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»Es klingelt zum dritten Mal,« bemerkte Risotto.
»Jetzt wird geöffnet,« antwortete Rudolf.
Die Tür ging auf, und ein unbekannter junger Mann, mit noch zartem, dunkelbraunem Flaum auf der Oberlippe, trat ein. Er sah aus wie ein Mann, der geradeswegs vom Bahnhof kommt, nach einer durchfahrenen Nacht: etwas verwildertes Haar, interessante Blässe, überwachte Augen, bestaubter Reiseanzug. Indessen erglühte sein blasses Gesicht, als er, noch immer schweigend, nähertrat, offenbar den Hausherrn mit den Augen suchend. Fridolin schwieg gleichfalls und betrachtete ihn.
»Nicht wahr, ich irre nicht – Sie sind es,« sagte endlich der junge Mann, mit sehr erregter Stimme.
»Ich glaube, daß ich es bin,« erwiderte Fridolin. »Wenn Sie mir gefälligst sagen wollen –«
»Ich muß mich entschuldigen,« fiel ihm der Fremde ins Wort, »daß ich so sehr frühmorgens, und so gradeswegs von der Reise – ohne Toilette zu machen – Ich hatte nicht Zeit – nicht Ruhe. Ich mußte augenblicklich hierher – – Entschuldigen Sie. Ich komme wegen meiner Schwester, mein Herr.«
Fridolin sah dem aufgeregten Jüngling, der mit einer sehr wohlklingenden, männlichen Stimme so verworren sprach, höchst aufmerksam ins Gesicht. »Ich will schwören,« sagte er plötzlich, »das ist Fräulein Ottiliens Bruder!«
»Ja, der bin ich, mein Herr. Ich komme, Sie zu fragen« (sein feines, edles Gesicht nahm einen auffallenden, fast drohenden Ausdruck an), »was diese ganze Geschichte – dieses ganze Benehmen gegen meine Schwester bedeutet.«
»Was für ein Benehmen? – Mein Bester, ich verstehe Sie nicht!«
»Ich bitte, mein Herr,« sagte der junge Mensch, indem er heftig errötete: »keine Ausdrücke der Vertraulichkeit; – ich bitte sehr. Wenn ich je gedacht hätte, daß meine Schwester eine solche Behandlung – eine solche Behandlung!« wiederholte er – »von Ihnen erfahren würde, – ich hätte nie zugegeben, daß sie dieses Haus betreten hätte, mein Herr.«
Fridolin starrte ihn an. Die Leibschwaben traten alle vier in jugendlicher Aufregung näher und blickten auf den Meister, was er sagen werde. »Wer versteht dies?« fragte Fridolin endlich. »Ich nicht. Wenn Sie wirklich dieser Bruder sind – aber Sie sind es – man sieht es – der Fräulein Ottilie am Gardasee besuchen wollte –«
»Ich habe sie auch besucht, mein Herr; oder vielmehr, ich wollte sie besuchen – aber sie war fort. Nachdem Sie sie auf diese unverantwortliche, auf diese ganz unglaubliche Weise verlassen hatten!«
Jetzt errötete Fridolin; und es währte eine Weile, bis er Worte fand. »Sie haben Ausdrücke, mein junger Herr – – Verlassen? Ich bin abgereist. Ja. Ich hab' Fräulein Ottilie bei meinem Bruder zurückgelassen, dessen Tochter sie erzieht. Wenn das –«
»Sie hätten sie bei Ihrem Bruder zurückgelassen? Wie können Sie das sagen, mein Herr, da dieser Bruder schon fort war? – Sie sind abgereist, mein Herr, Sie haben meine Schwester mit dem Kind allein gelassen; im Hotel, ohne Geld – wie eine Betrügerin, die ihre Rechnung nicht bezahlen kann; – meine Schwester, mein Herr. Ich kenne Ihre Beweggründe nicht; aber ich bin so frei, Ihnen grade heraus zu sagen, daß ein Ehrenmann –«
»Oho!« rief Risotto aus und drängte sich vor.
»Schweigen Sie, Risotto!« sagte Fridolin, der sich philosophische Ruhe zu erkämpfen suchte. »Wenn ich verteidigt werden muß, so verteidige ich mich selbst. Mein Herr!« sagte er, sich zu dem Jüngling wendend (Gott im Himmel, wie kann man mit einem Baß und einem Schnurrbart dieser Ottilie so ähnlich sehn!) »mein Herr, ich würde Ihnen ewig dankbar sein, wenn Sie einstweilen noch auf die moralische Beurteilung des Falls verzichten und mir mitteilen wollten, wie diese unbegreifliche Geschichte zusammenhängt! wie Sie dies alles erfahren haben, wo Fräulein Ottilie sich jetzt befindet – wo sie jetzt ist!«
»Wo sie jetzt ist? – Mein Herr, das wünschte ich von Ihnen zu erfahren; dazu reis' ich ja her; dazu reis' ich Tag und Nacht. Und um Ihnen ins Gesicht zu sagen –«
»Ich bitte, haben Sie noch ein wenig Fassung und Geduld, sagen Sie mir noch nichts – (die ganze Ottilie!) reißen Sie mich lieber aus meiner eigenen grenzenlosen Unruhe – gehn wir historisch zu Werke, wenn's Ihnen möglich ist. Die historische Entwicklung, mein Herr! Sie kamen nach Riva –«
»Ja, ich kam nach Riva! Ich hatte meiner Schwester geschrieben, daß ich auf der Durchreise nach Rom sie besuchen werde« (Fridolin nickte) – »auf einen Tag, oder zwei« (Fridolin nickte wieder) – »ich gehe also ins Hotel, ich suche sie auf. Sie ist fort! ›Diese Dame ist fort!‹ sagt der Kellner und lacht mir unverschämt ins Gesicht. Ich wende mich an den Wirt. ›Diese Dame ist fort,‹ sagt er – mit so einem zweideutigen, verdammten Grinsen – –
»Was wünschen Sie, mein Herr?« sagte der junge Mann auf einmal zu Fridolin; »warum starren Sie mich denn fort und fort an?«
»Verzeihen Sie – (Ottilie als Knabe! – Der interessanteste ausgewachsene Knabe, den ich in meinem Leben gesehn!) Nur weil diese wahrhaft merkwürdige Ähnlichkeit – – Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie sogar, fahren Sie fort.«
»Nun ja; ich frage also – – Das heißt, ich wollte diesem Wirt zunächst deutlich machen, daß er sich jedes unpassenden und beleidigenden Mienenspiels zu enthalten habe; aber die italienischen Ausdrücke fielen mir nicht ein! – Ich frage ihn also: ›die ganze Gesellschaft ist fort?‹ – ›O ja,‹ sagt er, ›so nach und nach. Zuerst die drei Herren, einer nach dem andern. Ganz in der Stille. Zuletzt ist die Dame mit der Kleinen allein; macht eine Theaterszene mit Tränen; erklärt mir dann, sie habe kein Geld, könne mich nicht zahlen. Wenn Sie mich nicht zahlen können, sag' ich ihr, so werden Sie erlauben, daß ich mir anderweitig helfe; denn es gibt auch hier zu Lande Polizei, Madame, und es gibt Gerichte –‹«
»Großer Gott!« rief Fridolin aus, der sich nicht länger hielt. »Polizei! Gerichte! – Was ist geschehn? In Verhaft –?«
»Ich bitte Sie, mein Herr, lassen Sie meinen Arm,« sagte der junge Mensch, wieder heftig errötend. »Nein, nicht in Verhaft. Wär' sie in Verhaft, so spräch' ich nicht so ruhig zu Ihnen, wie ich es tue, sondern sagte Ihnen –« (erbitterter) »sagte Ihnen –«
»Haben Sie noch einmal die Geduld, mein Herr, objektiv zu bleiben; nur noch ein einziges Mal! (Wie gut dieses Aufbrausen ihm steht!) Haben Sie die Güte, mir mit drei Worten zu sagen, was geschehen ist!«
»Nun also mit drei Worten: sie ist fort! Denselben Abend ist ein Herr gekommen; er hat sie angeredet; wie es also scheint, hat er sie gekannt. Dann hat sie ihm allerlei erzählt, was der Wirt nicht verstanden hat; denn er versteht wenig Deutsch. Dann hat dieser Herr für meine Schwester die ganze Rechnung bezahlt; – wobei der Wirt wieder lächelte,« setzte der junge Mann hinzu und biß sich auf die Lippe. »Am andern Morgen sind sie alle drei – das Kind, meine Schwester und dieser Herr – miteinander abgefahren; im Wagen, nach Trient.«
»Leopold! Ich denke und hoffe, es war Leopold!« rief Fridolin aus.
»Ich weiß nicht, wer ›Leopold‹ ist,« erwiderte der Jüngling. Ich weiß nur, daß dieser Herr, über den der Wirt so unverschämt lächelte – und ich konnte auf das Wort impudenza im Augenblick nicht kommen! – daß dieser Herr sich vor der Abreise ins Fremdenbuch des Hotels eingeschrieben hat: Frivolino, pittore. Berlino. Weiter weiß ich nichts.«
»Frivolin!« rief Risotto aus. »Da haben wir die Pastete!«
»Ich hatte Sie ersucht, mein Sohn, zu schweigen,« fiel ihm Fridolin in die Rede. »Was ist das? Wie kommt der kleine Frivolin an den Gardasee? Ist er uns nachgereist? Was hat er gewollt? – Und dieser Don Juan muß Fräulein Ottilie auslösen? nach Trient begleiten? – Trient? Telegraphieren wir augenblicklich nach Trient!«
»Das wäre sehr überflüssig,« erwiderte Ottiliens Bruder, der bei den Worten »Don Juan« sich aufs neue verfinstert hatte. »Ich war ja in Trient! Ich fuhr von Riva dorthin. In jedem Hotel fragte ich nach einer jungen Dame, einem Kind und einem Herrn, – bis man mir in der ›Corona‹ sagte, die drei Herrschaften, die ich bezeichnet hätte, seien dagewesen, hätten zu Abend gespeist; doch noch in der Nacht seien sie weitergefahren, mit dem Schnellzug nach Norden zu. Dies ist das letzte, was ich erfahren habe. Der Portier sagte ein Wort von ›Bolzano‹, von Bozen; ich fuhr nach Bozen; hab' sie dort in jedem Hotel, jedem Kaffeehaus, in jeder Straße gesucht. Nichts. Keine Spur. Und darauf bin ich denn direkt nach Berlin gefahren; zu Ihnen, mein Herr.«
»Heiliger Gott! (Wenn er mich so ansieht, hat er ganz die Augen der Schwester; diese braunen Augen.) Wir wissen also nichts; nichts. Unter Frivolins Schutz in die Welt hinein! – Wohin; – Was soll man tun? – Was soll man jetzt tun? – Auch mein Bruder verschwunden; – ich verstehe nichts. Verschwunden, und seine Judica zurückgelassen; – Rätsel über Rätsel! – Mein Herr! – Herr Ritter also – Ferdinand Ritter – nicht wahr –«
Der Jüngling nickte.
»Was ich etwa dabei verschuldet habe, Herr Ritter (ganz die Rittersche Nase) – davon nachher. Jetzt handelt sich's darum, diese verlorene Schwester zu entdecken! – Telegraphieren! – Wohin? – Überallhin; natürlich. Wo kann sie sein? Da sie nicht in dieses Haus zurückgekehrt ist – was das einfachste, das natürlichste gewesen wäre –«
»Also Sie glauben, mein Herr,« unterbrach ihn der Bruder, »daß meine Schwester nach einer solchen Behandlung hierher zurückkehren wird?«
Fridolin errötete. (Wie diese männliche Ottilie in seiner Impertinenz entzückend ist!) »Gut, mein junger Herr; – reden Sie, ich handle. Reden Sie, was Sie wollen; ich telegraphiere. Franz! Setz dich, mein Sohn. Hier an den Tisch. Feder und Papier. Tinte. Ein Telegramm! An meinen Bruder Philipp; in Neustadt. Wenn er von Riva plötzlich abgereist ist, wohin wird er gereist sein? Nach Hause. Wohin wird Fräulein Ottilie mit seiner Tochter gereist sein? Vermutlich ebendorthin. – Vermutlich? Zuviel gesagt. Sagen wir: vielleicht. Versuchen wir's. Also ein Telegramm!«
Franz saß; Fridolin diktierte:
»Bist du da? Ist Fräulein Ottilie mit Judica dir nachgereist? Oder was weißt du von ihr?
Fridolin.«
»Wieviel Worte?« fragte er, nachdem Franz geschrieben hatte.
»Mit der Überschrift einundzwanzig,« antwortete Franz.
»Streiche ›ist‹! ›Ist‹ ist überflüssig. ›Ist‹ ist nicht lakonisch; nicht telegrammesk. Schreibe statt ›bist du da‹ einfach: ›Zurückgekehrt?‹ Und dann setze hinzu: ›Drahtantwort bezahlt.‹ Zwanzig Worte. In Ordnung.«
»Und nun –?« fragte Franz, indem er aufstand.
»Nun nimm das Telegramm, deinen Hut, und hab' die Güte und lauf!«
»Setzen Sie sich gefälligst, Risotto!« fuhr Fridolin fort, während Franz sich entfernte. »Wir telegraphieren weiter! – Wenn Sie mir freundlichst, im Interesse der Sache, sagen wollten, Herr Ritter: wohin Ihre Schwester sich etwa sonst gewendet haben könnte, wenn sie weder hierher, noch zu dem Vater Judicas gereist ist.«
»Wohin sonst?«
»Ja.«
»Zu ihrem Onkel vielleicht; zu ihrem und meinem Onkel, bei dem sie war, ehe sie hierherkam.«
»Eine Vermutung, die alles für sich hat! – Wenn Sie mir die Adresse dieses Onkels geben wollten.«
»Hier ist seine Karte,« antwortete der junge Mensch, indem er sie aus der Brieftasche zog, und reichte sie Fridolin hin. »Oder soll etwa ich –«
»Dies alles ist meine Sache, meine Pflicht; ich bin ja der Schuldige, der Verantwortliche; Sie sagen es selbst. Schreiben Sie, Risotto! Zuerst die Adresse, nach dieser Visitenkarte. Haben Sie's? – Sie haben. – ›Bitte um gütige Auskunft: Fräulein Ottilie Ritter bei Ihnen? Oder wo? Drahtantwort bezahlt.‹ Meine Adresse darunter. Genau zwanzig Worte. Gut.«
»Soll ich gehn?« fragte Risotto.
»Ja, kleiner Risotto, gehn Sie, opfern Sie sich für die Sache. Wir müssen heute schnell, entschlossen und groß sein! Fort mit dem Telegramm! – – Risotto ist fort. Versäumen wir nichts, mein Herr. Wohin könnten wir unsern Hilferuf noch erschallen lassen? Wohin könnte Fräulein Ottilie sich gewendet haben, wenn nicht zum Onkel? An wen und was ließe sich denken?«
»Ich wüßte nur eine Tante in Potsdam,« antwortete der Jüngling. »Diese Tante in Potsdam lud sie erst neulich ein, sie zu besuchen –«
»Lud sie erst neulich ein! Also eine Vermutung, die alles für sich hat! (Selbst das Wort ›Potsdam‹ klingt angenehm, wenn dieser Bruder Ottiliens es sagt.) Wir telegraphieren nach Potsdam! Die Adresse, wenn ich bitten darf?«
»Ich weiß sie nicht.«
»Auch nicht die Straße?«
»Nein.«
»Das ist nichts für den Telegraphen; – das ist eine Aufgabe für die findende menschliche Vernunft. Mein teurer Rudolf! In der nächsten Viertelstunde geht ein Zug nach Potsdam; in fünf Minuten – längstens! – bist du am Bahnhof; in dreiviertel Stunden drüben auf der großen Potsdamer Brücke. Du wendest dich an die Polizei, erfragst dir diese Tante – – ihr Name, Herr Ritter?«
»Frau Altschwager; Antonie Altschwager; Witwe; Blumenmacherin, – oder etwas dergleichen.«
»Oder etwas dergleichen! – Anhalt genug, mein teurer Rudolf, für einen Kopf wie deiner. Du erfragst sie, besuchst sie, erfährst dort, wie es steht. Gott sei Dank, meine Freunde, wir haben Ferien, wir können diese Sache im großen Stil behandeln und betreiben, wie sie's von uns verlangt! – Du bist noch nicht fort? – Ah, er geht schon fort. Nimm meinen Segen mit, mein Sohn, und verdiene dir meinen Dank!«
»Wann kann er wieder hier sein?« fragte Fridolin sich selbst und sah nach seiner Uhr. »Wir haben dreiviertel auf acht. Sagen wir: in zwei Stunden; sagen wir mit Berücksichtigung der menschlichen Gebrechlichkeit: drei. – Und abgereist mit diesem Frivolin? Sagt unsre Vernunft uns nichts über diesen Frivolin? Ließen sich nicht auch seine Spuren verfolgen? – Ich glaube, ihr erzähltet mir einmal, er wohne hier mit einem Bruder zusammen; einem Bruder mit roten Haaren und ohne Talent. Waldknabe! hab' ich recht?«
Der Waldknabe nickte.
»Du wirst seine Wohnung wissen?«
»O ja. Allerdings.«
»Weit von hier?«
»O nein.«
»Also nimm deinen kleinen fashionablen Deckel, mein Sohn, und lauf! Suche diesen Bruder. Frag ihn, was er von dem verschollenen Frivolin weiß –«
»Wollen wir nicht lieber durch den Lokaltelegraphen –?« fragte der junge Architekt, da er eben die Aufwärterin mit dem Frühstück eintreten sah.
»Durch deine eigenen werten Beine ist besser, mein Sohn; ›würd' ich sonst, Liebchen, dir es raten‹? Du bist ja schneller dort, und schneller zurück. Verdiene dir das Frühstück, indem du es in diesem Augenblick philosophisch verachtest!«