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8

Es war nun, als könne Neues nicht mehr geschehen. Es gab ruhige Fronten und solche, an denen die Divisionen »ausbrannten«. Solche, an denen die Bäume lebendig und feierlich in der Landschaft standen, und solche, an denen verbrannte und vergaste Stümpfe unter grauen Wolken in die Versteinerung schliefen. Es gab Kompagnieführer, die man nicht anders als betrunken sah, und solche, die wie erwachsene Brüder sich aller Not hilfreich erbarmten. Es gab Paroxysmen des Blutes und dumpfe Abgründe stumpfer Erlöschung. Es gab auch Sommer und Winter, aber nur ihr Widerschein kroch matt in die Höhlen der Erde, in denen die Ratten lebten, die Läuse, die fetten grünen Käfer der Unterwelt und zwischen ihnen die Menschen, die an das Bergwerk des Blutes und des Leidens gekettet waren, und deren Tag- und Nachtwerk sich drehte wie ein verwesendes Rad in einem dunklen Strom.

Es gab neue Angriffs- und Abwehrformen, neue Gase, neue Tanks. Variationen des Todes, deren dumpfes Thema dasselbe blieb. Es gab neue Gesichter, die irgendwo aus der lebendigen Welt hineingestoßen wurden in die Totenkammern und noch ein paar Tage lang mit großen Worten von neuen Divisionen, von Angriffen und Sieg sprachen. Aber nach diesen wenigen Tagen kroch auch über die neuen Gesichter die fahle Farbe der Unterwelt. Das Grau der Wangen, der Augen, der Gespräche, der Resignation. Die Gleichmachung des Todes tastete lautlos nach ihnen, ergriff sie und zog sie schweigend in das mahlende Räderwerk. Johannes wußte nun alles. Er kannte den Tod und kannte den Urlaub vom Tode. Er kannte den Regen, den Hunger, den Frost, die Angst. Er hatte den Krieg überwunden, lange bevor er zu Ende war, und seine Seele stand außerhalb des Krieges und sah ihm zu. Die Leidenschaft war verglüht, die große Gebärde. Das Spiel wurde ihm schal. Er sah, daß man Divisionen in die Schlacht warf, wie man Saatkörner in ein Feuer wirft. Die werfende Hand blieb im Unsichtbaren. Man hörte den Schritt des Sämanns nicht. Man sah den segnenden Schwung zukunftwollender Gebärde. Man sah das Verglühen der Saat, Vergeudung unbekannten Lebens, verstäubte Asche, das sinnlose Spiel eines Kindes, das in seiner Väter Speicher eingebrochen war.

Percy ging zu einem Offizierskursus, und der Kompagnieführer ließ Johannes rufen. Sie hatten sehr viele Kompagnieführer verbraucht, und man hatte immer tiefer in den Vorratsraum gegriffen, um sie zu ersetzen. Dieser war ein kleiner Seminarist, der immer verkleidet aussah und Jugend, Herkunft und Unsicherheit hinter einer schneidigen Strammheit zu verbergen trachtete.

Er ließ Johannes in strammer Haltung stehen und polierte seine Fingernägel mit einer Eisenfeile. »Karsten ,… ja ,… was war es doch gleich? Ach so ,… wir hätten Sie natürlich gern zum Kursus geschickt, Karsten, aber wir haben vorher natürlich angefragt, in Ihrer Heimat, bei Ihrem Direktor und so weiter. Und Ihr Direktor, tja, der hat denn da ein paar merkwürdige Dinge berichtet. Berichten müssen, natürlich. Sie werden es sich denken können. Und sehen Sie, das preußische Offizierskorps muß auf unbedingte Sauberkeit und Vornehmheit in seinen Reihen achten, nicht wahr? Natürlich können Sie nicht für die Sache mit Ihrem Vater und Ihrem Bruder. Aber Sie werden das einsehen ,… tja ,… Sie sind also zum Unteroffizier befördert.«

Er legte die Feile auf den Tisch und sah Johannes an.

»Aus einem Inventurausverkauf ist er«, dachte Johannes. »Er könnte Josephs Bruder sein ,…«

»Na, freuen Sie sich denn gar nicht? Wie?«

»Nein, Herr Leutnant.«

»So, das ist ja merkwürdig ,… Man muß nie zu hoch hinaus wollen, Unteroffizier Karsten, merken Sie sich das ,… Sie werden Ihre alte Gruppe übernehmen, verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.«

»Danke sehr.«

Er saß bei Oberüber hinter dem Stollen. Die Sonne brannte, und das verwüstete Feld roch nach Verwesung. Aber sie merkten es nicht mehr. »Stell dir das bitte vor«, sagte Johannes und verzog die Lippen. »Ich gebe dir einen Befehl und du sollst ihn ausführen ,… Dir einen Befehl, der du alles besser verstehst, was hier nötig ist! Was wären wir geworden ohne dich?«

Oberüber pfiff durch seine Zahnlücke ,… »Was für 'n Aufstand!« erwiderte er nachsichtig. »Oberüber nimmt die Knochen zusammen und fertig. Meinst du, es ist schwerer, als wenn der kleine Schnodder mir was befiehlt? Siehst du, das war immer so, daß es Leute gibt, die nischt anders zu tun haben, als ihre Knochen zusammenzunehmen. Überall ist das so, und beim Kommiß am meisten. Wir kennen das nicht anders, Johannes.«

»Aber es ist verrückt.«

»Ach wat! Möchtest du, daß das Täubchen uns regiert? Na also ,… wollen eine Zigarette rauchen, Korporal. Die stinkt wenigstens näher als das da auf dem Feld.«

Wochen und Monate verglühten oder ertranken oder zerbröckelten im Staub. Sie hatten schwere Rückzugskämpfe und erfuhren, daß man das »die ungestörte Loslösung vom Feinde« nannte. Sie verloren drei Viertel der Kompagnie bei einer Minensprengung. Die drei Viertel wurden ersetzt, das Gesicht der Kompagnie verwandelte sich acht Tage lang und glitt dann wieder in die alte Form zurück, weil alle diese brennenden, verglühenden und verstäubenden Kompagnien nur ein Gesicht hatten. Die Ruhe konnte es ein wenig verändern, der Urlaub, ein Überfall mit schweren Minen, wie ein Regen die Büsche am Straßenrand abwäscht und verändert. Aber am Abend schon steigt der Staub der vielen Füße wieder empor und legt sich gleichmachend auf die trügerische Frische des Laubes.

Wenn Johannes die Marschkolonne der Kompagnie an sich vorüberziehen ließ, dann sah er nichts als ein einziges Gesicht. Unter der ergebenen Beugung der Stahlhelme, aus dem verschwitzten und zerfetzten Grau der Uniformen sah es ihn an wie ein Bild aus quälenden Träumen, wie das Gesicht aus dem Brunnen seiner Kindheit, über den seines Bruders Hand ihn lächelnd hielt. Es war keine bewußte Qual in diesen Zügen, kein finsteres Wissen um das Unabänderliche. Es war ein entspanntes Gesicht, ein Gesicht hinter einer Akrobatenbühne, das sich auflöst in Erschöpfung, indes vor dem Vorhang die Menge noch klatscht. In diesem Gesicht verdichtete sich ihm der ganze Inhalt und Ertrag des Krieges, und leise floß es in seiner Vorstellung zusammen mit dem Gesicht der Ehebrecherin aus seiner Kindheit, mit dem des toten Mitschülers, ja zu Zeiten mit seiner Mutter Gesicht aus halb verschwimmenden Kindheitstagen und jener Nacht, da sie nicht schreiben konnte, daß der Jammer der Feigheit über ihn gefallen sei. Er zeichnete dieses Gesicht. Er füllte ganze Seiten seines Skizzenbuches mit leisen Abwandlungen dieser hageren, zerbröckelnden, ertrinkenden Form, und es schien ihm, als werde er den Krieg nicht überwunden haben, bevor er nicht die letzte und ewige Form gefunden habe.

Aber dann tauchte zu derselben Zeit in der vordersten Linie das Bild eines Frontsoldaten auf, das einer der Kaisersöhne gemalt hatte und das in unzähligen Vervielfältigungen im Heere verbreitet wurde, mit dem militärisch ausgesprochenen Wunsch, der Truppe nahezulegen, einen Abdruck dieses Bildes zu erwerben. Es war ein Reklamebild von betonter Schneidigkeit, und selbst ein Teil des Offizierskorps wandte sich mit einer bitteren Bemerkung davon ab, als von etwas Unpassendem, wenn nicht gar von einer Lüge.

»Siehst du«, sagte Johannes zu Oberüber, »was quäle ich mich mit einem Skizzenbuch? Da ist er, der Nibelungenkrieger, und er sieht aus, als ob wir noch hundert Jahre einen frisch-fröhlichen Krieg führen könnten.«

Oberüber beschränkte sich auf einen Fluch von bedeutender Stärke und Unanständigkeit. Nur Gollimbek bestellte einen Abdruck, rahmte ihn mit Birkenstäben ein und hing ihn im Stollen über seinem Lager auf.

Percy kam als Leutnant zurück und übernahm die Kompagnie, nachdem der kleine Seminarist etwas Gas geschluckt hatte, absichtlich, wie Oberüber behauptete.

Und dann rollten sie wieder von Front zu Front, in hastig zusammengestellten Zügen, in Lastkraftwagen, zu einer Eingreif-Division gehörig, die von fiebernden Händen in die Bruchstellen der Dämme geworfen wurde, die immer schneller bröckelten, sich spalteten, in Strudeln ertranken.

Sie wußten nun, wie es alles enden würde. Sie wußten nichts von Reserven, neuen Gasen, neuen Tanks, neuen Plänen. Sie wußten nur vom Gesicht des Soldaten, des einfachen Mannes, in dem seine Seele sich spiegelte. Und diese Seele wollte nicht mehr. Sie war grau, müde, verhungert, gemartert. Sie wollte das Leben, sie wollte den Frieden. Sie wollte weder Eroberungen noch die Freiheit von Frau und Kind und Scholle. Sie wollte Brot haben, und nach dem Brot wollte sie schlafen. Sie wollte weder Hütten noch Paläste, sondern nur ein Stück Erde hinter einer Hecke oder an einem Waldrand, um dort Helm und Gasmaske und Koppel abzulegen und zu schlafen. Und nach dem Schlaf wollte sie einen Grashalm auszupfen oder ein grünes Blatt abreißen und es zwischen den Lippen halten und zu den weißen Sommerwolken emporschauen, zwischen denen die Raubvögel schwebten.

Und sie merkten es daran, daß die Gruppe zerfiel. Es war schwerer und drohender für sie, als daß Divisionen sich gefangen nehmen ließen oder überliefen. Sie hatten drei Tage gehungert und eine Flasche Schnaps und einen Kasten Zigaretten geteilt. Sie schwankten vor Erschöpfung und fanden Lehmann auf den Stufen eines zerfallenen Stollens, englische Konserven in der Hand, aus denen er mit den Fingern die Fleischstücke herausriß. Er sah sich um wie ein böses Tier, und es war ihnen, als taste seine Hand nach dem Griff seines Seitengewehres. Sie sagten nichts, aber Oberüber bückte sich nach einer verrosteten Handgranate, die im verschlammten Graben lag, und spielte mit der Abzugsschnur. Dann sah er Johannes an und warf sie fort. Und zwei Tage später, bei einem Gasminenüberfall, griff Gollimbek, der seine Maske nicht fand, nach Johannes' Händen, um ihm die seine zu entreißen, bis Oberüber ihn niederschlug und ihm eine nasse Decke über den Kopf warf. »Es ist Zeit«, sagte Johannes finster, und sie wußten alle, daß es Zeit war.

Sie kamen für drei Tage in eine Ruhestellung, und Johannes bekam den Befehl, sich mit seiner Gruppe einer Ortskommandantur zu unterstellen, um ein Dorf von seinen Bewohnern zu räumen. »Ich habe gedacht«, sagte Percy, »daß es besser ist, Johannes, als hier herumzusitzen und auf den nächsten Alarm zu warten. Und du kannst wenigstens ein paar Menschengesichter sehen.« »Jawohl«, erwiderte Johannes.

Sie fuhren mit einem Lastkraftwagen. Sprengung, Zerstörung und Verödung hatten schon begonnen. Pioniere mit merkwürdigen schwarzen Kisten waren überall an der Arbeit. Sie sahen Stollen mit dumpfem Donner in sich zusammenstürzen, Brunnen verfallen, Dörfer zerbröckeln und erlöschen. Zerschossene Tanks rosteten im braunen Gras der aufgewühlten Hänge, Stacheldrahtrollen, Wellblech. Schiefgesunkene Kreuze lehnten an flachen Hügeln, und über die düstere Landschaft zogen die hohen Herbstwolken hin, so fremd und mitleidslos, als gehörten sie zu einer anderen Welt.

Der Wagen stieß auf den ausgefahrenen Straßen, der Fahrer erzählte, daß die Kinder zu Hause vor Entkräftung stürben, und sie saßen schweigend auf den harten Holzbänken, rauchten und starrten finster auf das gestorbene Land. Fernfeuer schwerer Batterien wühlte sich gurgelnd über ihnen durch den Raum und zerriß das Band der Straßen, die Silhouette eines Dorfes, die dunkle Stirn eines übriggebliebenen Waldes.

Der Ortskommandant war ein Trainoffizier mit einem fetten, verstörten Gesicht, der auf seinen gepackten Koffern saß und in den Fernsprecher hineinschrie. Sie verstanden, daß er etwas haben wollte, Pferde oder Kraftwagen, daß er jede Verantwortung ablehne und daß er sein Dorf für den Mittelpunkt der Welt zu halten schien. Dann warf er fluchend den Hörer hin, trank Rotwein aus einem Wasserglase und sah über den Rand des Glases mit bösen Augen auf Johannes und die Gruppe.

Sie erhielten ihre Befehle und die Ankündigung, daß er sie an die Wand stellen lassen werde, wenn das Dorf nicht in drei Stunden geräumt sei. Sie zogen nur die Augenbrauen etwas in die Höhe, und Oberüber trat beim Hinausgehen einem geschniegelten Schreiber so nachdrücklich und unmißverständlich auf die gelben Zivilschuhe, daß dieser den Fluch nicht über die Lippen brachte. »Scheißkerl!« sagte er vernehmlich und warf die Türe ins Schloß.

Jede Viertelstunde brach eine schwere Granate heulend aus dem Herbsthimmel hernieder, riß ein Haus zu Boden, zerschmetterte eine Mauer oder warf die Bäume eines schweigenden Gartens über die bröckelnden Dächer hinaus. Und fünfzehn Minuten lang lauschten sie zwischen dem finsteren Schweigen oder dem jammernden Wehklagen der Bewohner, zwischen dem Beladen der Wagen und dem Brüllen der wenigen Kühe auf den Schlag des unsichtbaren Pendels, das zurückgeschwungen war in einen fernen, unbekannten Raum bis an den toten Punkt der Ruhe, und nun wiederkehrte, gelöst, unerbittlich, unabwendbar, mit einem brüllenden Heulen, bis es die Frist des Lebens wieder verkündete und von neuem in die Unendlichkeit entwich.

»Vous serez mieux loin d'ici, mes pauvres«, sagte Johannes mechanisch, von Wagen zu Wagen gehend, aber die Stumpfheit der Blicke glitt von seinem Gesicht ab und klammerte sich an die Vertrautheit der vergänglichen Dinge, an ein Vogelbauer, einen Öldruck, einen Geranientopf. »Vous serez mieux, mes pauvres ,…«, wiederholte Johannes und blickte abwesend in das Gesicht eines Kindes, das eine Uhr in seinen Armen hielt. Aber es wandte den Blick von ihm ab und hob seinen Besitz auf den Wagen hinauf, von dem zwei Greisenhände sich ihm entgegenstreckten.

Am Nachmittag waren sie fertig. Der Leutnant kam mit einer Liste und rief die Namen auf, fluchte, daß die Wagen zu schwer beladen seien, und befahl den Abmarsch.

Sie begleiteten die Kolonne bis zum Ausgang des Dorfes. Dort blieben sie stehen und sahen ihr nach. Die Frauen gingen neben den Wagen, gebeugt unter Traglasten, auf Stöcke gestützt. Die Kinder und Alten saßen auf dem Hausrat der Wagen. Ihre Augen waren zurückgewendet nach der verfallenden Stätte, über die noch die Wolkensäule des letzten Einschlages lautlos wandelte. Staub hob sich über den Wagen wie über den Rand einer Wüste, und das Letzte, was sie sahen, war ein emporgehobener Arm und eine geballte Faust, die in das Gesicht des Schicksals drohte. Das Schweigen floß um sie zusammen wie in einem leeren Haus. Die hohen Herbstwolken waren verschwunden, und ein graues Licht fiel langsam über den Himmel, die Häuser, die Gärten, das Land. Eine geöffnete Tür schlug im Winde, drehte sich mit einem klagenden Ton zurück und fiel wieder gegen die Mauer. Sie standen und lauschten. Sie warteten auf die Wiederholung dieser zwecklosen und quälenden Bewegung, die das einzige Lebendige in allem Schweigen war und die auftauchte und versank wie die Kajütentür eines Wracks, die zwischen zwei Wellen sich öffnete und schloß.

»Wollen noch ein bißchen nach Äpfeln suchen, Korporal«, sagte Oberüber endlich, »und in einer Stunde an der Kirche sein.«

Sie zerstreuten sich, und Johannes blieb auf einem Rasenhügel sitzen und sah in das Dorf hinein. Die Schritte verklangen, der letzte Zuruf, das Zufallen einer Tür. Niemand war mehr da, nicht Mensch noch Tier, nur der klagende Ton stieg und fiel mit dem Wehen des Windes, und mitunter schlug in einem der nahen Gärten ein Apfel dumpf auf die Erde. Und dann kam das Pendel aus der Ferne zurückgeschwungen, eine brüllende Säule schoß aus den grauen Dächern heraus, schloß sich zu einer finsteren, strengen Form zusammen und begann dann lautlos zu wandern, über die Gärten, über den Dorfrand, bis sie draußen in der Ebene sich verlor. Und auch in diesen Einschlägen lag eine grauenhafte Zwecklosigkeit, eine Blindheit des Zornes, als stoße jemand ein Messer noch in eine Leiche.

Johannes berechnete nun nicht mehr den Wechsel der Einschläge und ihr Gesetz. Er hob die Augen wie nach einer verächtlichen Ohnmacht und wandte sie gleich wieder nach dem Gesicht des Dorfes. Aus allen Giebeln, Firsten und Dächern formte sich ihm langsam das Gesicht des Dorfes, ein graues, leidendes, verfallendes Gesicht, gleich dem Gesicht des Soldaten, nach dem er solange gesucht hatte. Ein Gesicht der Wehrlosigkeit und der Resignation, in dem die Geschichte des Krieges geschrieben stand, deutlicher und ergreifender als in den strengen Profilen der Heldentaten und einzelnen Tode, ein Gesicht der Menschheit, nicht des Menschen. Er sah die Dörfer verfallen, die Brunnen sich verschütten, die Saaten sterben, die Tiere ausziehen, und eine furchtbare Einsamkeit hob sich stumpf und grau um seine Seele empor. Die Türe würde aus den Angeln fallen, die Äpfel würden im unberührten Grase verfaulen und die Wesen der Unterwelt würden emporsteigen und diese Erde beherrschen: die Ratten, die Würmer, die Spinnen. Stahlhelme würden rosten, Wohnungen des Ungeziefers, Uniformen verwesen, Gras würde durch verfallendes Fleisch in die Höhe wachsen.

Und Gott sah zu. Er lächelte bitter. Ja, Gott sah zu. Die Glocken riefen zu ihm empor. Priester bekleideten sich mit Talaren und hoben die Arme zu seiner schweigenden Allmacht, nicht um das Ende der Tränen, sondern um Sieg, um eine noch tiefere Vernichtung des andern, um noch mehr Blut, noch mehr Verwesung. Damit das Recht auferstehen könne, das Recht der einen Seite.

Es begann zu regnen, mit einzelnen müden Tropfen, die gleichsam schonend in die preisgegebene Zerstörung fielen, und es war Johannes, als werde dieser Regen niemals aufhören, als werde er noch fallen, wenn sie lange schon diesem Lande den Rücken gekehrt haben würden, ein ewiger Regen, der wie eine Wand hinter ihnen bleiben würde. Er stand fröstelnd auf und ging in das Dorf hinein. Er schloß gedankenlos die Fenster und Türen, die offen geblieben waren. Mitunter sah er sich um, schnell wie ein Kind, ob nicht jemand hinter ihm hergehe, ein Verborgener oder Vergessener, aber es war niemand da.

Und dann, hinter der Biegung der Straße, vernahm er deutlich, was lange Zeit als eine unbewußte Bedrückung in ihm gewesen war: einen klagenden, unterbrochenen Ton, der nicht der eines toten Dinges, einer Tür oder eines Fensterflügels war, sondern ein lebendiger wiewohl an eine Stelle gefesselter Ton. Es war das Klagen eines Hundes.

»Sie haben ihn vergessen«, dachte er, und eine heiße, fast verwirrende Freude warf sich plötzlich über ihn, die Gewißheit nicht völligen Verlassenseins, eine Art von Bürgschaft Gottes, daß er seine Hand nicht ganz und gar von dieser sterbenden Erde gezogen hatte.

Er ging der Klage nach, die etwas Gedämpftes und Begrabenes behielt, auch als er sie schon erreicht zu haben meinte. Bis er wußte, daß sie aus einem Keller kam. Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und sah die Dorfstraße hinunter. Kein Laut war nun zu vernehmen außer dem leisen Fall des Regens. Efeu und das schon gefärbte Weinlaub umspannen Mauern und Tore, schlossen das Darunterliegende vor Laut und Frage zu, empfingen jede Neugier, jedes Bangen, jeden Wunsch und begruben sie in sich, wie sie den Regen begruben. Die Verzauberung hatte begonnen, und es war Johannes, als werde morgen schon das Gras auf der Straße wachsen, um die Schritte der Verirrten zu dämpfen, die sich aus dem Leben zu dieser Stätte verloren haben sollten.

Und wiewohl er die Schwere des Stahlhelms auf seiner Stirne fühlte und die stumme Drohung des Gewehres in seiner Hand, war es ihm ohne Übergang, als stehe das Kind Johannes in dieser fremden Straße, eine Flöte in der scheuen Hand, und Ledos Klage klinge aus den tiefen Wäldern zu ihm herüber.

Plötzlich rührte die Ahnung des Todes ihn unvermutet zwischen den Schultern an, eines ganz einsamen, nur von einem Tier bewachten Todes, und er trat schnell auf die Straße zurück, in den fallenden Regen, und lauschte nach seinen Kameraden, ob er sie rufen könne zu seiner Verlassenheit. »Seltsam«, dachte er, »das ist die Kellerangst meiner Kindheit ,… wie das alles plötzlich aufsteigen kann unter dem Fuß der Berge ,…« Und ebenso plötzlich war das Antlitz seiner Mutter da, blaß und ruhig in der Dämmerung der Fremde, und ihre schöne Hand, die das Blatt der Bibel umschlug und auf dem vergilbten Papier zur Ruhe ging.

»Ich habe Angst«, sagte Johannes laut, und eine tiefe, fast glückliche Bescheidenheit erfüllte ihn vor dieser Erkenntnis. Dann ging er ins Haus und leuchtete mit seiner Taschenlampe vor sich über die Stufen der Kellertreppe.

Nichts Böses kam auf ihn zu. Ein paar Spinnen flohen aus dem Kreis des Lichtes. Er sah Betten, Hausrat, Weinfässer, Geschirr. »Sie haben hier gewohnt«, dachte er flüchtig, »außerdem schießen sie nicht mehr ,… es hätte schon lange einschlagen müssen ,…« Und dann sah er den Hund. Sie hatten ihn an einem Mauerring angebunden und vergessen. Es war ein Schäferhund, noch jung, und wahrscheinlich hatte er zwischen ihren Füßen gespielt, als ihnen eine Frist von Stunden gesetzt war, um ihr Hab und Gut zu retten. Oder er hatte den Keller bewachen sollen, damit nicht in der Wirrnis des Aufbruches die fremde Truppe sich bereichere.

Er winselte und leckte die Hände, die den Knoten lösten. In der finsteren Verlassenheit seines Verlieses erkannte er das Rettende, und das Rettende waren die Hände. Die Hände durchbrachen alle Fremdheit, aus ihnen kam die Freiheit, die Sättigung, das Leben. Und so drängte er seine warme, rauhe Zunge an den fremden Geruch eines fremden Wesens, in der dumpfen Brüderlichkeit der Kreatur, die sie beide beglückend und erlösend umfing.

Dann sprang er davon, die Treppe hinauf, und Johannes blieb im Dunkeln stehen, ohne Angst, die Hände leise erhoben, als wolle er die Wärme der Liebkosungen noch für eine Weile bewahren, bevor sie hinabglitten ins Dunkle und erstarben ,… »Es ist ja alles nicht so«, dachte er lächelnd. »Es ist ja alles anders ,… dies Stumme, was hier geschieht, es ist ja mehr als das Töten und Hassen ,… weshalb fürchtete ich mich denn vor diesem Keller?«

Ein Sandkorn rieselte an der Mauer, und er löschte die Lampe. »Ist dort jemand?« fragte er. Aber er fragte es ohne Bangigkeit, als umfange die Liebe des Tieres noch immer den ganzen Raum und könne nicht dulden, daß Böses in ihm geschehe.

Er nahm ein Licht aus seinem Brotbeutel, zündete es an und stellte es auf ein vierkantiges Brett auf dem Tisch, neben eine blau gemusterte Steingutkanne. Er glaubte zuerst, daß es ein Schachbrett sei, aber dann sah er, daß es nur ein Untersatz war, mit einem braunen Ornament geschmückt, das um den Rand lief, Ranken, in denen Schmetterlinge hingen. Er schob die Kanne weiter, um das Licht zu befestigen, und dabei stieß der Ärmel des Waffenrockes an einen kleinen Stift, der aus dem Brett herausragte, und schob ihn ein wenig zur Seite.

Und dann geschah das Wunder. Es war, als liefe ein leises Beben über die braune Holzfläche, über die Ranken und Schmetterlinge, ein Zittern des Erwachens wie über ein schlafendes Gesicht. Und dann stieg aus dem Zittern die Melodie der Spieluhr in die Höhe. Es war eine zarte, schmächtige, zitternde Melodie, die gleich einer immer zerreißenden und doch sich im letzten Augenblick noch auffangenden Perlenkette dahinglitt, aus eiligen, zaghaften Tönen zusammengesetzt, und selbst die Akkorde waren zart und verwehend wie Fieberröte auf blassen Wangen. Aber aus dieser Melodie, die sich dahinzog wie eine bröckelnde Girlande, die zwischen kühlen Pfeilern sich müde senkte, stieg ein wunderbares, unberührtes Leben in den dunklen Raum unter der Erde. Sie war bei aller zerfallenden Zartheit gesättigt von dem Glanze einer versunkenen Welt, wie ein dünnes Glas von den Farben des Regenbogens gesättigt ist. Sie enthielt den Duft und das Farbenspiel weiter, künstlich beschnittener Parks mit dem leisen Fall der Fontänen, mit der frommen Ehrfurcht aller Menuetts, die über die Rasenfläche geschritten waren, mit dem verwehenden Klang aller Seufzer und geflüsterten Schwüre, mit der beseelten Feuchte aller heimlichen Tränen. Sie enthielt den Frieden verwelkender Gemächer im rötlichen Abendschein, die zitternde Klage eines Spinetts und den wehmütigen Klang einer gealterten Stimme, die von der Liebe verschollener Tage sang. Sie verband das Kindliche mit dem Greisenhaften. Sie überging das Dazwischenliegende, seine Fülle, seinen Rausch, seine Wildheit, seine Härte. Sie war geblieben in aller Atemlosigkeit des Lebens, in aller Fülle großer Erinnerungen, in allen Leidenschaften, allem Unrecht, allem dröhnenden Gang unerbittlicher Schicksale. Geblieben wie eine verblaßte Schleife in der Truhe eines Lebens, ein Kinderglückwunsch, ein gestickter Schmetterling auf buntem Papier.

So wie er gestanden hatte, als es begann, blieb Johannes stehen, das Licht in der Hand, die andere im Begriff, sich auf den Tisch zu stützen, aber nun im leeren Raum verharrend, wie der Zauber im Märchen mitten über eine lebendige Gebärde fällt. »Mein Gott ,…«, dachte er nur. »O mein Gott ,…« Und während er den Atem anhielt, umspannen ihn die Fäden der Melodie, und wieder sah er sich als Kind, am Waldrande, unbekleidet, Tau auf seinem Scheitel, indes das Rot der aufgehenden Sonne ihn umspann wie mit einem gläsernen Netz.

Dann ermüdete die Melodie, die Töne lösten sich voneinander, fielen einzeln und spitz hernieder, und mit einem klagenden Seufzer, der alle Töne noch einmal anzurufen schien, erstarb der Klang. Eine traurige Leere blieb zurück, der Tod nicht einer einzelnen Stimme, sondern einer ganzen Welt, ein Abgrund, in dem es noch langsam rieselte, von Stufe zu Stufe, bis auch das erstarb.

Der Regen rauschte vor den blinden Fenstern, und von allen Seiten schlich das Verhüllte und weit Zurückgewichene lautlos wieder heran.

Behutsam zog Johannes das Uhrwerk auf, setzte sich in den großen Stuhl und rührte leise an die zurückgeschobene Feder. Die silberne Fontäne stieg wieder empor, und Johannes, den Kopf in die Hände gestützt, neigte die Stirn, als empfange er die regenbogenfarbigen Tropfen auf seiner atmenden, sich langsam kühlenden Haut.

Der Hund, von der Verlassenheit des Hauses und des Dorfes überzeugt oder gerufen vom vertrauten Klang, kam zurück und legte seinen Kopf an Johannes' Knie. In der Feuchte seiner Augen spiegelten sich das brennende Licht und Johannes' Gesicht. Wärme und vertrauter Trost flossen von seinem Körper in Johannes hinein, und in der Demut und Geborgenheit seiner selbstverständlichen Gebärde zerfiel alle Fremdheit des Raumes, der Sprache, des Landes, zerfiel das Drohende und Ungewisse des nächsten Tages, der Krieg, das Ende, der Tod, und nichts blieb als das zitternde Band der dünnen Melodie, das sie umschlang und zurückzog zu den Bildern der Kindheit, die nichts kannte als diese Brüderlichkeit, die sanfter und beglückender war als alle Sprache und aller Besitz.

So fand Oberüber sie. Er hatte alle Häuser durchsucht und dann das Licht in den Kellerfenstern gesehen. Er blieb an der Treppe stehen, bis die Melodie erstarb, und kam dann auf den Fußspitzen herangeschlichen. »Korp'ral«, sagte er leise, »was is denn, Korp'ral?«

»Du mußt das Ganze hören«, erwiderte Johannes. »Du mußt es hören.« Und wieder zog er behutsam das Uhrwerk auf, und wieder spannen die silbernen Fäden sich um das Schweigen. »Dies ist es«, flüsterte er, »verstehst du? Das, was bleibt und niemals vergeht. Eine solche Melodie und alle Stunden, die sie erfüllt hat ,… Dies ist das Leben, siehst du, das Heilige und Schöne. Und wer diese Melodie erfunden hat und dies kleine Spielwerk, der hat mehr getan als alle die zusammen, die sich nun draußen auf den Tod bereiten ,… und ich mußte in diesen Keller steigen, um es zu erfahren und mein Glück zu finden ,… ein Tier und eine Melodie ,…«

Oberüber starrte auf das Brett, das unter den Akkorden leise bebte, und nickte mit seinem schweren, zerknitterten Gesicht zu dem Takt der Melodie. »Da sitzt er nun, der Korporal«, sagte er, als es geendet hatte, »und macht Musik, und ich habe Angst und suche ihn durch alle Keller ,…«

»Angst? Weshalb Angst?«

»Weil es nämlich schon drei Stunden her ist, Korporal, daß wir uns treffen wollten.«

»Siehst du«, sagte Johannes, »habe ich es nicht gesagt, daß du die Tressen bekommen solltest? Nun habt ihr eure Not mit mir.«

Sie beschlossen, die Nacht im Dorfe zu bleiben. »Kommen immer noch früh genug zum Heldentod«, meinte Oberüber. »Und der Graf wird froh sein, daß du mal ordentlich auspennen kannst, Korp'ral ,… will den andern Bescheid sagen, damit wir zusammenbleiben.«

Sie hatten Obst und Wein gefunden, Lehmann einen irdenen Topf mit Butter. Es war ihm, als ob er ihn irgendwo verloren hätte und nicht wiederfinden könnte, aber unter einer tropfenden Efeumauer nahm Oberüber sich der Angelegenheit an, und Lehmann erschien mit dem Buttertopf im Keller. Er versuchte, bei Johannes eine Beschwerde wegen körperlicher Mißhandlung anzubringen, aber dieser wies mit der Hand auf die Spieluhr. »Schämst du dich nicht ein bißchen vor diesem hier?« fragte er.

Als sie die Betten zusammengetragen hatten und das Licht löschten, lag der Hund dicht neben Johannes, den Kopf an seinen Körper gedrückt, und Johannes fühlte, wie ab und zu, in langen Zwischenräumen, ein Zittern über seine Glieder lief, als friere er oder als werde er von der Erinnerung an seine verlorene Herrschaft angerührt. Er legte die Hand auf den Kopf des Tieres, und wieder gingen seine Gedanken in die Kindheit zurück, zu Ledo, die nun unter dem Ahorn begraben lag, zu dem Eichhörnchen, das in seinem Käfig ebenso gezittert hatte, zu sich selbst, wenn er am Abend in seinem Bett gelegen hatte und noch einmal ein Schauer des gewesenen Tages ihn überflogen hatte wie jetzt das Tier.

»Heinrich«, sagte er leise.

Oberüber hob den Kopf. »Was is, Korp'ral?«

»Es ist mir so merkwürdig zumute, Heinrich«, sagte er. »Immer noch ,… es fing an, als ich in den Keller stieg ,… und ich muß soviel zurückdenken an meine Kinderzeit ,… hast du einmal Ahnungen gehabt, Heinrich?«

»Nee ,… nu schlaf man, Korp'ral ,… die kleine Musik war ein bißchen viel für dich.«

»Ja ,…«

Aber er lag noch lange mit offenen Augen. Draußen fiel noch immer der Regen auf das gestorbene Dorf, und aus einer Dachrinne tropfte es langsam auf ein Fensterblech, mit großen Abständen, aber so unerbittlich wie ein Uhrwerk. »Es geschieht etwas«, dachte Johannes und setzte sich auf. »Sicherlich geschieht etwas.« Eine schwere Angst fiel mit jedem Tropfen gegen die Kellerwand, starrte durch die erblindeten Fenster, strich über die feuchte Mauer. »Vielleicht ist es etwas mit Percy«, dachte er grübelnd. »Wir hätten zurückmarschieren sollen, heute abend noch ,…«

Und dann stand er plötzlich in der Bahnhofshalle der kleinen Stadt vor dem Schalter und verlangte die Fahrkarte, und die blasse, geöffnete Hand schob sich wie damals zwischen seine Augen und das Gesicht des Beamten. Aber nun schloß sie sich zu, langsam, ganz langsam, wie eine Taschenspielerhand, die zeigen will, daß nichts zwischen ihren Fingern ist. Aber er wußte nun, daß in der geschlossenen Hand etwas verborgen war, etwas, was vorher in einer dunklen Tasche geruht hatte, was er nicht kannte und sah, was aber böse war, lauernd und gefährlich ,… »Das ist nicht Lisas Hand«, sagte er laut und erwachte.

Der Regen rauschte, und der Atem der Schlafenden stieg und fiel im dunklen Raum. Der Hund war noch da, warm und nahe, und wahrscheinlich hatte er nur eine Sekunde geschlafen, so schnell schlossen die vorigen Bilder und Gedanken sich wieder zusammen wie Wasser nach einem Windhauch.

Wieder schlief er ein, und wieder ging er zurück in das Haus, in dem Gina ihn geboren hatte. Er lag in seiner Kammer, die Tannen rauschten hinter der Wand, und auf der Straße, die durch die Siedlung führte, fuhren Wagen. Er sah sie nicht, aber er hörte ihren endlosen Zug, den traurigen Ruf des Wassermannes, der seine Fische anbot aber etwas ganz anderes meinte, und nun den schweren Schritt vieler Füße, die hinter den Wagen hergingen, unter großen Tornistern stöhnend, die sie zu Knurrhahn in die Schule schleppten.

»Korp'ral«, sagte seine Mutter leise. Er lächelte im Schlaf über das seltsame Wort, das sie für ihn erdacht hatte, aber er konnte nicht antworten, denn nebenan rührte es sich in der Kammer und die »beiden« erwachten. Er wußte nicht, daß es Vater und Bruder waren, er wußte nur, daß es die »beiden« waren, eine dunkle Gegenwart, die da war wie der Raum hinter einer Wand.

»Korp'ral«, sagte es wieder leise über seinem Bett.

»Ja«, erwiderte er mit schwerer Anstrengung.

Aber mit einem Male war er wach. Das Rollen der Wagen blieb, der Schritt der schweren Füße, Rufe, über die verhüllend der Regen fiel, aber das andere verschwand, abwärtskreisend wie in einen Strudel, die Kammer, das Haus, das Gefühl des Kindes, und ohne Übergang war die Gegenwart da, das Wissen um jede Einzelheit, die Einordnung in das Dasein.

»Da is was los, Korp'ral«, sagte Oberüber leise. »Muß mal nachsehen, ob sie nach vorn gehen oder türmen.«

»Ja«, erwiderte Johannes wieder.

Er setzte sich auf und zündete das Licht an. Sein erster Blick fiel auf die Spieluhr. Der Hund hob den Kopf und sah lauschend nach der Tür. Oberüber war schon an der Treppe. »Heinrich!« rief Johannes.

»Ja?«

»Vielleicht ,… vielleicht gehst du doch nicht, Heinrich?«

Oberüber winkte mit der Hand. »Gleich wieder da, Korp'ral ,… wissen, was vorne los is.«

Das Rollen der Räder entfernte sich, aber das Marschieren hatte aufgehört. Gewehre wurden zusammengesetzt, ein Befehl wurde von Gruppe zu Gruppe gerufen und verklang in der Ferne.

Johannes fiel ein, daß man das Licht von der Straße sehen könnte, aber als er sich zur Seite beugte, um es zu löschen, hörte er, daß jemand leise die Kellertür öffnete und die Treppe hinunterkam. Er stand schnell auf, ohne zu wissen, weshalb er es tat. Auch der Hund richtete sich auf, und Johannes sah, wie sein Rückenhaar sich unmerklich sträubte. Es war ein dunkler Streifen, der über das glatte Haar lief.

Der andere kam die Treppe hinunter und blieb auf der untersten Stufe stehen. Das Licht ließ nur die graue Uniform erkennen, ein rundes, blasses Gesicht, eine gebeugte Haltung. Schweigend stand er da und starrte herüber, als komme er mit einer Botschaft und wisse nicht, ob jemand wach sei. Die rechte Hand hatte er in der Tasche.

»Das Licht«, dachte Johannes, »er hat es gesehen ,… er will etwas zu essen oder sich wärmen ,…«

Er wollte ihn einladen. Es war, als bücke sein Verstand sich tief, um das passende Wort emporzuheben, aber die Worte waren schwer, gehorchten nicht, wichen widerwillig zur Seite. Eine lähmende Kälte strahlte von der schweigenden Erscheinung aus, die das Natürliche verhinderte.

Die andern schliefen, und ihre Körper lagen wie eine dunkle Schwelle zwischen Johannes und dem fremden Soldaten. »Er darf nicht hinüber«, dachte Johannes schnell. »Etwas Böses ist um ihn ,… etwas ,…«

Er bückte sich und hob das Licht über seinen Kopf. Das Gesicht trat in den hellen Schein, rund, blaß, mit dicht zusammenstehenden Augen, und von der Nasenwurzel zur Kokarde der Mütze lief eine senkrechte, böse Falte.

Das Licht zitterte. Die Hand zitterte. Eine Spinne ließ sich an einem schimmernden Faden von der Decke herab, glitt in Johannes' Gesichtsfeld, erfüllte es, verschwand aus ihm.

»Früchtchen ,…«, sagte Theodor leise und zog die geschlossene Hand langsam aus der Tasche.

Johannes erkannte seinen Bruder.

Er wußte nicht, wie lange sie einander ansahen. Oberüber kam die Treppe hinunter. »Na, Mensch«, sagte er nach einer verblüfften Pause. »Willste klauen? Die tippeln schon los oben ,…«

Theodor ließ die Hand wieder in die Tasche gleiten, drehte sich um und stieg die Treppe in die Höhe. Es sah aus, als bewege er kein Glied, sondern schwebe an einer Schnur gehorsam hinter einer Kulisse zurück. Die Tür fiel nicht zu. Sein Schritt war nicht zu hören. Aber die Kolonne marschierte, weiter, immer weiter, und dann war wieder kein anderer Ton über der Welt als das leise Rauschen des Regens.

»Korp'ral«, sagte Oberüber leise.

Johannes hörte nicht. Er hielt das Licht noch immer in die Höhe, und seine Augen starrten in den leer gewordenen Raum.

»Korp'ral!«

»Hast du ihn gesehen, Heinrich?«

»Natürlich, Korp'ral. Wollte klauen, der Kriegssoldat. Stiefel wahrscheinlich.«

»Nein, Heinrich, er wollte nicht stehlen. Er wollte anmelden, daß er da sei. Sich ansagen, verstehst du?«

»Nee, Korp'ral ,…«

»Es war mein Bruder, Heinrich ,… aus dem Gefängnis ,…«

Oberüber pfiff leise durch die Zahnlücke. »Junge, Junge ,…«, sagte er nachdenklich.

»Das war es, Heinrich, den ganzen Tag ,… Böses geschieht, wo er ist ,…«

»Quatsch, Korp'ral, mit Verlaub. Sie türmen. Kamen von vorn, nicht weit von uns. Werden sich irgendwo verkrümeln im Dreck. Platz genug für uns alle in diesem Chateauland.«

»Ja, vielleicht ,… was erzählen sie?«

»Bauen ab vorn, Korp'ral.«

»Ja ,…« Seine Augen kehrten von der leeren Stelle zurück, glitten über die feuchten Wände und erwachten dann plötzlich. »Weck sie auf, Heinrich«, sagte er. »Wir müssen nach vorn ,… Percy ist allein ,…«

»Jawoll, Korp'ral.«

Als sie aufbrachen, trug Johannes die Spieluhr in seinem Tornister. Der Hund lief vor ihnen her und drehte sich von Zeit zu Zeit um, ob sie auch nachkämen. Dann nickte Johannes ihm zu. Es dämmerte schon. »Wollen ihn ›camarade‹ nennen, Heinrich«, sagte er. »Das wird ihm vertraut klingen, und wir haben keinen Überfluß mehr an Kameraden.«

»All right, Korp'ral«, erwiderte Oberüber und lüftete die Zeltbahn ein wenig, die er über Kopf und Schulter gehängt hatte.

Es regnete noch immer, und es war nicht zu sehen, wo die Sonne aufging.


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