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Woche fügt sich an Woche, Monat an Monat. Steigen auf wie Eimer eines Paternosterwerkes, mit Leid gefüllt, mit Grauen, mit leerer Müdigkeit. Und versinken zu neuem Schöpfen im unermeßlichen Abgrund des Krieges. Es ist keine Hoffnung mehr, diesen Abgrund einmal leer zu schöpfen. Unendlichkeit schleimiger Selbstzeugung scheint ihn zu erfüllen, und es ist, als ob die Zellen jedes Toten sich schweigend teilten, um in eine gespenstische Auferstehung zu treten.
Sie sprechen nicht mehr vom Frieden. Sie empfinden kein knabenhaftes Glück mehr beim Klang eines neuen Namens, zu dem die Füße, die Lastwagen, die Eisenbahnwagen sie tragen. Aller Sinn von Namen ist erloschen, denn hinter allen Namen steht das Gleiche: der Erschöpfung, des Donners, des Todes.
Sie sprechen nicht mehr von den Jahreszeiten. Auch die Jahreszeiten sind erloschen. Immer gleich ist der höhnische Glanz der Sonne, der düstere Schimmer des Mondes, das Unfühlende hoher, unberührter Sterne. Es gibt eine Zeit, in der man verdursten kann, wenn ein schwerer Schuß an die Erde bindet, eine, in der man ertrinken kann, und eine, in der man erfrieren kann. Aber auch dies ist nichts als Wechsel der Form. Sie sehen graue, erstarrte Hände, die um welke Blätter gekrampft sind, um Anemonen, um Schnee, aber das Ewige liegt für sie in dem Krampf der Hände, nicht in dem Inhalt.
Sie sprechen nicht mehr von zu Hause. Seit sie es das letztemal getan haben, am Abend eines wilden Tages im »Jonathan-Land«, tun sie es nicht mehr. Dunkle Haufen hatten im schwachen Mondlicht vor ihnen gelegen.
»Weißt du, Klaus«, hatte Johannes gesagt, »wenn wir zu König David gingen, um die Kühe zu hüten, dann lagen überall die Torfhaufen am Wege. So sieht es jetzt aus ,…« Aber die Torfhaufen waren Leichenhügel gewesen, von zwei Maschinengewehren zusammengeschossen. Und dann, ja, dann hatte Klaus geschrien, aufrechtstehend hatte er geschrien, hatte sein Gewehr fortgeworfen, sein Koppel abgeschnallt, seinen Helm von sich geschleudert, und mit einer hohen, sinnlosen Kinderstimme geschrien, daß er nach Hause wollte, zu seinem Vater, zu dem Telegraphen in der kleinen Station, zu der Schwelle, auf der er gesessen hatte, wenn die Züge vorbeiliefen, in denen die Menschen zum Markte fuhren.
Seit jener Nacht tun sie es nicht mehr.
Sie sprechen von der Feldküche, ob es ihr gelingen wird, heranzukommen, und ob es Erbsen und Zigaretten geben wird. Sie sprechen davon, ob der Sperber, der jeden Morgen über ihre Gräben fliegt, sein Nest diesseits oder jenseits des Flusses haben mag. Ob der Zugführer des zweiten Zuges in der Nacht wieder betrunken sein und drei Gurte durch das Maschinengewehr jagen wird. Sie sprechen wie Menschen in dem Wartezimmer eines Arztes, oder im Vorraum eines Operationssaales, von allem außer dem Kommenden. Sie sprechen nur von dem, woran sie nicht denken, und das andere begraben sie in ihrem Schweigen. Sie haben ein tiefes Grab in sich und sehr viel Erde.
Und sie sind auch schon so weit, daß sie die regierenden Begriffe der Zeit und ihres Lebens nur mit einer leisen Ironie berühren, wenn die Berührung nicht zu vermeiden ist: den Krieg zum Beispiel, oder die Tapferkeit, die Butterportionen, die Marmelade oder die Eisernen Kreuze, das Vaterland oder den Heldentod. Sie sagen lächelnd »dieser uns aufgezwungene Weltkrieg«, und in der ausschließlichen Benutzung dieser Phrase liegt eine erbarmungslose Verachtung einer ganzen Vorstellungswelt. Sie nennen die Marmelade nicht anders als »Heldenbutter«, oder Oberüber ruft mit strengem Ernst in den Unterstand hinein: »Antreten mit Kochgeschirr zum Empfang von Eisernen Kreuzen!« Sie sprechen von dem »mit Recht so beliebten Heldentod«, und wenn unterwegs Gesang befohlen wird, was bei den jungen Kriegsleutnants vorkommt, singen sie die »Historie vom Feldgrauen«, die mit den Versen schließt:
»Liegst du einst im Massengrab, ist es gänzlich schnuppe,
Ob du einen Zug geführt, oder eine Gruppe.«
Und das leise, gleichsam unbeteiligte Lächeln, das dabei um ihre jungen Lippen spielt, ist erschreckend und gefährlich wie die sichtbare Spur einer Mißhandlung.
Hasenbein ist nicht mehr da. Es war ein Sommerabend im »Jonathan-Land«, als sie von einem Waldrand sich vorwärts warfen in ein zerwühltes Getreidefeld. Halme knickten rechts und links von ihnen, auf eine seltsam geräuschlose, ursachlos erscheinende Art. Sie hörten die Schüsse gar nicht, sie unterschlugen sie gleichsam in ihrem Bewußtsein, weil es sonst unmöglich gewesen wäre, sich diesem singenden Tod entgegenzuwerfen. Und dann war Hasenbein gestolpert und auf das Gesicht gefallen, mit einer schweren, gleichgültigen Bewegung. Rechts und links von ihm lag die Gruppe, an die Erde gepreßt, über der die Halme wie unter Hagelkörnern zitterten. Oberüber und Johannes drehten ihn vorsichtig um. Er hatte einen Bauchschuß. »Nich' so schlimm, Korp'ral«, sagte Oberüber. Aber Hasenbein sah sie schweigend an, von einem Gesicht in das andere. Die Würde war ausgelöscht aus seinem Gesicht, und seine Augen waren von der stummen Angst eines Tieres erfüllt, nicht von der Angst vor seiner Wunde, sondern vor den beiden, die an seiner Seite knieten und ein Verbandpäckchen um seinen Leib zu binden suchten. Als fürchtete er, daß sie ihn töten könnten.
Sie sahen zwei Sanitäter mit einer Bahre und fühlten den niedrig jagenden Druck der Granate. Als sie wieder aufsahen und die Erde aus ihren Augen wischten, waren die Sanitäter fort, und die durchlöcherte Bahre lag in den versengten Halmen, und ein dunkles Rot war wie ein Tuch verhüllend über die Erde gelegt.
Sie hoben Hasenbein auf die Bahre, die ihnen warm erschien, wie von einem eben beendeten Opfer, und trugen ihn zurück. Der Waldrand dampfte und spritzte von brüllenden Trichtern, und sie mußten einen Umweg machen, bis sie eine Lichtung erreichten. Dort, unter einer gestürzten Eiche, setzten sie die Bahre ab. Das Feuer, das nach Reserven suchte, zerwühlte nun den ganzen Wald, und sie mußten warten. Hinter ihnen stand Erde und Wurzelwerk wie eine Wand, über sich hatten sie das rissige Grau des Stammes, und vor ihnen, wie in der Öffnung einer Höhle, erschien ein Stück der Lichtung, mit Gräsern und Brombeerbüschen, und dahinter wieder der Wald. Aber Lichtung, Gräser, Büsche und Wald warfen sich in Krämpfen vor ihren Augen hin und her, atmeten, zitterten, schrien, zerbarsten und fielen rauschend wieder zusammen. Plötzlich stand eine Säule zwischen den Stämmen, ein Feuergeysir aus den Schlünden der Hölle, aufspritzend wie aus einer getroffenen Ader und die taumelnde Welt in seinen Strudel reißend. Die Bäume tanzten, Büsche segelten über die Wälder hinaus, und lange nach dem gellenden Donner kehrte alles wieder zurück von der Fahrt ins Firmament, Erde, Büsche, zerrissene Bäume, in einem dumpfen, ohnmächtigen Fall, während die schwarze Krone der Säule durch den Wald davonging, von der Abendsonne beglänzt, mit den höhnischen Umrißlinien eines Gesichts, das sich über die Schultern zurückwendet nach einem Morde. Und lange nachher, verspätet, wie von einem gelockerten Nagel, geschah es manchmal, daß der Wipfel einer Tanne sich lautlos senkte und dann mit schwerem Rauschen niederbrach in das Schweigen.
Zuerst starrten sie hinaus, zählten die Einschläge, berechneten die Bahnen, unterschieden die Kaliber. Dann aber beugten sie sich wie in einem glühenden Gewölbe, ohne Erkenntnis, Hoffnung oder Ausweg. Johannes sah einen Glockenblumenstengel in der Öffnung ihrer Höhle, und er hängte gleichsam seine Seele, den noch lebenden Rest seiner zerstörten Seele an das blaue Wunder dieser leuchtenden Kelche, die im Luftdruck der Explosionen leise schwankten. Hier gab es keine Erschütterung der Harmonie. Die blauen Glocken hörten nicht auf zu läuten, und während hoch über ihnen der Wahnsinn des Hasses heulte, riefen sie wahrscheinlich, keinem menschlichen Ohr vernehmbar, nach den Gläubigen der Liebe, die in der Gemeinde der Insekten ihrem feinen Klingen lauschten. Unendlichkeit des Trostes ging von der Bläue ihrer Kelche aus, Unzerstörbarkeit des Göttlichen inmitten aller verschlingenden Vernichtung. »Das ist die wahre Kirche Gottes«, dachte Johannes, in den Anblick versunken, »blaue Glocken an schwankenden Türmen ,… hier ist der Berg Ararat, der ewige und verheißene, für alle Sintfluten verheißen ,… von hier werden unsere Tauben fliegen, die Tauben des neuen Bundes ,…«
Rinde bröckelte auf seine Stirne herab, und hinter der Eiche brüllte die Flammensäule empor, aber seine versunkenen Augen sahen nur die blauen Kelche, die leise bebten und wieder in die große Ruhe zurückschwangen. Er sah die Kameraden an, und auch ihre starren Gesichter waren der Blume zugewendet.
»Er ist nun sechs Jahre«, sagte Hasenbein plötzlich. »Vorgestern war sein Geburtstag ,… Friedrich heißt er, nach meinem Vater, und sein Haar ist so gelb wie das Roggenfeld, in dem wir lagen ,… er ist so klug, viel klüger als ich, und über dem linken Auge hat er eine kleine Narbe ,… vor zwei Jahren fiel er auf einen Stein, als er mir entgegenlief ,… ich kam aus einer Lehrerversammlung ,… jemand hatte einen Vortrag über Bienenzucht gehalten, ein kleiner, schüchterner Mensch, mit einem komischen Namen ,…«
Sie sahen beide in sein Gesicht, das der Würde entkleidete Gesicht, das an den blauen Glockenblumen hing und den Honig der Erinnerung aus ihren Kelchen zu saugen schien. Er sprach unaufhörlich, und je näher die Einschläge kamen, desto schneller sprach er. Er entkleidete sich wie ein Kind, und wie ein Kind sprach er beim Entkleiden, von allen bunten und heimlichen Dingen des vergangenen Tages, die er zeugenlos berührt hatte mit seinen spielenden Händen. Von seiner Frau und seinem kleinen Hause, vom Obstgarten und seinen Lieblingsschülern. »Sie spotteten über meinen Namen«, sagte er, »und da mußte ich streng sein, sonst wuchs es mir über den Kopf ,… Auch ihr habt gespottet, die Akademiker besonders, weil ich nur ein kleiner Volksschullehrer bin ,… und nun habe ich einen Bauchschuß, einen anständigen Schuß, von dem sie reden werden zu Hause ,… ›Hasenbein hat einen Bauchschuß‹, werden sie sagen, ›sieh mal an, das hätte keiner von ihm gedacht ,…‹ Auch ihr beiden nicht. Ihr habt gedacht, Hasenbein würde einen Armschuß bekommen und vergnügt nach der Heimat gehen ,… und nun liegen wir hier im Walde und die Sonne geht unter ,…«
Seine tief eingesunkenen Augen versuchten ein Lächeln. Es schien, als wollten sie das Lächeln an die Kelche der Blumen hängen, aber es glitt immer wieder ab wie bei einem Kinde, das einen Kranz an einen hohen Zweig hängen will. Nur seine Augen lächelten. Sein Mund war ernst und grau und zusammengepreßt wie über einem schmerzenden Geheimnis.
»Is nich' so schlimm, Korp'ral«, sagte Oberüber wieder. »Kommen schon durch.«
Sie hatten Zeit, bis Hasenbein sein ganzes Leben erzählt hatte. Es strömte aus ihm heraus, als hätte der Schuß sein Leben getroffen, und hinter dem gesprengten Panzer der Wunde erschien das Unbekleidete, Vergrabene, das die Erde aus den Augen wischte und über dem vertropfenden Leben noch einmal das Gebäude des Gewesenen errichtete und das schon etwas Unwirkliches, Spukhaftes hatte, als sei die Rede von einem schon Gestorbenen.
Wenn er schwieg und der graue Mund wie ein Schnitt in einer blassen Frucht erschien, begann Oberüber zu fragen. »Und wie war es mit dem Acker, Korp'ral?« fragte er. »Gehört auch Land zur Stelle?« Und dann wurde der tote Mund wieder lebendig und sprach von seinem Roggen auf sandigem Boden, aber zum sechsten Korn reichte es immer noch. »Und wie steht es mit dem Garten, Korp'ral?« fragte Oberüber. »Klauen die Bengels alle Äpfel weg?«
Und wieder sprach der Mund, aber es war, als ginge er immer weiter fort und spreche immer mühsamer aus der Ferne, und sie beugten sich immer tiefer über ihn, um ihn zu verstehen. Aber seine Augen waren geöffnet, groß und ängstlich, und empfingen das rötliche Licht der sinkenden Sonne wie ein Brunnen in einem leeren Feld.
»Und wie ist es mit dem Pfarrer, Korp'ral?« fragte Oberüber. »Ist er anständig, oder hat er immer zu mäkeln, wie meistens auf dem Dorf?« Seine Fragen wurden lauter und dringender, je leiser die Antworten des Sterbenden wurden. Aber nun antwortete Hasenbein nicht mehr. Seine Augen fielen gleichsam von den Kelchen der Glockenblumen ab und klammerten sich an die beiden nahen Gesichter, die sich über ihn beugten. Es war nichts mehr in ihnen zu lesen, weder Würde noch Angst, und es schien Johannes, als seien sie leere Becher, auf deren Grund nichts lag als ein Spiegelbild der Wände. Sie sahen aus, als müßte man Leben in sie hineinschütten, schnell, mit beiden Händen, ehe es zu spät sei.
Aber dann verschwand auch dies, auch das letzte Spiegelbild. Sie gefroren, zu einer grauen, blinden, müden Schicht, wie die Augen eines sterbenden Vogels, über die ein blasser Vorhang fällt. Die scharfe Linie des Mundes lockerte sich, entspannte, erlöste sich, und eine kindliche Einfalt wuchs langsam von ihm über die hageren Wangen, erfüllte die Schatten unter den versunkenen Augen und floß unmerklich über die Schläfen auf der Stirn zusammen. Und statt des kleinen »Generals« lag ein Kind auf der schmutzigen Bahre, verwandelt wie in einem Zauber, und sah über den Wald hinaus, über dem die schwarzen Säulen gleich Zeichen standen.
Oberüber drückte ihm die Augen zu, und dann saßen sie still an seiner Leiche. Sie sahen nicht mehr hinaus, sondern blickten in das schweigende Antlitz, das dicht unter ihren Händen lag, und das doch mit einem Male in eine unbegreifliche Ferne gegangen war. Es lag da, wie ein abgestreiftes Kleid in einem leeren Hause, es hatte noch etwas von der Form und dem Atem seines Trägers, aber die Tür des Hauses stand weit offen, und sein Bewohner ging schon irgendwo über die fernen Straßen der Welt. Er war ohne Aufsehen, ohne Abschied gegangen, und ein verwirrtes Suchen ging hinter ihm her wie hinter einem entflogenen Vogel. »So schnell geht es«, dachte Johannes, »so schrecklich schnell ,…«
Die Sonne stand nun schon hinter den dampfenden Wipfeln, und die Schatten der Dämmerung stiegen langsam in das tote Gesicht und begannen, ihre Wohnung in den Tälern zu bereiten, unter den Augen, an den Schläfen, in den schmalen Furchen zwischen Nase und Mund. Sie ließen sich nieder wie auf einem leeren, herrenlosen Feld, und es war, als läge ein grauer Stein da, auf den der Tau fallen würde in der Nacht, wie er auf Gräser und Blumenkelche fällt, die keine Hände haben, um ihn fortzuwischen, sondern auf die Sonne warten müssen, damit sie ihn trockne.
»Und er hat doch nichts getan«, sagte Johannes plötzlich laut. »Seine Bienenstöcke waren in Ordnung, seine Klasse war gehorsam und fleißig, sein Kind kam ihm entgegengelaufen, wenn er aus einer Lehrerversammlung kam ,… er war ein bißchen streng und ein bißchen zu würdig, aber das war doch nur wegen seines komischen Namens, damit sie nicht über ihn lachten ,… und auch dem auf der anderen Seite, mit der breiten Mütze und dem sibirischen Gesicht, hat er nichts getan ,… verstehst du das?«
Oberübers Gesicht war noch tiefer gefaltet und zerknittert als sonst. »Laß man sein, Johannes«, sagte er still, »da ist nichts zu verstehen. Immer haben sie es so mit uns gemacht, und immer wird es so bleiben. Wir haben auch nichts getan, und da drüben liegen sie jetzt auch, die Hasenbeine, die Bienenstöcke haben und Kinder und alles andere ,… sie sagen ja, daß es für das Vaterland ist ,… laß man sein ,…« Dann schwieg das Feuer über dem Wald, mit einem Schlag, als werfe jemand eine ferne Türe zu, und aus allen Gräsern stand das Schweigen auf. Sie hörten wieder ihr Blut und das Klopfen ihres Herzens, und nun erst fühlten sie, daß ein Toter zwischen ihnen lag.
Sie hoben die Bahre auf, die viel schwerer geworden war, und trugen sie zum Verbandplatz. »Erledigt«, sagte der Sanitäter und begann den Rock aufzuknöpfen, um die Erkennungsmarke abzunehmen. Da gingen sie schnell davon. Stimmen schrien hinter ihnen her, jammernde, gleichmäßig steigende und fallende Stimmen, immer von derselben Stelle, wie unter gestürzten Bäumen. Es roch nach Blut und dem Schweiß des Todes, und sie gingen wie unter einer Wolke, bis sie das Feld wiederfanden.
Die anderen hatten zwei Löcher für sie gegraben, und dort fielen sie hinein, aßen die grauen Körner der Ähren und sahen zwischen den Halmen überall das stille Gesicht, das der Würde entkleidet war und wie ein Kind im Felde schlief, Tau und Sterne über der kalten Stirn.
Nein, sie behielten das »Jonathan-Land« nicht in gutem Angedenken, und auch als sie wieder im Transportzuge saßen und quer durch Deutschland nach Westen rollten, sahen sie immer noch die finsteren Linien der Wälder, hörten den leisen Gang der Ströme und spürten den Duft der Roggenfelder, der sich auf eine bittere Weise mit dem Geruch des Pulvers und des Todes mischte. Und es war ihnen, als hätten sie dort, gerade dort, den ersten leisen Stoß in die Kammern ihres Herzens empfangen, gleich einer Nadel, die zum erstenmal an das verrinnende Geflecht eines Nervs tastet.
Es war ihnen nun gleich, daß sie nach dem Westen rollten. Sie sahen aus den Fenstern auf die Bilder des Friedens, der gleichmütig und ohne Erschütterung über dem Lande zu wohnen schien. Es gab nun keine Musikkapellen mehr und kein jubelndes Tücherschwenken. Nur die Kinder waren dieselben geblieben in ihrer Begeisterung, und mitunter fingen sie einen stillen, wissenden und fast prüfenden Blick auf, der über sie hintastete, von einer Frau im Trauerkleid oder einem alten Bauern, der an einer Zugschranke stand, die Hände über seinem Stock gefaltet, und den Transport vorüberrollen ließ wie die Prozession eines fremden Glaubens.
Auch bedrückte es sie, daß auf den Bahnhöfen der großen Städte Kinder um Brot bettelten. »Herr Soldat ,…«, sagten sie.
Das neue Land schien ihnen von einer klareren und strengeren Luft erfüllt. Von allen Horizonten drohten die Fesselballone, und der Arm des Todes reichte weit nach hinten, bis zu den Ruhelagern und Depots. Flieger sangen in den Nächten wie Insekten der Sterne, alle Lichter waren abgeblendet, und alles Leben verkroch sich in der Dumpfheit der Stollen, bis die Donner des Himmels über sie hinweggegangen waren wie Gewitter über einen Wald.
Sie waren Heeresreserve und wurden von einer Bereitschaft in die andere geworfen. Die ersten Herbstregen fielen, und der Kreideboden war zäh und schlüpfrig unter ihren Füßen. Die Front war unruhig, und die ganze Nacht flackerte der Himmel von den Mündungsfeuern schwerer Schlünde.
Sie standen am Rande einer Straße, die von Kolonnen verstopft war, und warteten. Sie wußten nicht, worauf. Sie wußten nichts in diesem Lande. Kalter Regen fiel auf ihre gebeugten Gestalten, und der Wind, der von der Front kam, war schwer und süßlich von unsichtbaren Todesfeldern. Neben ihnen hielt eine Munitionskolonne, und sie drängten sich an die Leiber der Pferde, um Schutz und Wärme zu finden. Die schweren Körper standen unbeweglich, dampfend, die Köpfe gesenkt.
Johannes nahm den Helm ab und legte die Stirn an den Hals eines Pferdes. Der Regen rieselte auf die bewegungslosen Körper. Flüche und Kommandos kreuzten sich vorn im Dunkeln, und mitunter bebte die Erde von einem schweren Einschlag hinter den schattenhaften Kieferwäldern. »Dies ist der Krieg, Percy«, sagte er leise. »Nicht der Angriff, die Granaten, der Tod ,… aber diese Straße in Wind und Regen, das Nichtwissen, das Heimatlose. Überall stehen sie so, Regen fällt, und der Himmel brennt ,… Aller Mütter Söhne stehen so, im fremden Land, stumpf und frierend, ohne Herd, ohne Kinder, ohne Glauben ,… Vielleicht werden sie nach zehn Jahren noch so stehen, versteint wie in einem dunklen Märchen ,… Der Regen wird ihr Haar grau waschen, und sie werden zu müde sein, um die Augen zu schließen ,…«
»Man darf nicht so denken«, erwiderte Percy kurz. »Man muß das den anderen überlassen.«
»Weinst du, kleiner Klaus?« fragt Johannes nach einer Weile.
»Nein ,… nein ,… es ist ,… ist nur der Regen ,…«
»Laß regnen«, sagt eine Stimme zwischen den Pferden.
»Vielleicht machen sie Schluß, wenn die Generäle naß werden.«
Dann entwirrte sich die Straße, und sie traten wieder an.
Und nach einer Woche der Märsche wurden sie hineingeworfen. Ein Vorhang hing über der Erde, eine kochende Wand aus Feuer, Qualm und Gebrüll. Sie gingen hinein in die weichenden Falten, die schwelend über ihnen zusammenschlugen, gingen gleich Blinden in einen Abgrund. Sie sahen: aufbrechendes Feld, tanzende Wälder, Körper, die gen Himmel fuhren. Sie hörten: Donner, die sich umschlangen, aus den Eingeweiden der Erde, aus denen der Luft, Schreie, die keinen Lippen angehörten. Sie taumelten nach einer Insel für ihren Leib, einem kleinen Fleck der Erde, aus dem es nicht brüllte wie aus Kratern, aber mitten im Sprung ließen sie sich fallen, weil auch der kleine Fleck sie betrog, ein Trichter ihn zerriß, ein Donner ihn zerschmetterte. Sie sahen Gesichter neben sich, hölzern geschnitzte Gramgesichter, Masken des Entsetzens, die nie eine Sprache haben würden, nach vorn gebeugt, wie Gräser im Wind. Sie mußten wohl geschossen haben. Sie mußten wohl auch getötet haben, denn blaue Gestalten lagen auf der Höhe, von einem blassen, ausgelaugten Blau, Teile von Gestalten, verbogen wie Eisen in einem Brand. Blut tropfte in Kreidelöcher, vermischte sich mit dem Regen und stand wie Spülwasser an den Rändern der Straße.
Alles Dasein stand hinter einem Nebel. Von der Höhe öffnete sich der neue Horizont, aber auch er schwankte. Fetzen von Stacheldraht klammerten sich in ihn hinein, Trümmer von Mensch und Gerät, versengtes Gras, vulkanische Öde. Berge tauchten aus dem Nebel, aber es mußten gemalte Berge sein, denn jeder Stoß erschütterte ihre Falten, riß Löcher und flammende Krater in ihr bröckelndes Gesicht. Zeit und Raum waren erloschen. Alles Bewußtsein war nur wie ein Sieb, durch dessen Maschen Donner in ein leeres Gewölbe fiel. Hände und Spaten gruben hinein in die Erde, in das Dunkel, in die Erlösung, aber es war kein Gefühl in den Händen, kein Gedanke hinter den Stirnen, kein Bild vor den Augen.
Und dann sammelte das Feuer sich auf ihre Höhe und schlug drei Tage und drei Nächte auf sie hernieder. Zehntausendmal heulte der Tod, und zehntausendmal ging er vorbei. So dicht vorbei, daß ein heißer Atem sie versengte, aber doch vorbei. Er warf Erde, Steine, Eisen, ganze Kreidewände auf sie, aber er spielte. Mit einem kalten Lächeln, wie ein verderbtes Kind mit einem Vogel spielt.
Zuerst wehrten sie sich. Sie entflohen ihm von Höhle zu Höhle. Sie schrien, wenn er kam, und lachten, wenn er vorüberging. Aber dann wurden sie still. Sie konnten das Zittern nicht beherrschen, das ihre gelähmten Glieder überrieselte, aber es kam aus einem fremden Körper und war gleich dem Zittern der Erde, in die sie sich bargen. Mitunter stieg ein schrecklicher Schrei aus dem Brüllen des Eisens, nicht der Schrei eines einzelnen, sondern der Schrei einer Masse, in die es hineingeschlagen hatte. Dann lauschten sie wie auf den Schrei fremder Wesen, die von anderen Sternen herniedergeworfen wurden, und das Gefühl einer furchtbaren menschlichen Einsamkeit kroch wie ein Urwaldnebel über sie hin.
Klaus kniete an der Rückwand der Höhle, die Stirn an den schmutzigen Stein gelehnt. Es war nicht zu sehen, ob er tot oder lebend war. Sein Körper bebte, aber auch die Erde bebte, und es war möglich, daß ihr Zittern in ihn hinüberfloß, wie das Dröhnen eines Dynamos in den toten Leib eines Hauses hinüberfließt. Die ganze Zeit hielt Johannes seine Hand, die feucht und kalt war, und sprach zu ihm. Er sprach nur zu sich selbst, aber die Hand in seiner Hand schien ihm eine Brücke zu sein nach einem fernen Ufer, nach dem Ufer des Menschen, das sie nun verloren hatten. Es wäre sinnlos gewesen, zu sprechen, ohne eine Menschenhand zwischen den eigenen Fingern.
»Dies ist nicht der Krieg, kleiner Klaus«, sagt er eintönig, »glaube mir, das ist nicht der Krieg. Das ist der Tod, aber der Tod ist nicht der Krieg. Wer den Krieg beschreiben will und von Blut und Trommelfeuer erzählt, ist ein Tor. Wer die Liebe beschreiben will und vom Küssen erzählt, ist ein Tor. Der Krieg, kleiner Klaus, das ist, daß unser Herz leer ist. Verstehst du das? Daß wir keine Mutter mehr haben und kein Zuhause, keinen Namen und kein Gesicht. ›Werden sie die Höhe halten?‹, so fragen sie nun dort hinten. ›Und wie lange werden sie sie halten?‹ Aber wer ist ›sie‹? Der Abiturient Klaus Wirtulla? Der Student Percy Pfeil? Nein. ›Sie‹, das ist ein Begriff, wie die Materie, oder die Substanz, oder die Energie. Eine Summe von Gewehren und Munition. Eine Gefechtskraft. Wenn ein Maschinengewehr hier wäre, würde es eine Gefechtsstärke von dreißig oder fünfzig Gewehren sein. Das ist der Krieg, verstehst du?«
Aber Klaus antwortete nicht.
»Deine Mutter hat dich geschlagen«, fuhr Johannes eintönig fort, »und wenn du zurückkommst, wird sie wahrscheinlich fortfahren, dich zu schlagen. Denn sie weiß nichts vom Kriege. Sie weiß nichts davon, daß du gekreuzigt wurdest. Und meine Mutter wird mich küssen, wenn ich zurückkomme, aber sie weiß nicht, daß ich Blut auf den Lippen habe und Wundenmale an meinen Händen und Füßen. Niemand wird von uns wissen als wir allein. Wir waren hundert Jahre im Berge, und die Erde wird uns fremd sein. Alle Häuser, alle Blumen, alle Tiere. ›Wie heißen Sie? Johannes Karsten?‹ ›Nein, ich heiße »der vom Toten Mann ,…« oder »der von Rawa-Ruska«.‹ ›Komisch, auch andere sagen, daß sie so heißen.‹ ›Ja, das ist so ,… wir haben keine anderen Namen ,… wir sind die von der siebenten Stufe ,…‹ Siehst du, das ist der Krieg. Sie löschen uns aus wie ein Licht. Das Licht bleibt, aber die Flamme ist erloschen. Wir stehen im Kranz der Erde, aber unser Docht ist kalt ,… Granaten? Was sind Granaten? Eisen, das unser Haus zerbricht. Laß es zerbrechen, denn wir sind schon fort aus unserem Hause. Wir wandern schon. Nimm deine Seele in die Hand, kleiner Klaus, und laß uns wandern. Zu König David oder zum Wassermann ,… oder zu deinem Vater, der am Telegraphen sitzt und auf den schmalen Streifen blickt, ob er unseren Tod verkündigt ,…«
Aber Klaus antwortete nicht.
Er sprach kein Wort in diesen drei Tagen und Nächten, nicht einmal eine Silbe. Seine Augen waren weit geöffnet, seine starren Marionettenaugen, die wie angeheftet aussahen und in die die Menschen so viel Erschrecken hineingeträufelt hatten. Er sprach auch nicht, als das Furchtbare geschah, das diese drei Tage abschloß, wie der Blitz ein Gewitter abschließt.
Sie hatten einen neuen Gruppenführer, seit man sie ausgeladen hatte. Er hieß Hacker, und schon der Name war ihnen unangenehm. Ein langer, zäher Geselle mit einem Geierkopf, der sich vor dem Teufel nicht fürchtete. Er mißhandelte sie mit seiner Furchtlosigkeit. Er war wie ein Schwimmlehrer, der Kinder an einer Angel hält. Es war eine rohe, gleichsam verderbte Furchtlosigkeit, die Freude an der Furcht anderer hatte. Megaï zitterte, wenn er seine Stimme hörte, und Klaus sah sich um, wenn er nicht da war.
Er lag draußen in einem der Trichter und erschien von Zeit zu Zeit in ihrer Höhle, um zu sehen, ob sie noch da seien. Er lächelte. Zwischen allen grauen, versteinten Gesichtern stand sein Lächeln wie die Furchtlosigkeit eines Henkers unter den Marterkreuzen. Er sagte nichts, nur sein Blick ging prüfend von Gesicht zu Gesicht, blieb besonders lange an Megaï hängen und wandte sich dann schweigend ab wie von einer Herde, die keiner Sprache als der der Peitsche zugänglich war. Er fühlte das Glühende ihres Hasses, aber sein Lächeln blieb, das tote Lächeln eines Tierbändigers, der den Atem des Zirkus stillstehen fühlt.
Als am Abend des dritten Tages das Feuer mit einem jähen Sprung hinter sie hinwegfuhr, lagen sie draußen in der grauen Kraterlandschaft und sahen die blauen Menschengarben vor sich zusammenbrechen, in Reihen und in Haufen, wie die Sense sie traf. Die Sonne stand kalt und tief über dem Horizont, mit einem erloschenen Glanz, und alle Linien waren mitleidslos und scharf wie in der Luftleere des Weltenraumes. Reserven schwärmten ein, und der Befehl zum Gegenstoß lief von Trichter zu Trichter.
Sie standen nun aufrecht, als sei das Gewölbe des Feuers über ihnen zerbrochen, und sahen in das leere Land hinaus. »Seitengewehr pflanzt auf!« sagte Hackers lächelnde Stimme. Sie neigten die Mündung des Gewehres wie auf dem Exerzierplatz, und das kalte Klirren des Metalls lief wie die Bewegung einer sich hebenden Kette von Flügel zu Flügel. Nur aus Megaïs zitternden Händen fiel das Seitengewehr zu Boden, und er bückte sich schnell wie ein gescholtenes Tier und stieß es über die Mündung seines Gewehres. Er drehte sich nicht um, aber er wußte, daß Hacker hinter ihm stand und lächelte. »Na, Pinkelstein«, sagte die Stimme, die wie ein Messer war, »hat das Judchen die Hosen schon voll? Und die Mamme ist nicht da, um sie zu waschen?«
Sie sahen alle, daß Megaïs Körper zuckte, bis zu seiner schiefen Schulter hinauf. Sie sahen, daß er sich umwandte, steif wie eine Holzfigur, sahen sein immer noch versteintes Gesicht, das noch nicht wieder zum Leben erwacht war, mit den weit entfernten Augen, die durch seinen Peiniger hindurchgingen, und sahen, daß er mit einer hölzernen Bewegung, wie von einem Uhrwerk gelenkt, sein Gewehr hob und, ohne einen Schritt zu tun, sein Bajonett in die Brust des Unteroffiziers stieß. Er stieß es bis zum Heft hinein, ließ die Arme gehorsam fallen und sah ohne Anteilnahme durch die Gestalt hindurch, wie sie erbebte, schwankte, indes das Gewehr wie ein Speer aus der Brust ragte, dann hintenüberstürzte und ausgestreckt lag, während das Gewehr in die Luft stand, so daß der Tote einem Baume glich, durch den ein Gatter sägend geht.
Und bevor ein Schrei, eine Bewegung aus dem erstarrten Trichter sprang, drehte Megaï sich um, stieg über den Rand des Granatloches und ging von ihnen fort, über die Gestalten der Toten hinweg, auf die Gräben des Feindes zu, steif, hölzern, gehorsam, in einer geraden Linie, die den Toten, den Trichtern, den Drahtfetzen nicht auswich, sondern über sie hinüberging. Seine linke Schulter war angehoben wie sonst, sein Helm saß schief, und wie ein zerstörtes Spielzeug, mit ablaufendem Uhrwerk, bewegte er sich auf gehorsamen Rädern über eine geneigte Platte in den Abgrund hinein.
Sie sahen ihm nach wie einer fallenden Kugel. Kein Atemzug ging hinter ihm her, nur das Weitgeöffnete stummer Augen. Kein Schuß fiel, als ob beide Fronten Anteil an dem Wandel eines Gespenstes hätten, nur die Erde schoß unter ferner Lenkung in Trichtern rechts und links von ihm empor, ohne ihn zu berühren.
Aber dann stolperte er. Draht mußte sich um seine Füße geschlungen haben, und obwohl er keine Hand bewegte, um ihn zu entfernen, sondern weiterging wie durch einen Wald, genügte dieser Augenblick, um von der Lähmung zu befreien. Es war, als sei er aus dem gespenstischen Wandel für eines Atemzuges Länge wieder der Bedürftigkeit des Menschlichen verfallen, seiner Verwundbarkeit, seiner Gesetzlichkeit. Ein Maschinengewehr schlug zu, viermal, wie ein eiliger Hammer. Die Gestalt breitete die Arme aus wie zu einem alles umfassenden Segen und fiel auf ihr Gesicht. Und wie sie aus der Landschaft verschwand, weggelöscht gleich einem getragenen Licht, verschwand das Schweigen, das Grauen, die Lähmung. Eine Salve schwerer Kaliber brauste von hinten über sie hinweg, tauchte hinter dem Toten ein und stellte eine fahl glühende Wand vor die Landschaft, den Lebenden den Raum zumessend, den sie nun handelnd zu erfüllen hatten.
»Antreten!« rief eine ferne, unwirkliche Stimme.
Aber bevor sie auf die versengte Erde hinaustraten, legte Oberüber eine graue, nicht ganz sichere Hand auf Percys Arm. Sie sprachen kein Wort, aber Percy beugte sich nieder und stützte seine Hände auf die Brust des Toten. Oberüber zog das Bajonett aus der Wunde, sah sich in verstörtem Suchen um und stieg dann mit zwei Gewehren die Wand des Trichters in die Höhe.
»Die Gruppe hört auf mein Kommando!« sagte Percy mit ruhiger Stimme.
Eine Stunde später, als sie in einem eroberten Graben über Klaus knieten und mit Brotbeutelbändern seine zerrissenen Beine über den Knien abschnürten, schlug eine leichte Feldgranate in die Rückwand des Grabens. Sie vernahmen weder Knall noch spritzenden Feuerschein, nur das letzte Flüstern eines jagenden Hauches, gleichzeitig mit der schon betäubten Erkenntnis, daß dies das Ende sei. Aus der Tiefe der Blendung und der Bewußtseinslosigkeit, der stürzenden Erde und des würgenden Dampfes riß sie eine heulende, davonstürmende Stimme, die Stimme Gollimbeks, der, seine blutende Hand mit gespreizten Fingern von sich gestreckt, in die Dämmerung hinausschoß. »Das Täubchen«, murmelte Oberüber, spie das Blut aus seinem Munde und tastete mit den Händen über sein Gesicht, das von winzigen Wunden wie von Blutpocken übersät war.
Über Johannes' linker Schläfe war ein gezackter Spalt, aus dem es leise rieselte. Percy war unverletzt.
Sie richteten Klaus auf, der halb verschüttet war, und legten ihn wieder zurück. Dann verband Percy sie. »Mußt du brechen?« fragte er Johannes. »Nein.« »Eine saubere Fresse«, fluchte Oberüber. »Mir können sie als Waffeleisen benutzen.« Percy meinte, daß es nur Kalkspritzer seien.
»Jo ,… Johannes ,…«, flüsterte Klaus. Er versuchte, die Hand nach Johannes' Verband zu heben, aber er vermochte sie nicht von der Erde zu lösen. Sie war grau und mager, als habe er lange in einem Keller gelebt. »Es ist nichts, kleiner Klaus«, sagte Johannes. »Nur ein Riß an der Schläfe, hörst du?« Er nickte und versuchte zu lächeln, aber es war, als steige sein Lächeln über eine Leiter von tausend Schmerzenssprossen empor. Er blickte nicht auf seine Füße, sondern sah von einem zum andern, mit der schweigenden Fremdheit eines Kindes, das in seinem Bett aufrecht sitzt und in die großen Welten der fremden Gesichter sieht, die seinen Raum erfüllen. Man spricht zu ihm, man legt ein Spielzeug in seine Hände, aber seine Augen fahren fort zu wandern, die unerschöpflichen und nie zu füllenden Augen, die schweigend, ohne Frage, ohne Verwunderung, ohne Leid gleich Spiegeln geöffnet sind und jede Bewegung empfangen.
»Nach Hause ,…«, sagte er leise.
Sie saßen bei ihm, gleich ihm an die Rückwand des Grabens gelehnt. Die ersten Sterne zogen auf, und einmal hörten sie den hohlen Flügelschlag ziehender Vögel. »Die Handschuhe ,…«, flüsterte Klaus. »Ihr wolltet sie nicht liegenlassen ,…«
Leise strich Johannes über sein Haar. »Das ist nun der Heldentod«, dachte er bitter. »O Gott, wann wirst du dich deiner Erde erbarmen?«
Oberüber schlief. Sein weiß umwickelter Kopf fiel von Zeit zu Zeit auf seine Brust. Es sah aus, als ob der Kopf eines Vogels nach einer Beute niederfahre.
Dann kam Percy mit zwei Sanitätern. Sie legten Klaus vorsichtig auf die Bahre. Seine Beine waren tot wie abgestorbene Ranken.
»Percy!« sagte Johannes leise.
Er nickte. »Ich muß dorthin«, erwiderte er, und seine Hand hob sich nach dem matten Schein des westlichen Himmels. »Macht es gut!«
Dann stieg er über den Graben zurück, und Johannes stand und lauschte, bis das leise Klirren der waffenbehängten Gestalt in dem fernen Rauschen ertrank, mit dem die Mühle der Schlacht noch immer widerwillig mahlte.