Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine halbe Stunde später kam Emanuel von seiner Bodenkammer herunter. Er hatte seinen blauen Eheviotanzug an und hielt seinen steifen Filzhut in der Hand.

Mutter Karen sah in ihrem Stuhl und nähte an den ewigen Taschentüchern. Und als sie den Sohn ansah, wollte es ihr scheinen, als sei er gewachsen.

»Du willst verreisen, Manuel?« fragte sie schüchtern, denn das sonderbare Benehmen des Sohnes hatte sie ganz verwirrt.

»Ja, man will verreisen.«

»Ja, aber – das Bureau, Manuel?«

Er trat an sie heran und legte eine Hand auf ihre Schulter: »Vom heutigen Tage an bläst man dem Bureau was. Mutter Karen!«

»Ja, aber – Manuel – was – ich verstehe nicht, was –« Die Tränen flossen ihr von neuem an den Wangen herab.

Thomsens rundes Gesicht strahlte.

»Wenn man zurückkommt,« sagte er, »so wird man dir alles mitteilen.«

Aber er konnte es doch nicht lassen, in triumphierendem Ton hinzuzufügen: »Jetzt kann man, wenn es einem beliebt, Hofbesitzer werden.«

Und plötzlich streckte er in ausgelassener Lustigkeit einen Finger nach Karens Halse aus.

»Killekillekille, verwitwete Frau Thummelumsen!« sagte er. »Man kommt mit dem Siebenuhrzuge nach Hause. Wollen Sie zu der Zeit den Tee servieren!«

Und dann überwältigte ihn die Freude völlig. Er schlang die Arme um den Hals der Mutter, drückte sie abermals an sich und sagte mit einer vor Freude bebenden Stimme: »Man hätte fast Lust, den Trommelschläger Halberstadt zu mieten, liebe Mutter Karen, und es der ganzen Stadt verkünden zu lassen!«


Oberlehrer Clausen schämte sich; er schämte sich und hatte Gewissensbisse. Seit jenem etwas zügellosen Abend im Verein der Freßsäcke schlich er scheu durch die Straßen, wenn er seinen Spaziergang machte. Und er atmete erst wieder normaliter auf, wenn er glücklich zum Stadttor hinaus war und die öden Wege zwischen den grauen herbstlich-melancholischen Feldern entlang wanderte.

Er war ein ernster Mann und ein Mann von Selbstzucht. Und deswegen tadelte er sich selber jedesmal hart, wenn die Erinnerung an diesen Abend mit ihrer greinenden Satyrfratze hervorlugte. Er begriff nicht, wie er so die Herrschaft über sich verlieren konnte! Es war ihm schon ein paarmal bei diesen Zusammenkünften im Klub passiert, und jedesmal hatte er sich wochenlang hinterher so elend und schuldbeladen gefühlt, daß er fast wünschte, er wäre ein Maulwurf, um seine Schande fünf Fuß tief unter der Erde verbergen zu können.

Er drückte sich blitzschnell in eine Seitengasse, sobald er einen der »Brüder« am Horizont auftauchen sah. Und namentlich ging er ja der »leibhaftigen Bosheit« ängstlich aus dem Wege. Und er machte einen Umweg um das Zollgebäude und dessen Umgebungen, wie eine alternde Stiftsdame einen Dorfkrug oder eine Herrenbadeanstalt sorglich meidet.

Aber seine Morgen- und Abendspaziergänge konnte er nicht entbehren; sonst würde ihm das Dasein zwecklos erschienen sein.


In der Bredbrostraße war großer Auflauf!

Die Blumenkohl-Marie, die Gemüsehändlerin, stand mitten in einem Haufen Menschen draußen vor ihrem Kellerhals. Sie schalt und schimpfte und schrie und erhob ihre geballte, rotschwarze Faust drohend gen Himmel. Im Mittelpunkt des Haufens sah man ein gelbes spanisches Rohr sich heben und senken. Und ein Hund heulte dort aus Leibeskräften.

Oberlehrer Clausen kam um die Ecke aus der Wallgasse. Der Menschenhaufen versperrte die ganze schmale Straße und hinderte ihn am Weitergehen.

»Was gibt es hier?« fragte er und bohrte sich durch.

»Er schlägt meinen Hund tot!« heulte Marie, »er prügelt ihm das Leben aus dem Leibe! Waldine! Waldine! Mein Hund, mein Hund! Da hat er ihn gerade auf den Kopf getroffen!«

Die Schläge fielen langsam und taktfest, und der Hund schrie jedesmal, wenn er getroffen wurde, lauter.

»Waldine! Waldine!« quietschte die Blumenkohl-Marie. »Reißt ihm den Hund doch weg!«

»Er hat ihn ja gebissen!« sagte ein alter Maurergesell in blauer Bluse und weißer Mütze. »Ihm geschieht ganz recht!«

»Gestern erst hat er nach mir geschnappt!« nickte eine dicke Frau, die einen Milcheimer in der Hand trug.

»Und die Kinder rennt er um!« nickte eine Mutter.

»Schlag ihn nur flach!« forderte ein Lehrling auf. »So ein Scheißköter!«

Clausen war in den Haufen hineingedrungen und erblickte jetzt einen kleinen, breitschultrigen Mann, der da stand und einen rotbraunen Pudel mit der einen Hand im Genick festhielt, während er mit der andern ein dickes, gelbes spanisches Rohr auf seinem Rücken tanzen ließ.

»Mensch!« sagte der Oberlehrer und packte den Mann beim Arm.

Der Mensch wandte das Gesicht nach ihm herum. Es war der Zöllner Knagsted.

»Du bist es!« sagte der Oberlehrer ganz entsetzt. »Was, um Himmels willen, machst du denn da?«

»Vierzehn!« zählte Knagsted, ohne sich stören zu lassen. – »Guten Tag, Clausen, Ich treibe einen Teufel aus! Fünfzehn!«

Jedesmal, wenn er eine Zahl nannte, fiel der Stock.

»Du schlägst das Tier ja zunicht, Knagsted!«

»Gott bewahre! Sechzehn!«

»Der Hund soll haben, was ihm zukommt!« grinste der Maurergesell. »Nur immer drauflos, Herr Kontrolleur!«

»Siebzehn!« sagte Esau und schlug »drauflos«.

Das Tier heulte und fletschte die Zähne.

»Puli–zei!« kreischte die Grünmadam plötzlich. »Pulizei! Waldine. Waldine!«

»So hör' doch auf. Knagsted!«

»Ja, wenn ich fertig bin! – Achtzehn!«

»Wie viele soll er denn haben?«

»Zweiundzwanzig – Neunzehn!«

»Hurra!« schrie der Lehrling. »Das rothaarige Wildschwein!«

Die Blumenkohl-Marie langte mit der Faust nach ihm aus. Er aber entschlüpfte ihr.

»Gib mir 'ne gelbe Rübe!« sagte er.

»Zwanzig!« zählte der Kontrolleur – »Einundzwanzig! – Zweiundzwanzig! – fertig! –«

Und er hob den Hund in die Höhe und warf ihn der Grünmadam hin.

»Hurra!« brüllte die Menge. – »Lange lebe die Blumenkohl-Marie und ihre Pellkartoffeln!«

»Komm jetzt, Clausen. Wir wollen gehen!«

»Ja«, sagte Clausen.

Und sie bohrten sich heraus und gingen.



 << zurück weiter >>