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Es war an einem Sonntag vormittag gegen Weihnachten. Über den Dächern der Stadt lag Schnee und alles war öde und leer ...
Aber da fielen plötzlich die Kirchenglocken ein, die heiligen Tore wurden aufgeschlagen, die Gemeinde erfüllte die Straße, wünschte einander Wohlbekomms! und eilte nach Hause zum Mittagessen.
Niels Uldahl und die alte Frau Thora Seemann verließen die Kirche Seite an Seite, die Gesangbücher hielten sie in den Händen.
»Möchte die gnädige Frau nicht meinen Arm nehmen, es ist ein bißchen glatt.«
»Gewiß, tausend Dank! ... Ja, es ist ein bißchen glatt mit dem Schnee, aber sonst ein reizendes Wetter, so milde und stille. Wer sollte glauben, daß wir bald Weihnachten hätten! ... Wie geht es bei Ihnen zu Hause?«
Frau Thora wußte sehr wohl, daß Niels keinen weiteren Verkehr mit seiner Familie hatte, aber sie hielt auf die Formen.
»O danke, recht gut!«
»Ihre Frau und Töchter kommen nie ins Gotteshaus glaube ich ...«
»Nein leider ...! Achten Sie auf die Schlittenbahn dort.«
»Ja, ich sehe sie ja; die Kinder, die Kinder, aber es sind ja Kinder! ... Das war eine reizende Predigt heute, finden Sie nicht Herr Uldahl?«
»Ausgezeichnet! Ich lerne Probst Lindemann immer höher schätzen.«
»Ja, er ist ein wundervoller Mann, wundervoll! .. Danke, ja, jetzt bin ich schon zu Hause. Und Dank für die Begleitung!«
»Nein, ich begleite doch unter allen Umständen die gnädige Frau die Treppe hinauf.«
Die alte Dame lachte vergnügt:
»Wirklich? Ja, Sie sind ein ausgesuchter Kavalier, wahrhaftig!«
Als Niels geläutet hatte und Frau Seemann im Entree stand, sagte er:
»Ja, dann komme ich also Dienstag wieder?«
»Ja, tausend Dank! Sie wissen nicht, wieviel Sie für mich sind!«
»Das Gefühl ist gegenseitig, liebe Frau! Es verleiht eine solche angenehme Sicherheit mit Menschen zusammen zu sein, die einen verstehen!«
»Gott segne Sie, ja, nicht wahr! ... Darf ich Sie bitten, zu Hause zu grüßen?«
»Ich gleichfalls Ihren Mann.«
»Danke ... Ja, dann auf Dienstag?«
»Auf Dienstag, ja! ... Adieu, liebe Frau Seemann, und Dank für den heutigen Tag.«
»Adieu, adieu, lieber Herr Uldahl! Und Gott segne Sie noch einmal für das, was wir einander sind!«
Niels Uldahl hatte das Herz der alten Frau Seemann gewonnen, indem er ihr seine ganze Leidensgeschichte mit seiner Frau und seinen Kindern erzählt hatte, die ihn durch ihre Unfreundlichkeit gegen ihn in ein sündiges Leben hinausgetrieben hatten. Und sodann berichtete er die schöne Geschichte, wie seine liebe verstorbene Mutter seine Umkehr bewirkt, indem sie sich ihm mit Erfahrungen und Gebeten gezeigt hatte.
Worauf Frau Seemann, vollständig überwunden, seine Aufnahme in die Gemeinde durchgesetzt hatte.
Und nun kam er häufig zu ihr zu Besuch, wo sie im Erinnerungs-Sofa saßen und von den höchsten Dingen sprachen, während der alte Vater Seemann, unempfänglich für alle Narrenstreiche dieser und jener Welt im Wohnzimmer seine Zeitung las ...
Aber den tiefsten und unauslöschlichsten Eindruck hatte Herr Niels doch dadurch auf Frau Thora gemacht, daß er ihr das Dogma von der unbefleckten Empfängnis ausgelegt hatte; diese fundamentale Frage, die nicht einmal ihr kluger und heißgeliebter Sohn Isidor zu ernsthafter Behandlung aufzunehmen gewagt hatte ...
Die Familie Uldahl hatte den ersten Stock eines alten Kaufmannshauses bezogen, das am südlichen Stadttor lag.
Frau Line und die Mädchen hatten die Wohnung gemietet, weil ein großer alter Garten zu ihr gehörte. Dann war doch der Übergang nicht ganz so schwer. Und in der Gegend bleiben wollten sie; nun hatte Frau Line ja außerdem auch noch Fräulein Sophies Grabstätte zu versorgen bekommen ...
Niels verhielt sich den Handlungen seiner Familie gegenüber ganz passiv, dankbar dafür, daß man ihn nicht völlig verstieß. Still und bescheiden führte er sich auf. Und als er auf seinen demütigen Vorschlag aus opportunen Rücksichten wieder wie in alten Tagen das Schlafzimmer mit seiner Gattin zu teilen, eine verdutzte Absage erhielt, wählte er sich, um so wenig wie möglich zu genieren, ein paar abgelegene Zimmer oben auf dem Boden neben der Mädchenkammer. Und hier lebte er zurückgezogen und still und zeigte sich nur bei den Mahlzeiten.
Aber diese herzlose Verbannung von Herd und Bett erregte natürlich bedeutendes Aufsehen in dem Städtchen. Die alte Frau Seemann behauptete geradezu, es wäre schändlich, wie seine Damen ihn behandelten. Ringsum in anderen christlichen Häusern sagte man dasselbe. Und Niels wurde allmählich eine Art Märtyrer.
Selbst der Umstand, daß er ein paarmal, ehe ihn die Gnade so richtig untergekriegt, einen leichten Rückfall bekommen hatte und berauscht auf der Straße gesehen worden war, schwächte sein Ansehen keineswegs. Er bereute nämlich nachher so wirklich reizend, ließ kein gutes Haar an sich und sagte, es würde ihn nicht wundern, wenn Gott zuletzt die Geduld verlöre ... So oft sich die Gelegenheit bot, ging er in die Kirche und setzte sich noch mehr dem Spott und Hohn der Welt aus, indem er morgens und abends religiöse Traktate an die Arbeiter verteilte.
Ja, er trat sogar ab und zu in frommen Versammlungen auf und legte seine ganze Vergangenheit bloß; was ihm so manches Ohr in der Gemeinde gewann.
Nur Frau Line und ihre Töchter verhielten sich dieser Bewegung gegenüber andauernd verständnislos und abweisend.
Frau Line war seit dem so traurigen Tode ihrer Lieblingstochter immer verschlossener und schweigsamer geworden. Nicht einmal die Karten spendeten ihr noch Trost. Sie hatte Fräulein Sophies Tagebuch gelesen, ehe sie es Isidor Seemann übergab, und diese Lektüre hatte sie um ihre gewohnte Ruhe gebracht. Ihr Mut war gebrochen, und ihre einst so starke und geduldige Seele hatte ihre Spannkraft verloren; denn sie war ja nicht einmal imstande gewesen, ihrem armen, einsamen Kinde Verständnis und Hilfe zu bringen. Und sie wiederholte verzweifelt die Worte des brustkranken Jens Oluf: Es nützt nichts! Es nützt nichts! Die Menschen wohnen so fern voneinander ... Und sie hatte doch den redlichsten Willen gehabt.
Nur wenn sie in dem kleinen Stübchen der Lurvadt und der Rottböl saß, dort in dem Stift, wo die Mädchen beide untergebracht waren, fand sie einen kargen Trost. Die Lurvadt mußte ihr dann immer wieder alles von Fräulein Sophie berichten, worauf sie sich nur irgendwie besinnen konnte, Munteres und Trauriges durcheinander.
Und Frau Line saß dann und hörte still zu, während die Rottböl in einer Ecke des Zimmers an ihren Puppen herumpusselte und ihr Lieblingslied vom wolkenlosen Lande der Träume summte ... oder mit irgendeinem merkwürdigen Wort jonglierte:
»Bankrott-Hof, Rottbankhof, Hof-Bank-rott!« lautete die neueste Bereicherung ihres Repertoires.
Und wie Frau Line das Leben hinschleppte, so auch ihre Töchter. Sie waren sich selbst überlassen und gingen jede ihre eigenen Wege.
Fräulein Anna faulenzte die Tage hindurch über einem Buch, in dem sie niemals las. Und Fräulein Charlotte und Fräulein Frederikke saßen, ihre Pfeifen dampfend, und vertieften sich jede auf ihre Weise in Gedanken über die Anziehung zwischen den menschlichen Geschlechtern ...
Nur der Märtyrer Niels Uldahl-Ege, der Geringgeschätzte, der Verleugnete, der in jeder Beziehung Gewesene, erhob sein weißes kampferprobtes Haupt siegreich immer höher über der Asche der Vergangenheit.