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Bald darauf erreichten sie die Hauptstraße von Havslunde. Alle Türen waren geschlossen und alle Fenster dunkel.

Es war nun gut elf Uhr. Die drei Freundinnen gingen still die Straße entlang. Hier wollten sie keinen Hallo machen, denn hier waren sie bekannt. Aber als sie zum Gartengraben von Havslundegaard kamen, griff Johanne sich plötzlich an den Kopf und sagte:

»Merkwürdig, wie verschieden doch Geschwister sein können.«

Marie und Maren zuckten zusammen. Sie wußten wohl, worauf Johanne anspielte; aber sie mochten nicht, daß darüber geredet würde. Das ganze Kirchspiel wußte, daß zwischen dem Gutsbesitzer und Johanne etwas gewesen war, und sie selbst sagte es ja auch ganz deutlich; aber deshalb mußte sie sich gerade hüten, auf die Verwandtschaft zu pochen ... Die beiden anderen hatten ja auch ... aber sie waren doch nicht mit ihm verwandt ...

»Hört ihr nicht, was ich sage,« wiederholte Johanne, ärgerlich über ihr Schweigen und ihre Stimme erklang laut und gellend. – »Ich sage, daß Geschwister merkwürdig verschieden sein können.«

Marie packte sie am Arm und wollte sie mit sich fortziehen.

»Ja doch, ja doch,« flüsterte sie hastig, »wir hören es ja! Aber über so was halt man das Maul ... Komm jetzt, Johanne.«

Aber Johanne riß sich los und rief, daß es durch die stille mondhelle Luft schallte:

»Hat vielleicht eine von euch bei ihrem eigenen Bruder gelegen? ... Das Unglück ist hinter ihm her! das Unglück ist hinter ihm her!« fuhr sie fort und drohte zum Hofe hinüber. – »Aber er erhängt sich nicht, oder erschießt sich wie die andern, die Havslunde besessen haben. Eher wird er heilig, der Schuft! ... Vater unser, der du bist im Himmel ...« Sie faltete die Hände und schrie vor Lachen.

»Ich rücke jetzt aus,« sagte die Ohrwurm, »denn jetzt kriegt sie ihren Anfall.«

»Nein, Maren, Maren, wir müssen doch bleiben, wir können es doch nicht vor Gott verantworten, sie allein zu lassen.«

»Teufel auch ...!« sagte Maren und lief was sie konnte, eine Nebenstraße entlang.

»Maren, aber Marn ...!«

Johanne hatte ganz richtig ihren Anfall bekommen. Sie hob zierlich die Röcke in die Höhe und begann ein munteres Liedchen zu singen und tanzte dazu. Ihre Augen leuchteten im Mondschein; sie war lauter Lächeln und Freude: das Leben erschien ihr wonnig:

Mein stilles, sanftes Veilchen,
Mein Rosenblümelein,
Wart' auch ein kleines Weilchen –
Im Lenz, dann bin ich dein!

Spat-Marie stand hilflos da und sah zu. Bald mußte sie über Johannes sonderbaren Tanz lachen, und bald weinte sie. Denn was sollte sie mit ihr anfangen, jetzt, da sie allein waren?

Da machte sie plötzlich kehrt und humpelte davon, so schnell ihre anderthalb Beine sie von der Stelle tragen konnten ... Und Johanne setzte still ihren einsamen Tanz in der hellen Mondnacht fort, bis sie endlich umstürzte und liegen blieb.

 

»Fräulein Sophies Haus« lag unten im Elmengebüsch am Fuß der großen Kiefern, deren nackte rostrote Stämme und wild zerzauste Kronen hoch über die anderen Bäume des Parkes emporragten. Und die Ewigkeit sang darin.

Das Haus war aus alten Bretterresten zusammengezimmert und vollständig von Kletterrosen und wildem Jasmin überwuchert. Die Wohnung bestand aus einem Vorzimmer, das zugleich als Küche benutzt wurde, und einem Salon, vier Ellen lang und drei Ellen breit. Und man konnte nicht grade darin stehen.

Sophie und ihr »unechter Vetter«, der Amtsrichter Isidor Seemann, lagen auf den Fellteppichen unter den Fenstern und sprachen tiefsinnig mit einander; das »liebte« Fräulein Sophie. Auf der Schwelle des Vorzimmers saß Türk. – Der Amtsrichter war ein 35jähriger breitschultriger Mann von heller Hautfarbe und scheinbar ruhig und gleichmütig.

»Ja, siehst du, Cousinchen«, sagte er, »bei Geschlechtern wie den unseren, die die Wonne und Trauer und Herrlichkeit der ganzen Welt genossen haben, bleibt zuletzt nur die Sorge übrig. Und davon kann kein Geschlecht leben, und so welkt es und fault und stirbt.«

»Man pflegt doch zu sterben, ehe man fault,« erwiderte sie.

»Nein, die Geschlechter nicht, Kleine.«

»Weißt du, was ich glaube, Vetter Isidor? Ich glaube, du sagst all dies über dich nur, um dich interessant zu machen ... so gesund und kräftig wie du aussiehst.«

»Ich bin ein übertünchtes Grab ...« lächelte er, zugleich wohl wissend, daß es etwas pervers war, hier zu liegen und in dieser Weise mit einem Kinde zu sprechen.

»Und all die lustigen Bilder, die du zeichnest,« fuhr sie fort.

Er machte seine Stimme tief und dunkel:

»Ja, ich müßte auch weit eher immer nur Leichen zeichnen.«

Sie lachte:

»Ja, das solltest du wirklich tun!«

»Ich habe es versucht,« nickte er, »aber die werden auch »lustig!« Er richtete sich auf dem Ellbogen auf. »Sieh, nun z. B. das Bild, das ich von euch zeichnete, als du mir von deines Vaters Ausfahrt mit Mamsell Helmer neulich erzählt hattest. Ich fand die Geschichte wirklich sehr traurig. Du hattest Tränen in den Augen, als du es mir erzähltest. Und ich empfand das tiefste Mitleid mit euch allen ... Aber wie wurde dann das Bild? Selbst deine Mutter mußte lachen, als sie es sah.«

»Ja, aber das war auch wirklich drollig, Vetter Isidor! All' die Gesichter rings in Fenstern und Türen ... Und Vater, der aussah wie ein altes Streichholz ... Und Mamsell Helmer, die aus Blutwürsten gemacht war ... Und Mutter, die mit zwei langen tristen Tränen dastand, die ihr bis auf die Brust hinabhingen. Ja weißt du – das war lustig! ... Und ich wünschte, du wohntest hier auf Havslunde, dann würde es viel leichter für uns werden.«

»Sage das nicht, Kindchen!«

Sie blickte ihn verwundert an.

»Warum nicht?«

»Weil ich für gewöhnlich so unglaublich mürrisch bin ... Ich will dir nämlich was anvertrauen, Sophiechen: diejenigen, die traurige Bilder machen, die sind vergnügt im Umgang; aber diejenigen, die lustige machen, mit denen zu tun zu haben ist fürchterlich traurig ... denn nur so findet die göttliche Gerechtigkeit ihre Vervollkommnung.« Fräulein Sophie seufzte tief auf.

»Gott, wie meine Bilder dann lustig werden würden,« sagte sie, »wenn ich zeichnen könnte!«

»Bist du denn so bitterlich betrübt?«

»Schrecklich!« lächelte sie, und die Tränen traten ihr dabei in die Augen. »Und morgen kommt noch dazu Mamsell Helmer zurück ... Und denk' dir nur, Vater hat an den Verwalter geschrieben, daß Lars wieder mit Mutters Wagen auf die Station kommen und sie abholen soll.«

»Ja – e, Sophiechen, ... aber wenn deine Mutter selbst die Sache so ruhig nimmt, dann ...«

»Ach–ch, es steckt keine Indignation in Mutter! Und auch nicht in den Schwestern! Die haben keine Energie! Ich bin die einzige hier, an der wirklich etwas daran ist! Ich gleiche der Großmutter, sagt die Ingwersen; die prügelte den Großvater; die Ingwersen und der Diener mußten sie auseinanderbringen. Das war eine Frau!«

»Ja aber, kannst du nun nicht hingehen und den Verwalter prügeln ...?«

»Jetzt hältst du mich zum Narren, Vetter Isidor ...«

»Nein, nein, nein ...«

»Du nimmst mich niemals ernst!«

»Doch, doch, doch!«

Sophie erhob sich eifrig:

»Ich habe es Lars verboten, mit dem Wagen herunter zu fahren; aber er tut's natürlich doch. Wenn hier nur ein richtiger Mann auf dem Hofe wäre, der Vater ordentlich Bescheid sagen würde. Vater ist feige, weißt du; er ist eine richtige Memme! Ich habe es ja gesehen, wie er davonschleicht, wenn Mutter endlich einmal wütend wird und ihm Bescheid sagt. Sie könnte ihn schon im Zaum halten, wenn sie nur wollte!«

»Ja, aber kannst du nun nicht ...«

»Nein, ich kann es nicht. Ich habe es ja versucht, aber zuletzt muß ich doch bloß weinen, weil ich ein Mädel bin, und weil mir das Ganze hier so schrecklich traurig vorkommt. Ach, wie könnten wir es doch hier auf Havslunde gut haben; aber da geht der alte scheußliche Kerl hin und verdirbt uns alles.«

Die Tränen strömten ihr die Wangen hinab. Sie sprangen ihr geradezu aus den Augen, so hastig und plötzlich kamen sie.

»Was ... ist ... ein Pleitehof?« fragte sie gleichzeitig. »Ja, nun heule ich natürlich wieder«, versuchte sie dann zu lachen. »Aber war ist ein Pleitehof?«

»Ein Pleitehof, Sophiechen ...? Das ist ein Hof, auf dem man des Morgens hofft, mittags fürchtet und abends sich betrinkt, Selbstmord begeht oder Christ wird.«

»Hä, hä,« lachte sie seltsam forciert, indem ihr die Tränen immer weiter über die Wangen rannen. »Ich pfeife auf das Ganze.«

Isidor, der sich gleichfalls erhoben hatte, wollte einen Arm um sie schlingen, aber sie zog sich scheu zurück.

»Geh', zeichne mich, Vetter,« sagte sie, »damit die Heulerei ein Ende nimmt!«

»Ja, aber ich soll dich doch ernsthaft nehmen, sagst du.«

»Nein, nein, nein! ... zeichne du nur!«

Er streckte den Arm nach ihr aus.

»Erst einen Kuß ...«

»Aber, Isidor...!« sagte sie tief vorwurfsvoll und errötete bis unter das Haar.

»Verzeih' ...« bat er reuig, »aber du hast so allerliebst ausgesehen.«

»Zeichne!« kommandierte sie.

»Ja!«

Und er nahm sein Skizzenbuch hervor und zeichnete ein Bild von ihr, wie sie mitten im Burghof von Havslunde stand, einer Fontaine gleich, der das Wasser aus Nase, Mund und Ohren brauste, daß ihr Kleid, ihre Strümpfe, ihre Schuhe, der ganze Hofplatz, der Park, der Garten – der ganze Besitz – vor Nässe trieften ...

Aber mitten in dem ganzen Tränenmeer schwamm Niels Uldahl herum mit einer Badewanne an den Schwanz gebunden.

Und in der Badewanne saß Mamsell Helmer, einen aufgespannten Regenschirm über sich haltend....

Im »Asyl« war große Diskussion anläßlich Isidor Seemanns Besuch ...

Es war um die Schlafenszeit. Die Alten saßen jede auf dem Stuhl vor ihrem Bett und kleideten sich aus. Dort auf der Kommode vor den Fenstern brannte die Lampe.

»Nein,« sagte Mamsell Ingwersen bestimmt, »Fräulein Natalia war es. Ja, die war's, die älteste Tochter des Staatsrats, die den geheiratet hat, den Bankier in Paris.«

»So,« nickte die Rottböl zutunlich, »ja, Sie müssen es ja wissen, Ingwersen, denn Sie sind doch selber ihre Mutter.«

Die Ingwersen wurde puterrot bis auf ihren alten Hals hinab.

»Was sagen Sie da, Mensch?«

»Ja, sind Sie nicht die Mutter von Fräulein Natalia?«

»Quatsch! Sie sollten lieber einfach Ihr Mundwerk halten, ja, ehe Sie solchen Unsinn vorbringen.«

Die Rottböl, die einen ihrer schlimmen Tage hatte, nickte:

»Ja, Sie haben gut reden. Sie haben Ihre fünf Sinne!« nickte sie. »Aber das ist kein Spaß, die ganze Zeit hier zu sitzen und stille zu schweigen, wenn ihr andern schwatzt.«

»Doch, wenn man weiter nichts zu reden hat als Quatsch, dann schweigt man!«

Die Ingwersen saß nun in ihrem rotgestreiften wollenen Unterrock und bloßen Armen da und sah kriegerisch aus.

»Aber das war doch nicht der Vater von Isidor, der Bankier?« ertönte es von der Lurvadt, die sich eine lange Leinenbinde um ihr linkes Bein schnurrte.

»Nein,« sagte die Ingwersen, »der war es nicht, denn Natalie hatte den Isidor schon, ehe sie den Bankier kriegte ... Ich habe die ganze Weltgeschichte erlebt.«

»Da hab' ich ihn!« lächelte die Rottböl entzückt. Es war ein Floh, nach dem sie lange auf ihrem Körper herumgejagt hatte.

»Ja, denn sie bekam ihn durch den Zeichenlehrer Jakobäußen,« fuhr die Lurvadt fort.

»Ja,« berichtete die Ingwersen, »und sie bekam ihn während sie mit dem Gutsbesitzer Brandt verlobt war, dem, der später Juliane Sehested aus Börglum heiratete.«

»Ich kann mich nicht in all den Familiengeschichten zurechtfinden!« sagte die Rottböl mißvergnügt. Sie hatte, während sie dem Gespräch angespannt lauschte, ihr Tuch umgebunden, das sie nachts um den Kopf trug. Die Enden des Knotens standen ihr vorn von der Stirn ab wie zwei kleine Hörner.

Die Ingwersen ließ sich von ihrem Geschwätz nicht stören, sondern fuhr fort:

»Und Rositta, Isidors Frau, sie ist eine Tochter von Fräulein Bettina, der jüngsten Tochter des Staatsrats, die den – den Polacken, den Grafen drüben aus Rußland, heiratete.«

»Da sieht man Gottes Finger!« ertönte es von der Rottböl.

Aber die Lurvadt fragte:

»Aber, Ingwersen, wie hat nun Isidor Seemann heißen können, wenn sein Vater Jakobäussen hieß und Zeichenlehrer war?«

»Weil der Staatsrat den Jungen von Egesborg wegschickte und ihn von dem Gutsbesitzer Seemann drüben auf Fünen adoptieren ließ, der mit einer weitläufigen Cousine des Staatsrats verheiratet war!« erklärte die Ingwersen und zog ihre Schlafsocken an.

Die Rottböl bekam plötzlich einen lichten Augenblick und fragte voller Lebhaftigkeit:

»War Fräulein Natalia Isidors Mutter?«

»Ja, bei Gott im Himmel, sie war es,« sagte die Ingwersen fanatisch.

»Dann begreife ich es wieder nicht ...!« erklärte die Rottböl.

»Aber wo hat Isidor denn Rositta erwischt?« fragte die Lurvadt.

»Draußen bei mir,« sagte die Ingwersen kurz. »Und jetzt wollen wir endlich zu Bett gehen.«

Aber die Rottböl lächelte glücklich in die Luft hinaus und wiederholte: draußen bei mir ... mit einem seligen Ausdruck in ihren kleinen irrsinnigen Augen.

Sie hatte die Manie, sich in manche Worte zu verlieben und sie immerfort zu wiederholen, sie auf den Kopf zu stellen und mit ihnen zu jonglieren.

»So,« murmelte die Ingwersen wütend, »das können wir uns nun bis Neujahr anhören!«

Aber die Lurvadt fragte unverdrossen:

»Wissen Sie was davon, Ingwersen, daß Rosittas Mutter sich den Hals brach?«

»Ja gewiß tat sie das.«

»Wo hat sie ihn denn gebrochen?«

»In so'n Ort, den sie Schweiz nennen.«

»Was wollte sie da?«

»Sie war mit dem Kammerdiener des Polacken dort hinuntergelaufen.«

»Drau–raußen bei mir ...« ertönte es von der Rottböl.

»Hat er ihn ihr gebrochen?« fragte die Lurvadt.

»Nein, sie ist von einer Aussicht heruntergefallen.«

»Ist sie gestorben?«

»Können Sie sich vielleicht den Hals brechen, ohne zu sterben?«

»Was wollte sie dort oben auf der Aussicht mit dem Kammerdiener?«

»Sie wollte ihn wohl lieben ... Sie wollen ja in unserer Familie alle miteinander lieben! ... Aber löschen Sie nun die Lampe aus, daß wir zur Ruhe kommen können!«

Die Ingwersen stand auf und kroch in ihr Bett. Sie war in kurzem Hemde, grauer Unterjacke, Nachtmütze und langen schwarzen Wollsocken.

Die Rottböl lag schon unter ihrer Bettdecke. Man sah weiter nichts von ihr als ihre lebhaften Augen und die kleinen Hörner des Nachttaschentuches. Draußen bei mir ...! flüsterte sie und rückte sich wohlbehaglich zurecht. »Drau–rau–außen bei mir.«

»Lurvadt, puste!« kommandierte die Ingwersen wütend.

Und die Lurvadt humpelte auf ihrem umwickelten Bein zur Kommode und löschte die Lampe aus. Dann krabbelte auch sie in die Klappe.

»Aber sagen Sie mal, Ingwersen,« fragte sie bald darauf, »warum erbte Niels hier nicht Egesborg, als der Staatsrat starb?«

»Weil der Polack und der Bankier ihm nicht ihr Geld anvertrauen wollten ...! Und jetzt wird geschlafen! Gute Nacht! Und schlaft gut, alle beide!«

»Danke, gleichfalls,« sagte die Lurvadt.

Aber die Rottböl hörte nichts. Sie lag in fröhliche Erinnerungen vertieft und summte ihr gewöhnliches Abendlied, das sie ihren Kindern vorgesummt, als diese noch klein und am Leben waren.

Rase nur, Welle, und schäume,
Sturm, magst tosen und schrei'n,
In meiner Kinder Träume
Dringt Ihr mir nimmermehr ein!

»Draußen bei mir ...!« kicherte sie bald darauf glückselig und schlief ein.


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