchaus weiblich geartet ist? Oder findest du, daß es hier sonderbare Abweichungen und Ausnahmen gibt? – Er nickt. – Wenige? Viele? – Er nickt. – Sanfte, starke, ungeheuerliche? Mannweiber? Weibmänner? – Er nickt. Es gibt alles. Er nickt, notgedrungen, zu allem! – Nun, mein törichter Laie, so laß uns höhere Intelligenzen dir sagen, daß diese sogenannten ›Abweichungen‹ und ›Ausnahmen‹ auch hier nur die unzähligen Übergänge, Zwischenglieder der grenzenlosen Natur sind; daß sie auch hier keine Grenze, keine Lücke kennt. Wir werden dir abermals alle Menschen der Erde nebeneinander stellen, diesmal nach den seelischen Eigenschaften des Geschlechts, vom Nordpol der Männlichkeit bis zum Südpol der Weiblichkeit geordnet; und wenn dann der Weltgeist die Gewogenheit hat, dir auf einen Augenblick seinen alles durchdringenden Weltblick zu leihen, so wirst du zur Beschämung deines blöden Geistes wahrnehmen, daß vom männlichsten Mann bis zum weiblichsten Weib keine Schattierung, keine Möglichkeit fehlt. Daß es unter anderm in der Mitte dieser langen Reihe sehr merkwürdige Wesen – sagen wir nicht ›Ausnahmen‹, sondern ›Übergangsmenschen‹ – gibt, die, was ihre liebe Seele betrifft, ungefähr ebensoviel vom Manne wie vom Weibe haben; die männlichen Verstand haben und weibliches Empfinden – oder weiblichen Geist und männlichen Charakter – oder alles aus Männlichem und Weiblichem gemischt. Die daher ihre Ergänzung – da ja jedes Geschlecht nach seiner geistigen Ergänzung strebt – sowohl nach rechts als nach links, sowohl beim Manne als beim Weibe suchen; deren seelische Magnetnadel bald nach dem Nordpol der Männlichkeit, bald nach dem Südpol des Weiblichen zeigt. Die man« (Fridolin seufzte) – »die man leider tragische Erscheinungen nennen muß: denn sie suchen ihre Ergänzung, aber sie finden sie nicht. Suchen sie den Mann? Nur die weibliche Hälfte ihrer Seele sucht den Mann. Die andere Hälfte nicht; sie hat den Mann in sich selbst. Suchen sie die Frau? Nur diese andere Hälfte ihrer Seele sucht nach der Frau. Sie können sich nicht ergänzen, denn sie sind schon ergänzt. Sie sind mit sich selbst verheiratet. Sie leben mit sich selbst in einer heimlichen Ehe.«

»Das ist die heimliche Ehe, von der ich dir sagte,« setzte Fridolin nach einer Pause hinzu.

Leopold hatte ruhig, fast ohne sich zu rühren, zugehört. Auch jetzt blieb er still, nur daß er vor sich hin nachdenklich nickte.

»Du widersprichst mir nicht?« fragte Fridolin.

»Nein.«

»Du gibst zu, daß ich, ›der Unterzeichnete‹, in so einer Ehe mit mir selber lebe?«

»Ja. Nun, da du das Wort gesagt, die Sache bezeichnet hast, gebe ich es zu.«

»So begreifst du nun, mein Freund, warum ich nicht geheiratet habe, und warum ich nicht heirate.«

Leopold lächelte liebenswürdig elegisch, und ergriff Fridolins Hand. »Und daß ich indiskret frage,« sagte er, »lebt ihr glücklich miteinander? Oder vielmehr, lebst du glücklich mit dir?«

Statt zu antworten, nahm Fridolin auch Leopolds andere Hand; er hielt sie beide, seine eigenen Arme von sich streckend; ein Ausdruck tragischen Humors zog ihm langsam über das Gesicht. »Warum nehme ich deine Hände?« fragte er nach einer Weile. »Warum genügt es mir nicht, meine eigene linke Hand mit meiner rechten zu nehmen? Ach, mein Freund, zwei halbe Menschen ergänzen sich schlecht; erst zwei ganze Menschen ergänzen sich gut; so hat die Natur es gewollt. Sieh mich an, Leopold!« (Er wiederholte noch weicher:) »Sieh mich an. Die Natur hat mich, nach meines Leibes Gestalt, mit diesem klassischen Bart, dieser breiten Brust, ganz zum Manne geschaffen. Ich sehe aus wie Graf Egmont, sagt ihr. Graf Egmont gefiel den Frauen; – ich teile mit ihm dieses freundliche Geschick. Es haben sich Verliebungen und Leidenschaften ereignet; es ist nicht gezählt worden, wie viele. Und ich selbst –! Meine Konstitution ist zärtlich, mein Herz ist verliebt. Eine reizende Frau zwingt mich in der ersten Stunde zum Wohlgefallen, in der zweiten zur Entzückung, in der dritten zum lyrischen Gedicht. Beabsichtige ich sie auch zu heiraten? Ja, ich beabsichtige es. Ich bin bereit, mit jedem um ihren Besitz zu kämpfen. Was bin ich? Nur noch ein liebender, verliebter Mann, weiter nichts. Hab' ich noch eine Erinnerung davon, daß auch eine weibliche Hälfte in mir wohnt? Nein. Ich hab' es vergessen. Ich weiß nicht, daß ich es wußte. Ich dichte, liebe, werbe; – man erwidert meine Gefühle. Nehmen wir an, daß man sie erwidert. Ich merke, ich höre, ich erfahre es, daß man sie erwidert. Was geschieht nun? Gehe ich nun hin und sage: Mein Fräulein, ich liebe Sie, werden Sie meine Frau!? – Nein. Ich sage mir in stiller Rührung, wie schön es ist, daß sie mich liebt. Ich freue mich. Ich freue mich ein paar Tage mit reiner Freude; dann mit wehmütiger Freude. Ich dichte an die liebende Geliebte ein schwermütiges Gedicht. Ich bedaure sie. Ich leide um sie. Warum bedaure ich sie? Weil mittlerweile – die weibliche Hälfte in mir gleichsam wieder heimgekommen ist. Diese weibliche Hälfte, mit der ich verheiratet bin. Sie war verreist; sie ist nun wieder da! Sie erinnert mich daran, daß ich ihr gehöre. Konflikt. Zwiespalt der Gefühle. Stille Verstörung, Zerrüttung. Ein neues lyrisches Gedicht. Was ist sie mir, die liebende Geliebte? Der Frau in mir ein Gegenstand der Abgunst, des Mißtrauens; dem Mann in mir ein Gegenstand blutender Entsagung. Ja, ich entsage. Mit Schmerz, mit dem Gefühl meiner Unseligkeit; aber ich entsage. Die Ehe zwischen uns – zwischen mir und mir – stellt sich wieder her. Wir legen auch diese mißlungene Liebe zu den Toten. Bin ich nun glücklich? – Nein, mein Freund; glücklich bin ich nun nicht.«

Sie schwiegen eine Weile. Endlich nahm Leopold das Wort: »Glücklich nicht. Ich glaub' es. Aber du beruhigst dich, nicht wahr.«

»Ja, ich beruhige mich. Ich ziehe mich in meine Einsamkeit – oder Zweisamkeit – zurück. Ich arbeite. Ich lebe meinem Beruf; – wenn ich auch den rechten verfehlt habe,« setzte er lächelnd hinzu. »Arbeit ist Segen. Auch leben mit sich selber ist Segen. Ein Unglücklicher, mein Freund, bin ich also nicht! – Wir – ich und ich – leben in unserer Ehe so hin. Wie lange? Vielleicht drei Monate; vielleicht ein halbes Jahr. Ein neues Bild: neue Untreue. Diesmal wird – vermutlich – meine weibliche Hälfte ungetreu. Alles wahrhaft Männliche entzückt mich. Mit edlen Männern, mit liebenswürdigen Jünglingen zu reden, zu denken, zu schwärmen, wird mein höchster Genuß. Ich fühle wie der Beste aller Menschen, wie Sokrates: in schönen Jünglingen die schöne Seele zu suchen und zu bilden – in nicht schönen die innere Schönheit zu finden – scheint mir die edelste Aufgabe des Menschen zu sein. Einer gefällt mir vor allen. Ich suche ihn auf. Ich ziehe ihn an mich heran. Ich träume von ihm. Eines Morgens sage ich mir plötzlich: die Welt ist nichts ohne diesen Julius (oder Fritz); ich könnte nicht mehr leben, wenn ich ihn nicht hätte. Ich erziehe ihn, ich bilde ihn, ich opfere mich ihm. Ich sehne mich nach ihm. Alle Merkmale, alle Narrheiten der Liebe sind da. Doch wem sag' ich das alles! So hab' ich vor zwei Jahren ja auch dich geliebt. Du weißt, mein Freund, wie ich bin; denn du weißt, wie ich war!«

Leopold lächelte. »Deine edle Liebe machte mich stolz,« antwortete er; »übrigens, sie verblendete mich nicht. Jeden Morgen und jeden Abend war ich darauf gefaßt, daß die unausbleibliche Enttäuschung eintreten werde.«

»Enttäuschung: du sagst das rechte Wort!« entgegnete Fridolin. »Endlich, eines Tages, beginnt die Enttäuschung. Meine männliche Hälfte – Gott weiß, wo sie so lange war – kommt zurück. Sie sieht diesen Zustand und beginnt ironisch zu lächeln. Sie sieht sich den Gegenstand dieser Liebe an und findet, daß die weibliche Hälfte unserer Seele ein wenig verblendet war; daß der ›Gegenstand‹ doch auch nicht vollkommen ist. Daß er seine Schattenseiten hat. Seine Fehler. Seine Häßlichkeiten. Die weibliche Hälfte wehrt sich eine Weile; – endlich wehrt sie sich nicht mehr. In dem kalten Bade dieser Kritik kühlt sie sich ab. Der ›Geliebte‹ wird ein guter Kamerad, der Engel ein Mensch. Dauernde Freundschaft? Ja. Dauernde Liebe? Nein. Elegische, resignierte Verständigung zwischen uns – zwischen mir und mir. Die Untreue ist aus, die Ehe ist wieder da. Mein werter junger Mann, der du der Geliebte unserer weiblichen Hälfte warst, du wirst nun unser immer gern gesehener Hausfreund sein; aber unserer Ehe wirst du nicht mehr gefährlich werden!«

Fridolin begleitete diese Anrede an den gedachten jungen Mann mit so anmutig theatralischen Bewegungen, daß Leopold herzlich lachte. Es war, als müsse der so lebhaft angeredete junge Mann zwischen den Bäumen erscheinen, als müsse man aus seinem Munde jetzt die Antwort hören. Nachdem er ihn unwillkürlich mit den Augen gesucht hatte, sagte Leopold: »Jedenfalls meinen Glückwunsch zum erneuerten Hausfrieden! Und zum Trost sage dir, Fridolin, daß du wenigstens ein Original, ein Unikum unter den Menschen bist.«

»Ein Unikum? – Mein Teurer, du sprichst wie jener törichte Laie, nicht wie eine höhere Intelligenz. Ein Unikum? Glaube mir, es gibt ungezählte Existenzen, ähnlich wie ich. So viele Junggesellen beiderlei Geschlechts – so viele sogenannte ›Originale‹ und ›Käuze‹ – so viele Eheleute sogar, die sich in der Ehe ausnehmen wie der Fisch im Sande – sind ähnliche, nur etwas ungleichere Mischungen als ich. Man stößt auf sie, man wundert sich über sie, man lacht oder man ärgert sich über sie, man findet sie ›sonderbar‹ – aber man zergliedert sie nicht wissenschaftlich, man erkennt sie nicht. Und wer erkennt sie am wenigsten? Sie selbst. Worin allein bin ich ein Unikum? Darin, daß ich mich begriffen habe; daß ich meine tragische Stellung im Weltganzen verstehe. Das ist meine Größe« (er richtete sich bei diesen Worten mit humoristischem Ernst in seiner ganzen Größe empor). »Hier stehe ich, ein Objekt für die Wissenschaft. Studiert mich, begreift mich! Zunächst du, Mann der Wissenschaft, Mann der Natur, begreife mich; fuße dann auf mir, und von meinem Scheitel aus die Welt betrachtend, suche die verwandten Erscheinungen, suche das Ganze zu verstehn. Ich hab' mich dir preisgegeben; – danke mir dafür nicht. Dank begehr' ich nicht. Aber bewähre an mir den großen, erhabenen Undank der Wissenschaft, indem du, ohne Schonung für mein kleines Ich, an mir und durch mich eines der Geheimnisse der Natur für die Menschheit enträtselst!«

Nachdem er diese Anrede an Leopold mit dem ihr zukommenden anmutreichen Pathos gesprochen hatte, verließ er seinen Baum (an den er sich inzwischen wieder gestellt hatte) und wandte sich dem rötlich erhellten Teil des Nachtgewölbes, der Stadtseite zu. »Komm,« sagte er, »laß uns gehn. Sieh nach deiner Uhr; die meine steht. Halb neun! Schon! Es wird Zeit, daß wir zu meinen Leibschwaben zurückkommen; zu diesen liebend strebenden Jünglingen, die mich ahnen, aber nicht begreifen.«


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