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Schon mehrere Tage, bevor der Gutsbesitzer zu den Weihnachtsferien vom Reichstage heimkehrte, war eine eigenartige Unruhe über den Verwalter Jensen gekommen. Er umschlich und umlauerte Mamsell Helmer, und sie hatte keine Ruhe vor ihm. Ein paar Mal hatte er sogar Hand an sie gelegt und sie hatte Hilfe herbeirufen müssen, um ihn aus ihrem Zimmer herauszubekommen.
»Ich tue einem von uns etwas an!« drohte er ihr draußen vor dem Fenster stehend, »wenn du dich von ihm anrühren läßt!«
Aber sie lachte ihm ins Gesicht: »Du wirst dich schön hüten, denke ich!«
Da kam der Weihnachtsabend.
Niels Uldahl hatte es mit Gewalt durchsetzen wollen, daß Mamsell Helmer in das Herrschaftsgebäude eingeladen werden und mit der Familie essen solle. Aber Frau Line hatte in ihrer ruhigen und gleichmütigen Art, die jede Diskussion abschnitt, gesagt, in diesem Falle müßten er und die Dame das Nachtmahl allein einnehmen, denn sie und die Mädchen würden dann in ihren Zimmern essen.
Hierüber war Niels dermaßen wütend geworden, daß er sich den ganzen Tag garnicht gezeigt hatte. Und als um 7 Uhr zu Tisch gerufen wurde, zog er demonstrativ den Überrock an, setzte den Hut auf und ging ins Wirtschaftsgebäude hinab, wo er den ganzen Abend verbrachte – und die Nacht dazu.
Aber morgens hatte ihm der Verwalter im Vorwerk aufgepaßt und sein Leben mit einem Totschläger bedroht. Und wäre der rasende Mensch nicht von den Knechten des Hofes übermannt worden, so hätte er wohl auch seinen Vorsatz ausgeführt. Nun schlugen sie ihn auf das Steinpflaster nieder, schleppten ihn in seine Kammer hinüber und schlossen die Tür ab.
Aber im Laufe des Vormittags war er also ausgebrochen. Und nun lag er friedlich und still unter einer Pferdedecke drüben in der Tenne ...
Am Abend desselben Tages ...
Oben in Frau Lines großem Schlafzimmer, das zum Teil als Salon möbliert war, saß sie mit den Töchtern. Sie flüchteten stets in schweren Zeiten hier hinauf, denn sie fühlten sich hier sicherer als unten in den Wohnräumen, wo der Vater plötzlich einbrechen und darauf los schwatzen und tun konnte, als ob nichts geschehen sei, um dann bald darauf wieder brummend zu verschwinden, wenn er merkte, daß seine Worte keinen Widerhall fanden.
Fräulein Anna saß wie gewöhnlich und las, oder tat als ob sie läse. Meist döste sie über dem Buche mit halbgeschlossenen Augen.
Fräulein Charlotte und Fräulein Frederikke saßen mit ihren Pfeifen bei einer Partie Schach. Frau Uldahl legte sich die Karten, und Fräulein Sophie lag so lang sie war auf dem Teppich mit Türk als Kopfkissen.
Auf dem Hofe herrschte Totenstille. Es war zwischen neun und zehn Uhr. Auf dem Tisch unter der Hängelampe stand eine Schale mit Backwerk und Pfeffernüssen.
Plötzlich schob Frau Line ein wenig ungeduldig ihre Karten zusammen.
»Jetzt wollen wir zu Bett, Kinder!«
»Wie spät ist es?« fragte Sophie, ohne sich zu rühren.
»Ein Viertel auf zehn.«
»Was meinst du, Mutter, wird die heute für eine Nacht haben?«
Unter »die« verstanden die Damen im Herrschaftsgebäude stets Mamsell Helmer.
»Ach, der ist es gewiß ganz gleich!« meinte Charlotte, das Gesicht über das Schachbrett gebeugt.
» Ziehe!« sagte Frederikke eifrig, »du bist am Zug!«
Dann entstand eine Pause. Man hörte, wie irgendwo weit entfernt eine Tür im Hause hart zugeschlagen wurde. Es war Niels Uldahl, der nach Wein in den Keller ging. Er hatte wieder begonnen kräftig zu trinken, wenn er zu Hause war.
»Glaubst du, Mutter, daß Vater unglücklich ist?« fragte Fräulein Sophie plötzlich.
»Unglücklich ... Sophiechen?«
»Ja, ich meine, ob er so immer herumgeht und betrübt ist?« »Ne ... wie kommst du darauf?«
Frau Line erhob sich und ging zu ihrer ältesten Tochter.
»Jetzt müssen wir zu Bett, Ännchen.«
»Ja ...« sagte Anna, ohne die Augen vom Buche zu erheben.
»Mutter, weißt du, ob der Eleve Jacobsen nach Hause gekommen ist?« fragte Sophie.
»Nein ... Aber er wird wohl gekommen sein ... Jetzt öffne ich ein Fenster, Kinder, des Tabakrauchs wegen.«
Fräulein Sophie, die sich gleichfalls erhoben hatte, stellte sich neben die Mutter an das offene Fenster... Es war dasselbe Fenster, von dem aus die Schwestern ihren Vater mit seiner Geliebten hatten fortfahren sehen. ... Der Mond und die Sterne leuchteten auf den weißen Gutshof hinab, wo der Schnee in zusammengeschaufelten Haufen lag. Unten vom Stall her ertönte das Stampfen eines Pferdes; und in weiter Ferne, im Park, schrie eine Eule.
Fräulein Sophie zuckte schaudernd zusammen, Frau Line schlang einen Arm um sie.
»Friert dich? Wollen wir zumachen?«
»Nein ... Sieh, wie schön der Hof aussieht!«
»Ja ...«
»Mutter, woran denkst du... in diesem Augenblick?«
Frau Lina lächelte:
»An Zubettgehen und Schlafen.«
»Und weißt du, Mutter, woran ich denke?«
»Nein ...?«
»Ich denke daran, daß, wenn nun plötzlich ein ganz fremder Mann dort unten über den Hof käme, dann wüßte er gar nichts davon, daß Verwalter Jensen unten in der Scheune läge und sich erhängt hatte ...«
»Schach!« erklang es in diesem Augenblick triumphierend aus Frederikkes Mund. »Und matt! ... Du bist auch matt!«
»Wichtigtuerin!« sagte Charlotte und fuhr auf und setzte sich der Schwester auf den Schoß. »Kleine Wichtigtuerin,« sagte sie und begann die Schwester zu liebkosen.
Und dann zogen sie die Kuchenschale zu sich heran und begannen von den Pfeffernüssen zu essen, indem sie sich die Nüsse gegenseitig in den Mund steckten und ihn dann mit einem Kuß verschlossen.
»Puh«, murmelte Fräulein Anna, »es ist scheußlich, euch beiden zuzusehen ...«
Drüben im »Asyl« steckten die drei Alten schon längst in den Federn. Ihre Weihnachtsgeschenke hatten sie auf den Stühlen vor den Betten angebracht. Nur Mamsell Rottböl hielt das vornehmste getreulich im Arm. Es war eine große schön angezogene Puppe, die sie von den Fräuleins erhalten und Nikoline getauft hatte nach ihrer vor fünfundzwanzig Jahren verstorbenen jüngsten Tochter ...
Die große Uhr im Eßzimmer schlug Zwölf ... Türk, der auf der Matte vor Fräulein Sophies Tür lag, kläffte im Schlaf. Er hatte schwach den Laut knirschender Fußtritte auf dem Schnee draußen im Garten vernommen. Es war die Leuteköchin Sörine, die vom Weihnachtsbesuch bei ihren Eltern kam. – Neben ihr ging der Eleve Jacobsen.
Sie hatte ihn unten im Strandwalde aufgefunden, wo er frierend und verzweifelnd umhergestreift war.
Und jetzt nahm sie den Knaben mit heim in ihr Bett, um ihn zu trösten und zu wärmen ...
Frau Karen Uldahl von Kragholm war zu Weihnachtsbesuch in der Villa Seemann und knabberte Makronen hinunter und trank Madeira. Frau Rositta stand im Profil vor dem Fenster und fädelte eine Nähnadel ein.
»Aber süßestes Kindchen,« sagte Frau Karen überrascht, »du bist ja schwanger!«
Rositta wurde blutrot.
»Kann man das sehen?« fragte sie, und sank schnell auf den Stuhl vor dem Nähtisch nieder.
»Ja, jetzt als du dort gegen das Licht standest ... Ich dachte übrigens, daß wäre ein überstandenes Stadium bei euch.«
»Das haben wir auch selbst geglaubt, Tante Karen.«
»Wie weit bist du damit?«
Die Tante sah äußerst interessiert aus.
»Im fünften Monat.«
»Bist du ärgerlich darüber?«
»Naa–aa ... das hat ja keinen Zweck.«
»Ne–e, du bist immer ein kleiner Philosoph gewesen.«
Frau Karens Augen wurden neugierig und leuchtend.
»Höre mal, liebes Kind,« sagte sie und bog sich vertraulich zur Nichte hinüber. »Ist es wahr, daß das mit einem gewissen ... ä... Gefühl der Wollust verbunden ist ... wenn man ein Kind bekommt.«
Rositta errötete wieder.
»Ja, das habe ich nämlich gehört ... Ich bin ja nie selbst in dieser Situation gewesen ... Aber ich habe darüber gelesen.«
Rositta beugte das Haupt ohne zu antworten. Frau Karen warf ihr von der Seite einen scharfen Blick zu und fuhr darauf ganz unvermittelt fort:
»Fahrt Ihr Freitag nach Havslunde?«
»Ja ... Isidor ... ich fahre nicht mit.«
»Kannst du es begreifen, mein Kind, daß sie so schnell nach dem Selbstmord eine Gesellschaft geben?«
»Naa–aa ....«
»Das ist natürlich Line, die der Welt zeigen will...«
»Nein, das ist doch gewiß Onkel Niels ...«
»Vielleicht. Aber dann könnte sie sich doch diesem Ärgernis widersetzen.«
»Das ist gewiß nicht so leicht ...«
»Ach, wenn sie wollte! Aber sie geht da herum und gefällt sich in der Rolle der Unterdrückten ... Sie ist eine schlechte Frau für Niels; er müßte ganz anders genommen werden.«
Frau Rositta lächelte unschuldig; aber ganz tief in ihren Augen kam und verschwand ein Lichtpunkt, nicht größer als eine Nadelspitze.
»Ja,« sagte sie ruhig, »er hätte Tante Karen haben müssen.«
Nun war Frau Uldahl am Erröten; und ihre Augen flammten böse. Aber da Rositta stets gleichmäßig unschuldig und nichtsahnend aussah, wurde sie wieder ruhig und begnügte sich damit, zu sagen:
»Ja, vielleicht ... ich habe mich wenigstens einer Aufgabe gewachsen gezeigt, die vollauf so schwer war, wie die ihre ... Na,« fügte sie dann hinzu, »Franz hat in den letzten Jahren wahrlich keinen Grund zur Klage gegeben. Ich bin mit meinem Lose durchaus zufrieden ... jetzt; und es vergeht nicht ein Tag, an dem Franz mir nicht dankbar wäre!«
»Ich habe Onkel Franz so lieb ...« sagte Frau Rositta milde.
»Ja, er ist wirklich auch ein wirklich herzensguter Mensch ... ein Mann wird schließlich immer das, was seine Frau aus ihm macht! Nun haben wir bald Silberhochzeit.«
»Ja freilich ... im April?«
»Ja, und die ganze Familie soll sich zu dieser Feier versammeln, die Heinemanns und die Uldahls.«
»Das wird ja nett ...«
»Ja, Franz und ich wir freuen uns sehr darauf ... Es fällt gerade auf einen Sonntag. Wir gehen also zunächst in die Kirche, und danken Gott, und am Abend findet dann ein Diner auf Kragholm statt.«
»So!«
»Ja, du und dein Mann, ihr bekommt natürlich auch eine Einladung.«
»Ja–e, danke ...«
» A propos, Resedachen ...«
»So darfst du mich nicht nennen!« rief die kleine Frau heftig.
»Aber Herrgott, dein Mann tut es doch ...!«
»Ja, gerade deshalb! Kein Anderer darf es! Ich will es nicht!«
Sie war ganz bleich geworden vor Erregung.
»Na, na, sei nur wieder gut ...!« sagte Frau Karen verblüfft. »Aber was ich sagen wollte,« fuhr sie dann fort, »weißt du, ob Isidor etwas mit Onkel Joachims Geschäften zu tun hat? Man erzählt es sich.« Rositta war wieder ruhig geworden.
»So–e« sagte sie. »Ja ich bin in die geschäftlichen Angelegenheiten meines Mannes nicht eingeweiht.«
»Ist er zu Hause?«
»Nein, er ist im Bureau.«
»Hör' mal, könntest du mir nicht unter der Hand Gewißheit verschaffen?«
»Nein, Tante Karen, das kann ich nicht ... Isidor würde glauben, daß ich wahnsinnig geworden sei.«
»Ist es denn wahr, daß ihr niemals miteinander sprecht?«
»Naa–aa, das ist vielleicht ein bißchen übertrieben. Aber doch niemals über derartige Sachen; die interessieren uns nicht groß.«
»Das muß doch fürchterlich sein.«
Frau Rositta lachte still.
»Meinst du ...?«
Aber Frau Karen, die in ihre Gedanken vertieft war, fuhr fort:
»Seid Ihr drüben gewesen du und dein Mann?«
»Wo?«
»Auf Ravnsholt ... jetzt, wo er sterben soll?«
»Wir kennen ihn fast gar nicht.«
»Wenn dein Mann sein Testamentsvollstrecker ist!«
»Ja ...«
»Ist er es denn?«
»Das weiß ich wirklich nicht Tante Karen.«
Frau Uldahl stieß zornig die Zähne in eine neue Makrone, daß diese mit einem Knacks zerbrach.
»Du bist ganz unmöglich, Rosittachen! Du lebst ja gar nicht in dieser Welt.«
»Naa–aa, ... doch ... ein wenig ...«
»Die Mädels von Havslunde kamen doch zu ihm hinein, als sie da waren.«
»Soo–oo, kamen sie hinein ...?«
»Worüber mögen die wohl gesprochen haben?«
»Das weiß ich nicht ... Ich weiß nicht einmal, daß sie dagewesen sind.«
»So, nicht ... Ja, ich hatte auch immer ein wenig im Sinn, herüber zu fahren, es ist ja Franzens leiblicher Onkel ... aber man drängt sich ja ungern auf; es könnte so leicht mißverstanden werden.«
»Sollte es ...?«
»Ja–e, das könnte es ... und gesetzt, man käme nicht hinein! Die von Hvidgaard galoppierten eines Tages hinüber. Aber sie, die Pompadour, wie Palle sie nennt, wies sie ab.«
»So-e ...«
»Aber ich gönne es ihnen.«
»Ja, Tante, du gönnst es ihnen wohl ...«
»Ja, das weiß Gott, das tue ich. Was wollten sie da! ... Hat dein Mann etwas davon erzählt, liebes Kind, daß Joachim ein Testament gemacht hat?«
»Nein ...«
»Ja, denn du weißt wohl, daß er und die Pompadour lange Jahre hindurch wie Mann und Frau gelebt haben! Und dann hat sie doch die drei langen Bauernlümmel von Söhnen, die sich auf dem Hofe herumtreiben.«
»Sie sollen so tüchtig sein ...«
»Ja, als Kuhjungen! ... Aber er vermacht ihnen wohl jedem ein paar tausend Kronen, die Mutter hat ihm ja treu gedient – nach jeder Richtung hin.«
Ja, sie hat wohl den ganzen großen Haushalt geleitet ...« »Dazu hatte er sie auch ... Und Niels bekommt Ravnsholt nicht. Er und Joachim können einander nicht ausstehen, seit der lächerlichen Geschichte mit dem Stock ... Aber das habe ich ja Franz immer zum Vorwurf gemacht, daß er es nicht verstanden hat, sich daran zu halten ... und nun ist es ja bald zu spät!«
Frau Karen löste die Hutbänder, nippte an ihrem Madeira und verpustete sich.
Und Frau Rositta betrachtete sie verstohlen von der Seite, halb unwillig und halb neugierig, indem sie sich im tiefsten Innern darüber wunderte, wie verschieden die Menschen trotz alledem sein können. ...
»Hast du etwas davon gehört mein Kind, daß Niels Egesborg zurückkaufen will, wenn er Joachim beerbt?«
»Nein ...«
»Ach–ch, mit dir ist es ja ganz unmöglich zu reden!«