Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4

Johannes behielt keine Namen, keine Gesichter, keine Einzelheiten. Er behielt, daß die Namen einen traurigen, verlorenen Klang hatten, gleich einer Oboenmelodie, die sich in einem leise pochenden Orchester verliert. Daß die Gesichter etwas Erloschenes hatten, das wie in einen Nebel hineinging, dem man folgen, aber den man nicht erreichen konnte. Daß es in diesem Lande nichts Einzelnes gab, sondern nur Allgemeines. Wege, Felder, Dörfer, Wälder konnten wohl Namen und Gestalt tragen, aber Johannes schien es, als gäbe es nur einen Weg in diesem Lande, einen breiten, zerwühlten, grauen und unendlichen Weg. Man konnte sich einbilden, daß das Stück, auf dem man gerade marschierte, das nach einem bestimmten Dorfe, nach einem bestimmten Walde abbog, ein besonderer, ein neuer Weg sei, der in etwas Neues führte. Aber schon nach einer halben Stunde sah man, daß es ein Irrtum war. Ein geborstener Baum stand im Graben, ein Krähenflug schrie über kahlen Feldern, ein alter Jude mit seinem Kind stand am Tor eines schmutzigen Hofes, sah ihnen entgegen und sah ihnen nach, müde, teilnahmslos, fremd. Auch gestern war ein Baum gewesen, ein Krähenschrei, der Blick eines alten Mannes, und auch morgen würde das sein, gleich Spiegeln, die sich langsam drehten, um aus dem Ruhenden und Toten ein sich Bewegendes und Lebendiges vorzutäuschen.

Es gab nichts Endliches in dieser Unendlichkeit.

Sie kamen durch Städte, deren Bewohner nur aus Juden zu bestehen schienen, und Johannes, in den wenigen Stunden der Rast, konnte langsam, unaufhörlich durch die engen Gassen wandern, in die fremden Gesichter der Häuser und Menschen blicken, die durch ihn hindurchsahen, ohne Lächeln, ohne Trauer, wie durch die Wand eines Regens, die sich für kurze Zeit vor eine Landschaft schob. Man bot ihm Ware zum Kauf an, Speise, Trank, und er saß in einer der Teestuben, abseits des Soldatenstromes, sah dem alten Mann zu, dem die Locken über die Schläfen hingen, und der im Dunklen irgend etwas Unerklärliches tat, sah dem Mädchen zu, das ihm den Tee brachte, ihren schönen Händen mit den fremdartigen Nägeln, der weichen Lautlosigkeit ihres Ganges, ihrem fremden Lächeln, mit dem sie eine Frage erwiderte. Er vergaß den Tee, lauschte auf die Stimmen, die aus der Tiefe des Hauses leise zu ihm drangen, sah junge Männer hereinkommen, deren Blick ihn kalt und spähend erfaßte, sah sie wieder fortgehen, über die Straße, in andere dunkle Häuser, und hätte bleiben können, Stunde auf Stunde, lauschend, wartend, an der Schwelle eines unbekannten, geheimnisvollen Lebens, hinter der der Mensch stand, von dem er nichts wußte und niemals wissen würde. Perlmutter fiel ihm ein, der an seinem zehnbändigen Werk schrieb, und der in einem solchen Hause geboren sein mußte. Und es schien ihm, als müßten die Kinder uralt sein in diesen Häusern, mit einem uralten Vermächtnis an Leid, Ergebung und Kraft, das wie ein still leuchtender Gral mit ihnen hinausginge in ihr beschattetes Leben.

Und dann bezahlte er, grüßte höflich und ging hinaus, und das Mädchen schloß die Türe hinter ihm wie hinter einem welken Blatt, das ein Luftzug über die Schwelle trieb.

Einmal, in der Dunkelheit, drängte sich ein Kind an ihn, nicht älter als zehn Jahre, und erbot sich, den »Herrn Soldaten« zu seiner Schwester zu führen, »achtzehn Jahre ,… schön ,… ßwei Rubel ,…« Johannes beugte sich nieder und sah in ein lauerndes, spähendes, kaltes Gesicht. »Serrr schön ,…«, wiederholte der Kindermund.

Johannes folgte durch dunkle, sich verwirrende Gassen, traurig, erschüttert, verstört. Höfe schoben sich ineinander, über einer Mauer rauschte ein Baum im Wind, ein Hund bellte auf und verschwand. Die Kinderhand faßte nach seinem Rock und zog ihn eine finstere Treppe empor. Eine Tür schloß sich leise auf und zu, ein Licht brannte in einem engen, schmutzigen Raum, und in einem Bett richtete ein Mädchen sich auf, halb bekleidet, mit schwarzen Locken über einem sanften, verwüsteten Gesicht. Ihre Lippen lächelten gleich einer Maske, kalt, gehorsam, fremd.

»Weshalb tust du das?« fragte Johannes leise.

Sie lächelte.

»Weshalb tust du das?« wiederholte er.

Sie ließ das Hemd von ihren Schultern fallen und lächelte. Hinter der Wand klopfte es leise, gleich einer Warnung oder einem Befehl. Angst fiel über Johannes. Er ging zur Tür zurück und hinaus. Sie beugte sich über die Treppe, das Licht in der Hand, ohne ein Wort, nur ihr Lächeln blieb.

Johannes irrte durch Höfe und Gassen, bis er sein Quartier fand. Er erzählte es, weil es ihm zu schwer war, es allein zu wissen, und weil er ohne eine andere Begier war als die nach fremden Seelen. »Wir werden nie mehr herausfinden aus diesem Land«, sagte er. »Wenn die Sonne einmal untergeht, werden wir ertrinken in seinen Straßen, seinen Häusern, seinem Lächeln. Wie schrecklich weit ist der Mensch vom Menschen ,…«

»Du bist zu neugierig, Kamerad«, sagte Oberüber. »Sie sind nicht neugierig, denn sie sind alt ,… und du mußt nicht mehr mitgehen, es ist gefährlich.«

»Man muß doch wissen, was der Mensch ist«, erwiderte Johannes. »Ich kann nicht an diesen Menschen vorbeigehen ,…«

»Was du alles erlebst«, sagte Klaus verstört. »Mich würden sie umgebracht haben, ganz gewiß.«

Megaï sah sie mit sanften Augen an. »Es gibt keinen Zugang«, sagte er leise.

Schnee fiel, und sie marschierten. Die Bahnen waren zerstört, und über den dunkel zerfahrenen Weg schleppten sich die Kolonnen, Fuhrparks, Bagage, Artillerie. Sie krochen zwischen den schweigenden Feldern nach Osten, eine nach der anderen, durch zerstörte Dörfer, durch verwüstete Wälder. Herrenlose Hunde zogen mit ihnen mit, Krähen erwarteten und verfolgten sie. Und nichts schien zurückzukommen, alles schien in der unermessenen Ferne unterzutauchen, sich zu verlieren, zerrieben zu werden zu Staub, den die fremden Winde verwehten.

Sie marschierten. Keuchend unter ihrer Last, die geblendeten Augen auf den Helmrand des Vordermannes gerichtet. »Noch zwei Tage«, sagten die beiden Leutnants, die den Transport führten. »Verdammt weit bis in den Krieg«, fluchte Oberüber.

Am nächsten Abend rückten sie in ein Dorf ein, in das die Bewohner wieder zurückgekehrt waren. An einem der Hoftore stand eine Frau, das Umschlagetuch um den Kopf gelegt, die Hände gefaltet. Gruppe auf Gruppe zog an ihr vorbei. Ein Scherz flog zu ihr hinüber und verstummte. In der Dämmerung sah man ihr Gesicht erst, wenn man das Hoftor erreicht hatte, sah man, daß die Tränen unaufhaltsam, schweigend, wehrlos aus ihren Augen stürzten, die doch über jedes Gesicht zu tasten schienen, das an ihr vorbeizog. Keine Verzweiflung zerriß ihr Gesicht, keine Wildheit des Schmerzes. Es war so still wie das Holz des Tores, und aus dieser Stillheit brachen die Tränen wie aus einem gesprungenen Gefäß.

Schweigen fiel über die Kolonne. Viele drehten sich um, und allen war es, als beginne hier, an dieser Stelle und zu dieser Stunde, der Krieg, der bis dahin weit im Zukünftigen verborgen gewesen war. Sie kamen in einem der Häuser am Ausgang des Dorfes unter. Es waren nur zwei Frauen und ein Kind in der Stube, und auf dem großen Ofen kniete ein alter Mann im Schafspelz und starrte zu ihnen herunter. Er hatte eine Pelzmütze auf dem Kopf und schwankte leise auf den Knien hin und her. Seine großen, rotgeränderten Augen schienen keine Lider zu haben, und sie folgten jeder Bewegung der Soldaten wie die verwunderten, kalten, geduldigen Augen einer Eule.

Oberüber ging hinaus, um im Dunklen einen Zaun abzubrechen. Die anderen gingen nach Stroh. Johannes, mit wundgelaufenen Füßen, saß unter den Heiligenbildern auf der Bank und sah zu, wie das Kind in das große Bett gelegt wurde. Aus allen Bewegungen und Stellungen heraus blieb das erstaunte Gesicht mit den großen Augen ihm schweigend zugewendet. Dann legte er den Kopf an die Wand zurück und sah zu dem Alten auf dem Ofen hinauf. Er schwankte noch immer auf seinen Knien hin und her, und seine großen Vogelaugen schienen zu warten, daß Johannes etwas sage oder tue oder sich auf eine wunderbare Weise verwandle.

»So ist es nun also«, dachte Johannes. »Diese Menschen und das Dorf und die beschneiten Felder ,… und wenn ich hier sterbe, wird er weiter auf mich heruntersehen ,… und seine Söhne sind vielleicht schon tot, verscharrt auf diesen schweigenden Feldern ,… und er wird da weiter knien, gleichviel wer auf dieser Bank sitzt ,… so ist also der Krieg ,…« Seine Füße schmerzten, und eine einsame Traurigkeit fiel schwer auf seine müden Schultern, auf denen er noch die Tragriemen des Tornisters spürte.

Als niemand kam, ging er hinaus. Es war ihm plötzlich, als könnten sie ihn vergessen haben, und er müßte allein aus diesem Lande zurückfinden. Ein leiser Tauwind kam von den Feldern, und es tropfte verstohlen von den Strohdächern. Und plötzlich, als er kaum das Bild der fremden Nacht in sich aufgenommen hatte, dunkle Giebel, rötliche Lichter, die bläuliche, uferlose Weite der Felder, stieg im Osten ein hartes Dröhnen gleichsam über den Horizont, eine Reihe dumpfer Stöße, die langsam in ein Rollen übergingen und anschwollen, als näherten sie sich auf einer geneigten Ebene von Erz. Und während er lauschte, bestürzt zuerst und ohne Verständnis, glaubten seine Augen aus der Ferne, weit hinter den Feldern, das Auflodern eines fernen Scheins zu erblicken, eine rötliche, taumelnde Wand, die aufgebaut wurde und immer wieder zusammenstürzte und die irgendwie in einem drohenden Zusammenhang stand mit dem dumpfen Rollen, das nun das ganze Dorf leise zu erschüttern schien.

Türen wurden geöffnet, Menschen kamen auf die Straße, der verwehte Klang von Stimmen hing zwischen den Häusern, und mit einem Male war das Dunkel, die Ferne, die Verschollenheit von einer leisen Unruhe erfüllt, in der das Herz schwer zu klopfen begann mit einer unangemessenen und bedrückenden Deutlichkeit. Und während der ganzen Zeit tropfte es gleichmäßig und eintönig von den Dächern, mit dem stumpfen Gleichmut, mit dem der Alte auf dem Ofen seinen Körper auf den Knien wiegte.

Mit einem Male waren sie alle da, fast gleichzeitig von allen Seiten aus dem Dunkel hastig auftauchend, Oberüber mit trockenem Holz, die anderen mit Stroh und Lorenz und Schröder mit den Kochgeschirren von der Feldküche. Sie blieben bei Johannes stehen und lauschten dem drohenden Gang der fernen Mühle, wortlos, ohne sich zu rühren. »Dicke Luft, Kinder«, sagte Oberüber endlich. »Wollen machen, daß wir was in den Magen kriegen.« Aber sie schoben sich fast widerwillig in den Hausflur, und Klaus blieb noch eine Weile auf der Schwelle, die Augen nach dem roten Schein zurückgewendet, der immer befehlender und beherrschender über den östlichen Horizont sich hob.

Dann, als sie aßen und das Feuer im Ofen brannte, kam Hasenbein vom Befehlsempfang. Sie riefen nicht mehr »Achtung!«, wenn er hereinkam, und er hatte die Lockerung der äußeren Form schweigend wenn auch ernst hingenommen. Antreten dreiviertel acht, Abmarsch acht Uhr, aber es müsse ein Alarmposten vor jedem Quartier stehen, es sei möglich, daß es früher losgehe. Ob man etwas wisse? Nichts Bestimmtes, aber der Ortskommandant habe telephonisch gehört, daß die Truppen vorne etwas auswichen und daß es viele Verluste gegeben habe. »Denn wollen wir mal die Klamotten anbehalten«, sagte Oberüber und nickte ihnen zu. »Mir scheint, morgen sind wir drin.« Gollimbek kramte unter seinen Leibbinden, und der Alte auf dem Ofen starrte noch immer wie eine Eule auf sie herunter. Nur Megaï schlief, das Kochgeschirr noch an seiner Seite, den Löffel noch in der Hand.

Das Feuer brannte noch, als sie schon in ihrem Stroh lagen, und erfüllte den Raum mit Wärme und einem rötlichen Schein des Friedens. Percy, die Zigarette im Mund, hatte die Hände unter dem Kopf gefaltet und blickte zu der verrußten Balkendecke empor. »Johannes?« flüsterte Klaus. »Ja?« »Wenn ,… wenn ich einen Beinschuß bekomme, werdet ihr mich nicht liegenlassen, nein?«

»Kleiner Klaus«, erwiderte Johannes, »nicht einmal deine Handschuhe werden wir liegenlassen.«

»Dann ist es gut ,… und nun wollen wir schlafen. Ich habe die letzte Wache.«

Johannes erwacht davon, daß die Fenster leise klirren. Das Feuer im Ofen ist erloschen, und es ist ganz dunkel im Raum. Er hat alles vergessen gehabt, in einer traumlosen Erloschenheit erschöpften Schlafes. Aber nun ist alles wieder da, ganz schnell, ohne Mühe des Wiederfindens: der alte Mann, die Kameraden, Hasenbeins ernstes Gesicht. So wie die Tropfen vor den Fenstern, die vom Strohdach herabfallen, unaufhaltsam, wie alles unaufhaltsam ist, was hier mit ihnen geschieht.

Er hebt leise den Kopf, um die Kanonen besser zu hören. »Sie sind näher gekommen«, sagt Percy leise, mit ganz wacher Stimme. »Bei Nacht bedeutet das nichts Erfreuliches.«

»Es ist gut«, erwidert Johannes, »daß es ohne viel Übergang geschieht.«

Und dann lauschen sie beide. Das Kind ist aufgewacht und weint leise, und die Stimme seiner Mutter geht tröstend über das Weinen hin. Es ist eine tiefe, ruhige Stimme. Man kann nicht verstehen, was sie spricht, aber es ist Johannes schön, ihr zu lauschen, weil sie ihm als etwas Unverlierbares erscheint, als etwas Unvergängliches in dieser Wirrnis der Stunden, der fernen Geräusche, der Wege, die schon für ihre Füße bereitet sind. Es ist ihm, als werde solch eine Stimme niemals ausgelöscht werden können von dieser Erde und als vereinige sich in ihr aller Trost der Welt und spreche leise zum Untröstlichen, sich Fürchtenden, Heimatlosen. Als könnte alles im Kriege zerbrechen und verwehen, aber die Stimme der Mutter, irgendeiner Mutter, werde das alles überdauern als die Verheißung eines kommenden Friedens.

Und dann hören sie ein Hornsignal, das wie ein Tier über die Straße schreit, räuberisch und unerbittlich, und wissen, daß es nun da ist, was vor dem Einschlafen vor ihrer aller Augen gestanden hat. Sie hören Gollimbeks stolperndes Laufen, seine Hand, die den Türgriff nicht findet, seine Stimme, die »Alarm!« schreit, als brenne es in seinem Laden.

Während Oberüber Licht macht und sie sich schweigend und hastig fertigmachen, hört Johannes auf das Weinen des Kindes, als sei dieses das Wichtigste in dem Aufruhr der Gedanken und Handlungen dieser vorüberrasenden Minuten. »Es muß still werden«, denkt er. »Das ist nun das Wichtigste, was wir in der Schlacht zu tun haben, daß wir die Kanonen zurücktreiben, damit es nicht mehr weint ,…«

»Antreten!« brüllt Hasenbein.

Es ist nicht gut, daß sie keinen heißen Kaffee bekommen haben. Ein feiner Sprühregen fällt, und sie haben ein eigentümliches leeres Gefühl in ihrem Innern, als habe man etwas aus ihnen herausgenommen wie aus einem wehrlosen Präparat. Während sie durch das Dorf marschieren, bemerken sie flüchtig aber doch mit einer sich seltsam einprägenden Schärfe, daß sich alles verändert hat. Leute laufen über die Höfe, Wagen werden bepackt. Unruhe erfüllt das Dunkel, eine Unruhe, die man mehr fühlt als sieht, und alles geht schweigend vor sich, finster, atemlos.

Es wird langsam hell. Waldstücke treten aus der grauen Dämmerung, die abweisend und gefährlich aussehen. Es tropft von allen Zweigen und klopft leise auf welkes Laub. Nebel verhüllen die Tiefe, und die Spitze der Kolonne verliert sich hinter den schwankenden Falten grauer Vorhänge. Niemand singt, niemand spricht. Alle Augen sind mit einer finsteren Schärfe nach vorn gerichtet, wo die Gewehrläufe über den Schultern schwanken.

»Rechts ran!« kommt es von vorn zurück, als sie die große Straße erreichen. Bagagen kommen ihnen entgegen, Sanitätswagen, Feldküchen, Artillerie. Alles ist kotbespritzt, grau, übernächtigt, stumm. Aus allem kriecht der graue Nebel einer Gefahr, eine dumpfe Erkenntnis, die man zur Seite schieben möchte, die sich aber festsetzt und wie eine Wolke mit ihnen mitzieht, sich verdichtend, wachsend, niederbeugend.

»Was ist los vorn, Kamerad?« fragt Oberüber einen alten Fahrer.

»Scheiße!« Er dreht nicht einmal das Gesicht zur Seite.

»Da hättste bleiben sollen!« schreit Oberüber wütend über die Schulter. »Is was für dich.«

Der Fahrer antwortet nicht einmal.

Die Geschütze verstummen, aber das Schweigen ist drohender als das unaufhörliche Grollen. Gollimbek behauptet, daß er Gewehrfeuer höre. Niemand widerspricht, obwohl sie es für unsinnig halten. Aber sie haben das Gefühl, als brodle vor ihnen ein kochender Kessel, in den sie sinnlos hineinstürzen werden.

An einer Weggabelung werden sie erwartet. Ein Offizier steht da und deutet mit der Hand nach den bewaldeten Hügeln, die rechts, hinter schmutzigen Feldern, aufsteigen. »Mündungsdeckel ab!« wird befohlen. »Laden und sichern!« Ihre Finger sind erstarrt, aber sie haben es tausendmal geübt. Hasenbein, wie auf dem Exerzierplatz, sieht nach, ob die Sicherungsflügel herumgedreht sind. Das kalte, metallene Rasseln der Schlösser hat etwas Unerbittliches an sich. Es klingt, als ob hundert Riegel aufgestoßen würden und nun gäbe es noch eine Pause der Achtung, der letzten Vorbereitung, und dann würden die Tore aufspringen, und »es« würde beginnen.

Sie biegen von der Straße ab und marschieren auf die Hügel zu. Im letzten Augenblick sehen sie, daß Verwundete zurückkommen, sehen weiße Binden, die von einem brennenden Rot getränkt sind. Sie bleiben stehen und starren hinüber. Alle Gesichter verändern plötzlich ihren Ausdruck und erfüllen sich mit einer gespannten Blässe. Aber einer der Leutnants ist jetzt am Ende der Kolonne und drängt sie mit harten Worten vorwärts.

Als sie auf der Höhe sind, glauben sie alle, Gewehrfeuer zu hören. Der Wind steht herüber, aber Percy sagt, daß es Unsinn sei. Doch setzt nach langer Pause wieder Geschützfeuer ein, näher gekommen, unerhört nahe. Die Höhe ist kahl, nur von Heidekraut und dunklen Wacholderbüschen bestanden. Unter ihnen liegen wieder Felder, Waldstücke, ein kleines hingezogenes Dorf. Sie schwärmen aus, »auf der Grundlinie«, mit zehn Schritt Zwischenraum, und müssen sich eingraben. Hasenbein sagt, es sei eine »Aufnahmestellung«, für Infanterie, die vorn langsam ausweiche. Das Wort »ausweichen« mißfällt ihnen, es scheint ihnen unehrlich, verschleiert. Aber sie graben, wie sie es gelernt haben, legen das Gewehr vorn über die Deckung und sehen über Visier und Korn, ob sie Schußfeld haben. Die Leutnants gehen die Kette entlang, helfen, verbessern und sprechen mit einer Freundlichkeit und Ruhe, die irgendwie verdächtig sind. Dann dürfen sie abwärts am Hang die Gewehre gruppenweise zusammensetzen. Nur ein paar Posten bleiben oben.

»Wollen Feuer machen«, sagt Oberüber.

Gollimbek starrt ihn an. »Bei der Nässe, Mensch?« Sein Hasenkopf ist klein und spitz geworden, und Johannes sieht, daß sein Kinn zittert.

Oberüber lächelt verächtlich. »Jaskocher meinste, wat?«

Nach fünf Minuten brennt ein Feuer unter einer Schirmfichte, und sie hocken auf ihren Tornistern, die Hände um die Knie gefaltet. Hasenbein, immer noch die zugeschlossene Würde in seinem Gesicht, kommt von den beiden Leutnants und überbringt die Erlaubnis, die eiserne Portion anbrechen zu dürfen. »Anbrechen ist gut, Korporal«, sagt Oberüber lächelnd. Gollimbek ißt nicht. »Wenn man einen Bauchschuß kriegt mit diesem Zwieback, ist man hin«, sagt er ernst, und er geht unter die nächste Fichte, um seine zweite Leibbinde anzulegen.

Dann rauchen sie, und eine leise Fröhlichkeit erfüllt ihr niedriges grünes Haus. Der Rauch steht über ihnen wie ein zweites Dach, und draußen sehen sie den Regen in das Heidekraut fallen. Sie haben schon gelernt, wie man die Stunde nützt, selbst die Minute. Alles andre kommt noch früh genug, kommt von selbst, unerbittlich, unaufhaltsam, nur die kurze Pause gehört ihnen, der Atem des Lebens, von dessen Zukunft sie nichts wissen. Aber es ist ebenso natürlich, daß die Augen ihnen zufallen und sie um das Feuer liegen, auf der nassen Erde, während der Regen auf ihre Stirnen fällt und leise in den Ästen rauscht. »So war es«, denkt Johannes noch, »am letzten Abend, als ich am Zaun stand ,… der Regen und die schlafenden Gesichter ,… nun ist es da ,… und ist gar nicht so schlimm ,…«

Sie erwachen von einer Reihe dumpfer Schläge. Die Erde bebt unter ihren Gesichtern, und es dauert eine Weile, bis sie wach sind und begreifen. Hasenbein kommt angestürzt, und sie laufen, noch taumelnd, in ihre Löcher auf der Höhe. Hinter dem Dorf stehen vier dunkle Wolken über dem Feld, gleich schwarzen Trichtern, die langsam über die Erde wandeln, über das Dorf und auf sie zu. Sie hängen wie Gespenster in der grauen Luft, von den Rändern aus langsam zerfließend, und es sieht unheimlich aus, wie sie scheinbar ursachlos sich bewegen, nebeneinander, ganz gleichmäßig, bis der Regen sie auslöscht.

Sie starren über ihre Deckung hinüber, stumm, mit einem bangen Wissen um das, was geschieht. Sie sehen nicht zur Seite, obwohl sie es möchten und obwohl sie wissen, daß auch die rechts und links von ihnen es möchten. Sie sehen Kolonnen auf der fernen Straße, eine an die andere geknüpft, ohne Ende, und es ist ihnen, als ob sie auch vor sich, zwischen den verschwimmenden Waldstücken, graue Linien sehen, aufgelöst, ohne Zusammenhang, die sich langsam bewegen, wie Fliegen auf einer Tischplatte.

Aber alles strebt zurück, nach den bewaldeten Hügeln, auf denen sie liegen, als seien sie die Mauer, hinter der sich alles bergen kann.

Und dann hören sie zum erstenmal das hohe Rauschen in der Luft, mit dem das Unsichtbare sich nähert. Plötzlich ist es da, ohne Anfang gleichsam, eilig aber doch von einer großartigen Ruhe, überlegend, als ob es lächelnd den Ort des Niederganges auswähle. Aber noch während sie atemlos lauschen, kommt eine böse Hast in dieses ruhige Schweben, ein heulendes Sichsammeln, Anspringen, Abwärtsstürzen, ein gurgelndes Niederbrechen, bei dem sie die Arme über den Helm heben, bis die Flammentrichter aufspritzen, mit geraden Wänden, über denen Erdstücke, Balken, Steine wirbeln, und die harten Schläge der Explosionen alles beenden, den Flug, den Ton, das Unsichtbare, und wieder nur die dunklen Trichter lautlos zu wandern beginnen, zwischen Himmel und Erde, wurzellos, gespenstisch.

Es ist näher als das vorige Mal. Einer der Trichter hat das Dorf gefaßt, und eine dunkelrote Flamme steigt schnell aus einem zerrissenen Giebel, gleitet den First entlang, springt von Ort zu Ort, bis unter einer sich wälzenden, schwärzlichen Wolke das ganze Dorf aufzubluten scheint, als habe das Unsichtbare eine Ader getroffen, die sich nun zu Tode verströme. Sie sehen Menschen laufen, zwischen die Häuser stürzen, auf das Feld, und von nun an ist es, als ob ihr ganzer Körper sich zum Gehör verdichte, einer leise bebenden Membran, die sich der Ferne entgegenspanne, um das hohe, anfangslose Rauschen zu vernehmen, das auf unsichtbaren Bahnen heranbrausen wird, um »das Seinige« zu suchen.

»Ruhig«, sagt Hasenbein und geht hinter ihren Füßen die Reihe entlang. »Ganz ruhig ,… es sind noch achthundert Meter ,…« Niemand dreht sich um, aber seine Stimme kommt ihnen verändert vor, eine theatralische Stimme, die mit Bewußtsein gehandhabt wird, als deklamiere sie ein Gedicht.

Inzwischen gehen die vier Trichter spazieren, mit einer höhnischen Einträchtigkeit, als ob sie Arm in Arm gingen. Sie lassen das Dorf in Frieden und tasten nach der Straße hinüber, torkeln gleichsam auf die Felder zurück und sind nach einer halben Stunde am Fuße der Hügel. Ein Wacholderstrauch segelt durch die Luft, und der Wind trägt ihnen einen brandigen, giftschwelenden Atem zu. Johannes sieht auf seine Armbanduhr. Gleichmäßig macht der Sekundenzeiger seine Runde, und Johannes sieht ihm zu wie einem Wesen aus einer anderen Welt. »Das gibt es also auch noch«, denkt er. Ein Käfer kriecht an einem Grashalm in die Höhe, ein graues, bescheidenes Geschöpf, und Johannes sieht sich auf dem Teppich in Luthers Zimmer über die Sammlungen gebeugt, während Luther am Flügel sitzt und eine stille Melodie wie eine Girlande durch den Raum sich spannt. Die Süße des Lebens scheint aus der nassen Erde unter seinem Gesicht aufzusteigen, mit still in sich ruhenden Bildern: der Scheitel seiner Mutter, Frau Lisas Mund, Regines Kinderarme. Bis das nächste Rauschen über den Waldstücken anhebt und sie erlöschen und nichts mehr da ist als das fieberhafte und besinnungslose Warten, gleich einem in die Erde gedrückten Tier, ob der Tod vorübergehen werde.

Und dann heult es zum erstenmal über sie hinweg, mit einem vorüber jagenden Druck, der ihre Gesichter in die Erde preßt, und zerreißt den Wald hinter ihnen mit vier knirschenden Schreien. Sie hören Äste und Erdstücke niederrauschen, und das Echo des Waldes springt entsetzt von Hügel zu Hügel. Gollimbek steht plötzlich aufrecht in seinem Schützenloch, die Arme mit gespreizten Händen von sich gestreckt, bereit, sich in jeden Abgrund zu stürzen, der sich vor ihm öffnet, wie ein gehetztes Tier, das keinen Ausweg findet. »Hinlegen!« brüllt Hasenbein. Und Gollimbek sinkt in sich zusammen, blind, taub, aber gehorsam, und liegt in seinem Loch mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht im Sande, während sein Gewehr wie ein selbständiges Wesen vor ihm auf der Deckung liegt, die Mündung unbeweglich nach dem Feinde gerichtet.

Es ist eine Hilfe für die anderen. Sie haben es alle gesehen, und sie haben alle das Gefühl der Scham, weil es jemand aus ihrer Gruppe ist. Weil es Gollimbek ist. Wenn es Oberüber gewesen wäre oder Percy, so würden sie alle aufgesprungen sein, bereit, mit ihm davonzustürzen, in einen Abgrund, über die Felder, bis in ihr heimatliches Haus. Aber da es Gollimbek ist, hat es eine entgegengesetzte Wirkung, und sie pressen die Lippen zusammen und starren unter dem Helmrand hervor in den grauen Himmel über den Feldern, der nun plötzlich böse, gefährlich, drohend geworden ist. Sie haben es noch nicht begriffen und werden es auch wohl nie begreifen, daß der Himmel sich so verändern kann, daß die Heimat von Vögeln, Wolken und Winden plötzlich zu einer Heimat des Todes geworden ist, und an dieser Veränderung ermessen sie am unwiderstehlichsten die Veränderung ihres Lebens.

Von nun an bricht es ohne Aufhören über sie herein, tastet wohl hin und wieder nach der Straße, nach den Feldern, noch einmal nach dem Dorf, aber kehrt immer wieder zu ihnen zurück, mit einer schrecklichen Regelmäßigkeit der Pausen, die man am Sekundenzeiger ablesen kann, die durch nichts zu verändern, durch nichts zu verhindern ist, gleich der Uhr eines Weltgerichts, deren Perpendikel brausend durch das Schweigen des Jüngsten Tages schneidet.

Nachmittags, als der Regen eben aufgehört hat, schlägt es zum erstenmal in den rechten Flügel. Sie können es nicht sehen, aber sie hören es an den schrecklichen Schreien, die von menschlichen Lippen brechen und die sie nie zuvor in ihrem Leben vernommen haben. Und sie sehen nun, daß am rechten Flügel etwas geschieht, als ob ein Faden gerissen sei, und die einzelnen Perlen stürzten nun nacheinander, immer schneller, ins Leere hinaus. Ganze Gruppen springen auf und stürzen den Hang nach rückwärts hinunter, ohne Gewehr, die Arme mit sinnlosen Gebärden von sich gestreckt. Man hört Kommandos, die wie unter stürzender Erde ersticken. Man hört einen Schuß, der hell und kalt durch den Waldraum schlägt, und man hört eine helle, schneidende Stimme, die sich ganz klar über die Dumpfheit fernen Lärmes erhebt: »Ihr Schweine!«

Es pflanzt sich fort bis zu ihrer Gruppe. Gollimbek ist wieder der erste, aber er hat kaum sein Schützenloch verlassen, als Oberüber bei ihm steht. Dann stellt er ihm ein Bein, drückt seinen Kopf wie den einer Katze in die Erde und brüllt: »Wickel dir deine Bauchbinden um die Löffel, Mensch!«

Sie können sich nicht helfen, sie müssen lachen. Zwar ist es ein nervöses Lachen, das ihren Lippen weh tut, aber doch befreit es von dem, was an dem Faden ihrer Perlen riß. Sie werden nicht aufspringen, sie werden nicht laufen, sie werden liegenbleiben, die Augen über die Deckung gerichtet, die Finger in die Erde gegraben, damit die Erde sie nicht loslasse, wenn die Kreatur in ihnen sie forttreibt. Denn sie fühlen, daß es die Kreatur ist, etwas was sich der Herrschaft des Geistes plötzlich, heimtückisch entwindet, wie ein Gefangener eine Unachtsamkeit seines Aufsehers wahrnimmt und mit einem Stoß und einem Sprung davoneilt. Aber sie wollen das nicht. Die Beharrlichkeit und Wachsamkeit erschöpft sie, sie fühlen, wie ihr Leben sich zusammenkrümmt, sobald es feierlich über den Feldern heranzurauschen beginnt. Sie fühlen einen bittren und leeren Geschmack im Munde, den faden Geschmack, den man empfindet, wenn man elektrisiert wird, der an Eisen erinnert und der wie ein fremdes Wesen im Munde liegt. Sie fühlen, daß sie Angst haben, eine graue, gestaltlose, nie gekannte Angst, etwas, das sie in zwei Wesen zerspaltet, ein würgendes und eines, das sich gegen die Erwürgung wehrt, und sie fühlen auch, daß sie in dieser Spaltung gemessen und gewogen werden, daß die Leerheit der Worte »Pflicht« und »Geist« und »Disziplin« sich nun mit einem Inhalt füllt wie ein Becher, den sie in zitternden Händen halten und den sie nicht verschütten dürfen, wenn sie nicht für ewig in die Schande stürzen wollen.

Um die Dämmerung wird das Feuer schwerer. Andere Batterien greifen ein, aber die unsichtbaren Hämmer schlagen nun in das Hintergelände, auf die Straße, in Dörfer, deren roter Schein das Land erhellt, und sie liegen wie auf einer Insel und warten auf die Brandung. Artillerie fährt hinter ihnen auf, fremde Kompagnien schieben sich hinter ihnen ein, und es scheint ihnen, als würden sie langsam einbezogen in den großen Gang des Krieges, wie Garben, deren Bund man löst und die langsam in die donnernde Maschine gleiten. Und langsam beginnt zum erstenmal die Stumpfheit über sie zu fallen, die die Begleiterin der Wiederholung ist, des Unaufhörlichen, des Unentrinnbaren, und die leise an die Schulstunden erinnert oder an die Martersitzungen beim Zahnarzt. Sie rauchen wieder, sie sprechen, und bei jeder neuen »Lage« beginnt Oberüber den Schlager seiner Jugendzeit durch seine Zahnlücke zu pfeifen: »Siehst du wohl, da kömmt er ,…« Megaï schläft, die Wange an den Kolben seines Gewehres gelehnt.

Am Abend soll eine Feldwache in das Dorf vorgeschickt werden, und sie melden sich freiwillig. Das heißt, Percy sagt: »Wir wollen das machen, Herr Unteroffizier«, und Hasenbein nickt ernst und mit stiller Würde. Sie essen aus einer Feldküche, die unter den Fichten steht, und melden sich dann bei dem einen ihrer Transportführer. Er gibt ihnen eine Reihe von Ermahnungen auf den Weg, daß ihrer aller Sicherheit von ihrer Wachsamkeit abhänge und so weiter. Aber Johannes hört nur die Worte. Er sieht in das Gesicht des Leutnants und sieht, daß es ein ganz anderes Gesicht geworden ist, schärfer, ernster, als habe der Regen des Tages eine unbemerkte Schminke abgewaschen und darunter sei nun das Bleibende zum Vorschein gekommen. Er sieht heimlich in die anderen Gesichter, und auch sie scheinen ihm verändert. »Sehe ich anders aus, Percy?« fragt er, als sie losgehen. Percy lächelt flüchtig. »Der Zivilist versinkt«, sagt er nur. Aber während des ganzen Weges fühlt Johannes dieses Wissen als ein trostvolles Glück in sich. Sie stolpern durch die schmutzigen Furchen des Ackers, sie frieren in ihren durchnäßten Uniformen, aber Johannes fühlt, daß er dem allen irgendwie überlegen ist, daß ein Sieg erkämpft ist, daß etwas Körperliches geschmolzen ist, weil der Geist härter gewesen ist als die Form. »Krieger sind wir geworden«, sagt er laut zu Klaus. »Ach mein Gott ,…«, erwidert Klaus. Es klingt nicht sehr überzeugend.

Um die Morgendämmerung ist es dann da. Sie haben einen Horchposten zu besetzen gehabt und eine Verbindungspatrouille zur zweiten Feldwache, die rechts von ihnen in den letzten Büschen steht. Sie haben es stillschweigend so geordnet, daß sie sich auf die einzelnen Paare verlassen können. Oberüber geht mit dem Täubchen, Percy mit Megaï, Johannes mit Klaus. Die beiden anderen sind nicht zu trennen, und sie hoffen, daß ihr Kommißbrot sie wachhalten wird. Johannes und Klaus kehren von der Nachbarfeldwache zurück. Sie bleiben zwischen den letzten Büschen stehen, bevor sie über das freie Feld zum Dorfe gehen müssen. Sie stehen regungslos und lauschen. Das Räderrollen auf der Straße ist verstummt, die Geschütze sind verstummt, ein verlassener Hund, der bis zur Mitternacht im Dorfe geheult hat, ist still geworden. Nur von den Büschen und Bäumen hinter ihnen fallen unaufhörlich die Tropfen zur Erde. Wo das welke Herbstlaub liegt, klopft es heimlich aus der Dunkelheit. Sie wissen, daß es die Tropfen sind, aber die ganzen zwei Stunden lang ist es ihnen, als tasteten viele Füße verstohlen durch den Wald, und sie werden das leise Zittern ihrer Hände und ihres Atems nicht los.

Das Feld vor ihnen ist von einem schmutzigen Grau gefleckt und unruhig von den letzten Schneeinseln auf dem dunklen Acker. Und auf einer dieser Schneeinseln sieht Johannes etwas, das bisher nicht dagewesen ist, zwei dunkle Flecke gleich schlafenden Tieren. Als er hinüberstarrt, ist es verschwunden. Er sieht hinter sich in das Dunkel des Waldes und läßt die ausgeruhten Augen langsam auf das Feld zurückgehen. Wieder ist es da, ganz deutlich, ganz unübersehbar. Es gibt keine Entfernung bei dem trüben Licht. Es kann am Horizont sein, es kann zu ihren Füßen sein. Er hebt die Hand, aber er legt sie nicht auf seines Kameraden Arm, sondern an dessen Lippen. Und dann deutet er hinaus auf die beiden dunklen Flecke. Er fühlt an einer Bewegung, daß Klaus sie sieht. Er legt den Sicherungsflügel seines Gewehres herum und wartet, bis Klaus dasselbe getan hat.

Sie stehen geduckt hinter einem breiten Wacholderbusch. Sie stehen so regungslos wie er, aber sie hören jeder des anderen Herzschlag. Die Tropfen fallen noch immer, und jeder einzelne stürzt in ihr Lauschen wie ein Stein. Ein leiser erster Wind geht über die Welt, und hinter ihm, wo er die Bäume angerührt hat, geht ein Zweites, Unsichtbares durch den Wald. Und dann richten die beiden schlafenden Tiere sich auf und nähern sich gebückt über das Feld. Sie hören die nasse Erde unter ihren Füßen seufzen, sie hören ein Klirren von Metall an Metall.

Das letzte, was Johannes vor der Entscheidung in sich aufnimmt, ist nicht das Bild der beiden Gestalten, Feld oder Dorf, sondern der dunkle, sanft geformte Umriß des Wacholderbusches, der mit unvorbereiteter Eindringlichkeit seine Seele ergreift und sich ganz plötzlich mit der Vorstellung des Lebens, eines süßen Reichtums, einer gesegneten Harmonie verbindet. »Wie schön das ist ,…«, denkt er. »Nur ein Busch ,… so schön und still ,…«

Und dann hebt er sein Gewehr und ruft: »Halt! Wer da?« Der Ruf zerreißt die ganze Nacht, das Schweigen, den Schlaf, den Frieden. Es ist Johannes, als würde er sich später zu verantworten haben für diesen Ruf, als gehe von dieser einsamen Menschenstimme die Zerstörung einer ganzen Welt aus, des Dorfes, des Waldes, als sei sie zu hören, soweit der Himmel über der Erde steht, und als stürze unter ihr ein gläserner Palast zusammen, den er absichtlich und freventlich zertrümmerte, der Palast eines göttlichen Schweigens.

Sie sehen, daß die beiden Gestalten zusammensinken, lang und flach an die Erde geschmiegt, wie Tiere, die sich vor dem Jäger verbergen. Noch einmal ruft Johannes, und dann bricht das rote Feuer aus der Mündung seines Gewehrs, aus dem Gewehr des kleinen Bahnmeistersohnes, das in den Himmel gerichtet scheint, aus zehn, hundert, tausend Gewehren, rechts und links von ihnen, vor ihnen, hinter ihnen. Als sei mit dem Abzug seines Gewehres der Abzug einer höllischen Maschine gelöst, die lautlos, regungslos eine ganze Nacht auf diese erlösende Bewegung gewartet habe und sich nun in einer Ekstase des Lärms, des Feuers, der Zerstörung überstürzend verströme.

Damit begann es, und es ruhte nicht bis zum nächsten Abend. Das Feuer schlug als Kette, als Inseln, als Flamme aus der Nacht. Geschütze erwachten, mürrisch, grollend, auf beiden Seiten, Schrapnells, die am Himmel aufsprangen wie Leuchtfeuer an unsichtbaren Türmen, Granaten, die mit Feuer aus der Erde brachen, heulende Bahnen, die über den Köpfen der Feldwachen einander begegneten, kreuzten, verließen. Und unter dem ehernen Gewölbe war unaufhörlich das leise, eilige Flüstern der Infanteriegeschosse, das ohne Abschluß und Ziel in der Nacht zu vergehen schien und dessen hastige, gleichsam aufmerksame Allgegenwart beunruhigend und bedrückend war, verstärkt durch den klagenden Gesang der Querschläger, die plötzlich aufweinten und verstört zwischen die Sterne zu steigen schienen.

Nach einiger Zeit – sie wissen nicht, ob es Minuten oder Stunden sind – kommt Percy von rückwärts durch die Büsche. Die Feldwache ziehe sich zurück, der Gegner sei links schon in ihrer Flanke. Wenn sie bis zur Helligkeit warteten, sei es aus. Sie verstehen das, sie empfinden es als eine Rettung, aber trotzdem zögert Johannes. Einer von den dunklen Flecken ist verschwunden, aber der andere liegt unbeweglich auf dem Schnee. Es ist schon so hell, daß man den Umriß seines Körpers erkennen kann. Er liegt auf dem Gesicht, die Arme ausgebreitet, und inmitten des Feuers, das unaufhörlich sich weiterfrißt, inmitten des zischenden, knatternden und dröhnenden Lärmes hat diese schlafende, unbewegliche Erscheinung etwas Unangemessenes, Bedrückendes, wie ein schweigendes Gesicht etwas Bedrückendes hat in einem Kreis lärmend bewegter Gesichter.

Johannes sieht Klaus an, und dieser nickt. Auch er sieht unruhig und scheu nach dem stillen Körper, der vor ihnen schläft, gerade vor ihnen, als gäbe es eine nicht zu leugnende Beziehung verantwortlicher Art zwischen ihnen.

Und dann drängt Percy, und sie gehen in Sprüngen zurück, gebeugt unter dem Flüstern, das sie begleitet und das mitunter zu einem harten Schlag sich verdichtet, unter dem die Rinde eines Baumes auseinanderspritzt oder ein Streifen im welken Laub aufstiebt, als fahre ein hastiges Messer zerreißend durch ein glattes Gewebe. Aber jedesmal, wenn sie sich hinwerfen, um Atem zu schöpfen, wendet Johannes sich um und versucht, zwischen den lose verstreuten Büschen den Blick auf das Feld freizubekommen und auf die regungslose Gestalt, die dort mit ihrem Gesicht auf dem schmutzigen Schnee liegt und auf dem kalten Kissen zu schlafen scheint. Jedesmal hofft er, daß sie sich aufgerichtet haben wird, um ihnen nachzusehen, oder doch verwundert in die Runde zu blicken, was das Feuer und der Lärm bedeuten. Aber es geschieht nicht, und Johannes weiß, daß es niemals geschehen wird.

Er weiß nachher nicht mehr viel von diesem Tage. Sie haben in ihren Schützenlöchern gelegen und geschossen. Sie haben Tote und Verwundete gehabt, und auch vor ihnen, in der braunen Reihe, sind Stille gewesen, die bei den Sprüngen nicht aufgestanden sind. Der Leutnant ist gekommen und hat ihn gelobt für seine Wachsamkeit, und Johannes hat sagen wollen: »Ja, aber einer von ihnen ,… dort auf dem weißen Schnee ,…« Aber er hat geschwiegen und hinuntergeblickt nach dem Dorf, das zu einem Haufen rauchenden Gebälks geworden ist. Und den ganzen Tag schleppt der Rauch sich träge über jenes schmutzige Feld und verhüllt alles, was dahinterliegt.

Am Abend räumen sie dann die Stellung, ganz lautlos, und nur ein paar Maschinengewehre bleiben zurück, deren Garben von Zeit zu Zeit durch die Nacht fegen.

Sie marschieren die ganze Nacht und noch einen Tag, und fallen dann in das Stroh einer Scheune. Es scheint ihnen, daß ihr Inneres ausgebrannt sei wie ein ehemals warmer, geschmückter und schöner Raum, und nur die Wände übriggeblieben seien, und dieses Gefühl der Wände ist das einzige, das sie immer gegenwärtig besitzen. Das Gefühl einer Hülle, die in allen Fugen und Gelenken auseinanderstrebt und schmerzend zusammengehalten wird durch irgend etwas, das sie nicht erkennen können: einen Befehl oder ihren Willen oder eine stumpfe Gewohnheit. Später nennen sie es das Kolonnengefühl. Es ist kein Licht in der Scheune, aber Johannes weiß, daß Klaus die Augen noch offen hat. Und daß sie beide, dem Schlaf der Erschöpfung zufallend wie ein Stein, mit der letzten nebelhaften Kraft ihres Vorstellungsvermögens das schmutzige Feld sehen, den hellen Schneefleck und mitten auf ihm die dunkle Gestalt mit den ausgebreiteten Armen.

Er möchte leise etwas fragen, etwas sprechen, mit Worten das Bild zudecken, aber er kann es nicht. Er kann es so wenig, wie er die dunkle Gestalt auf dem Felde mit Erde zudecken könnte.

Und das letzte vergleitende Bild seines Bewußtseins, bevor er einschläft, ist er selbst, wie er mit Klaus aus der Schule kommt, am ersten Tage, auf dem Heimweg. Ein neuer Schwamm hängt aus jedem kleinen Tornister, ihre Augen sind ernst und noch ein wenig verstört von dem Geschehen des Tages, aber in ihren Kindergesichtern steht doch schon die Gewißheit der Heimkehr, und so gehen sie nebeneinander, zwei kleine, unschuldige Krieger, aus der Wirrnis der Welt und ihres ersten Schlachtfeldes, in das Bleibende und Schützende ihres kleinen Friedens.

 ,

Auch aus der durchbluteten Erde steigt der Frühling.

Wenn Johannes und Klaus auf Horchposten sind, ist die ganze Nacht erfüllt von dem Rieseln des Schneewassers, von dem Lied der Frösche, von unbekanntem Vogelschrei. Ein leises Seufzen scheint unaufhörlich aus dem dunklen Boden zu steigen, und ab und zu hebt Johannes seine Füße und sieht auf seine Stiefel herab. Er weiß, daß es Wasser ist, braunes, undurchsichtiges Moorwasser, aber er kann nicht anders, weil er jedesmal glaubt, es könnte Blut sein. Dann schüttelt Klaus bekümmert seinen großen Kopf. »Es ist längst versunken«, sagt er flüsternd. »So viel Spalten sind in der Erde ,… bis tief unter die Wurzeln ,…« Geschütze grollen in der Ferne, und jedesmal tastet ein rötlicher Schein über den Horizont. Der Mond steht tief über dem Moor, und am linken Flügel rauscht ohne Unterlaß der Fluß, der das Eis des Winters hinausträgt aus dem wieder erwachten Land.

Die ganze Nacht wird geschossen, aber es sind immer nur einzelne Schüsse, hüben, drüben, die einsam über die Erde gehen. Aus Ängstlichkeit, aus Nervosität, aus Gewohnheit. »Aus Gram«, sagt Johannes. Und zwischen den Schüssen steht jedesmal das Schweigen auf, und man glaubt die Flügel des Friedens zu hören, die sich aus den Sternen niedersenken und wieder erschreckt sich aufwärts heben.

Sie stehen nun schon wie alte Soldaten in ihrem Postenloch, die Pfeife zwischen den Zähnen, die Augen gleichmütig aber wachsam nach drüben gerichtet. Aber was dort steht und wacht und jedes Geräusch prüfend, vergleichend, abwägend aufnimmt, ist nicht der ganze Mensch, ist nur der in einer abgerissenen Uniform verkleidete, soldatische Mensch. Und losgelöst von diesem, unbekleidet, unsoldatisch, steht der noch Unvergessene, der Mensch des Friedens, das Kind, kauert auf dem Rand ihres Postenloches, die Hände müßig gefaltet, das Gesicht zum Mond erhoben. Immer noch blüht seine Seele, noch unverschüttet, noch mit Wurzeln, die in die vergangene Erde reichen, zu Menschen, Gesprächen, Gedichten, zu einem gleichsam lauschenden Leben. Aber während der Soldat bei keinem der einzelnen Schüsse das Gesicht wendet, kaum die Augenbrauen hebt, wenn ein Querschläger von drüben traurig über das Moor singt, schrickt das Kind zusammen, verbirgt sich, entgleitet, bis die dunkle Pause wiederkommt und mit ihr das Gewesene, das Andere, das Verklärte.

Diese Spaltung des Menschen ist die herbe Frucht, die Johannes aus dem Winter mitgenommen hat. Sie sind noch immer in dem selben Land, und hinter ihren ertrinkenden Gräben liegt ein zerschossenes Dorf, von dem er nur den Klang, nicht den Namen behält, einen der traurigen, zeitlosen Klänge auf -ana oder -anka. Sie sind marschiert und haben geschossen, haben Dörfer gestürmt, verteidigt, geräumt, und Johannes weiß nun, wie es alles ist: Feuerschein über dunklen Dächern, über denen die Seele der Heimatlosen gleich einem Vogel zu taumeln scheint; Tod, der sie brüllend umgibt, und Tod, der schweigend über bleicher Abendebene steht; graue Gesichter auf weißem Schnee, die furchtbar fremd in den Himmel hinaufstarren, so verwirrt und verstört, daß sie vergessen haben, die Augen zu schließen; Straßen, die sinnlos durch das Land laufen; Schlaf, in den man aus Blut und Schmutz und Hunger hineinstürzt, und aus dem man erwacht zu etwas, das wie ein laufendes Band durch die trüben Tage gleitet.

Und immer nebenher läuft der andere Mensch, das Kind, das dies alles nicht möchte, das sich zurückbiegt mit großen erschreckten Augen wie an der Hand eines großen, gewissenlosen Bruders, der es mitschleppt zu einem Anblick der Trunkenheit, der Unzucht, der blutigen Folter. Da ist Percy, der das Gesicht des Kindes mit einem Tuche bedeckt, da ist Klaus, der das Kind um Vergebung bittet und es weinend mit sich schleppt, da ist Megaï, der nur Kind ist, das den großen Bruder verloren hat und nun entsetzt in der Verruchtheit der Großen steht. Aber da ist niemand, der in diesem allen aufgeht, ganz ohne Bruch und Rest, und wenn sie marschieren – sie wissen nicht wohin – und wenn sie anhalten, in eine Stellung geworfen werden – sie wissen nicht, wozu –, kommt es jedesmal über jeden einzelnen von ihnen, dieses gleichsam kollektive Gefühl, das sie das Kolonnengefühl nennen, das sie verflicht mit hundert anderen, aber das sie doch wurzellos macht, unsicher, namenlos, weil sie jeder nur ein Teil sind, ein Nenner, dessen Zähler die Kolonne ist, die Formation, die Gefechtsstärke. Sie werden nach Gewehren gezählt, nicht nach Namen, Intelligenzen, sittlichen Kräften. Man rechnet mit den Kilometern ihrer Füße, mit den Patronen ihrer Gewehre; das andere ist nur Träger, Transportmittel, nicht in Rechnung zu stellen, nicht zu messen oder zu werten.

Und Johannes fühlt auch mit einem leisen Erschrecken, daß auf der Tabelle der Lebensgüter Verschiebungen eintreten. Daß es eine Frage des Glücks oder Unglücks ist, ob sie am Abend ein paar trockene Balken, einen Zaun finden werden, um den kleinen Ofen zu heizen. Daß es für viele Stunden von ausschlaggebender Bedeutung ist, ob sie Erbsen oder Graupen empfangen, wichtiger als Briefe, wichtiger als Klang von Worten, der sich langsam erblühend zu einem Verse formt. Daß die Läuse, die fremd und widerwärtig über den erschöpften Körper kriechen, nicht so wichtig sind wie das Stroh, aus dem sie heraufkommen. Und es ist ihm, als gehe er wie ein Kind immer weiter fort von dem vertrauten Bereich der kindlichen Schwelle, und als könnte es sein, daß er niemals mehr zurückfinden werde, verirrt in der Wildnis des Primitiven. Dann geht er aus ihrer Erdhöhle hinaus, hinter die Gräben, liegt verborgen zwischen den jungen Fichten und sieht die Primeln an, die dort unwirklich, zart und leuchtend über der braunen Erde stehen. Und er versucht zu erkennen, ob sie noch dasselbe sind für ihn wie früher, legt die Hand zwischen ihre Stengel und wartet, ob die gelben Glockenträger vor seiner Hand zurückweichen, über das braune Gras zu einem anderen Ort des Friedens gehen werden. Und wenn es nicht geschieht, wird sein Herz leichter, obwohl er über seine Torheit lächelt.

Sie kennen einander nun in der Gruppe, kennen ihren Gefechtswert, ihre Kameradschaft, ihre Empfindlichkeiten. Sie wissen, daß man auf Gollimbek jede Minute aufpassen muß, daß Megaï immer tut, was befohlen wird, schießt, stürmt, marschiert, aber gleichsam mit blinden Augen. Er schießt irgendwohin, nur von sich weg, und fährt fort zu schießen, auch wenn das Feld leer wie eine Tischplatte ist. Er marschiert, gehorsam, auf Vordermann, links-rechts, links-rechts. Er würde auch in einen Teich marschieren, in einen Abgrund, wenn er in der Marschrichtung läge. Aber seine Augen sind blind, als wenn er sie geblendet hätte, um nichts zu sehen, und sein Blick ist über alles Sichtbare hinaus auf eine ferne Verheißung gerichtet, die ihn aufrecht hält wie einen Märtyrer.

Schröder hat am ersten Weihnachtstage einen Schienbeinschuß bekommen. Zuerst hat er gebrüllt, dann, als das Wort »Heimatschuß« fiel, ist er plötzlich still geworden und hat leise in sich hineingegrinst. »Ihr Dreckschweine ,…«, hat er mit höhnischem Mitleid gesagt, als er am Abend zurückgehumpelt ist. Es war das Weihnachtsgeschenk für die Gruppe, daß er fort war.

»Wenn wir heil zurückkommen«, sagt Klaus leise, »will ich bei Pinnow in die Lehre gehen und Gärtner werden, Johannes. Ich will nur noch mit Blumen zu tun haben nach all diesem, weißt du.«

»Pinnow ,… mein Gott ,… denke, wie die Stiefmütterchen jetzt blühen werden ,… und sie wird ihre kurze Pfeife rauchen und an uns denken ,…«

»Luther wird bei ihr sein ,…«

»Ja ,… es ist wie auf einem Stern, weißt du ,… so weit wie auf einem Stern ,…«

In den feindlichen Gräben singt jemand, wie plötzlich angestoßen von einer Welle des Heimwehs, eine langsame, traurige, hoffnungslose Melodie. Stimmen fallen ein, ganz leise, wie ein gebeugter Chor, aber immer schwingt die Melodie des einzelnen sich über sie hinaus. Es ist ein Lied, das nicht fortschreitet, sondern gleichsam im Kreise geht, sich wiederholend wie Speichen eines Rades, das Lied einer Mühle, die nur aufrauscht, wenn Wind über die Erde geht, aber die ihren Gesang immer in sich trägt, auch in der Ruhe, immer bereit gleich der Träne in einem menschlichen Auge.

Die Frösche sind verstummt, und das Schießen ist still geworden, und in den leeren Raum wächst das Lied wie ein Baum, der die Blicke aller Seelen auf sich sammelt und der in einem hohen Winde rauscht. Immer denkt man, daß es nun zu Ende sei, und immer hebt es sich von neuem auf, weil es soviel zu sagen hat. Und die Liebe beider Fronten umfängt die unsichtbaren Sänger, und es ist, als nährte das Lied sich von dieser unsichtbaren Liebe und könnte kein Ende finden, weil die Liebe kein Ende findet.

Als es dann endlich schweigt, ist der ganze Raum von Trauer erfüllt, wie eine Kirche von Gott erfüllt ist, sobald die Orgel verstummt. Es ist nun im nachhallenden Schweigen, als hätte nicht ein einzelner gesungen, nicht viele einzelne, sondern als hätte die Seele der beiden Heere gesungen, aller Wachenden, Spähenden und aller Schlafenden, aller Verwundeten und aller Toten, als hätte sie ihr geheimstes Lied gesungen, ohne Absicht, ohne Zuhörer, ganz für sich allein, wie ein Mensch im Dunkeln singt, wenn er am Fenster steht und nichts mehr weiß von Gegenwart und Sein.

Und dann beginnen die Frösche wieder zu rufen, und am rechten Flügel knallt ein Schuß, als ob eine Türe zugeschlagen werde hinter einer abgelaufenen Vergangenheit. »Hast du den Seufzer gehört?« fragt Klaus leise. »Aus allen Gräben kam er ,… ein einziger großer Seufzer.«

Johannes nickt. »Ich könnte mir denken«, sagt er nach einer Weile, »daß nach solch einem Lied der Krieg aufhört. Daß er einfach zu Ende ist. Daß die Leute aus den Gräben steigen und sich um das Lied versammeln. Daß sie die Gewehre einfach liegen lassen und sich dort ins Gras setzen, den Kopf in die Hände gestützt, und zuhören ,… ich denke, daß man das Singen in der Nacht bald verbieten wird.«

Dann kommt ihre Ablösung, Oberüber und Gollimbek. Sie hören schon von weitem, wie sie bei jedem Schritt die Stiefel aus der grundlosen Erde ziehen.

»War 'ne feine Abschiedsarie, was?« sagt Oberüber. »Der Küchenbulle sagt, daß die große Bagage packt. Soll wieder mal losgehen.«

Sie bereden es leise, ohne viel Aufregung. Schwere Artillerie ist angekommen, und das scheint ihnen die Sache zu entscheiden. Bei aller Ruhe der Worte fühlen sie doch alle das leise Rieseln durch ihren Körper, das jede Veränderung begleitet, jedes Hinaustreten aus einem Hause, auch wenn das Haus ein ertrinkendes Erdloch ist. »Die Dampfwalze soll einen entscheidenden Schlag bekommen«, flüstert das Täubchen. Sie sind nun schon gewohnt an seine schriftdeutsche Korrektheit und lächeln nur, ohne die Lippen zu bewegen. »Daß sie dir man keine Bügelfalte plättet!« erwidert Oberüber.

Dann sehen sie noch eine Weile schweigend über den Rand ihres Postenloches. Der Mond hängt rot und schwer über der Erde, und ein unsichtbarer Nachtvogel scheint mit hohem Klagelaut um ihn zu kreisen. Langsam kriecht die drückende Traurigkeit des fremden Landes von allen Seiten über das Moor.

»Ja ,…«, sagt Johannes endlich, »dann macht es also gut ,…« Und sie stolpern durch den engen, wassergefüllten Graben in die Stellung zurück.

Sie haben eine Lage Fichtenstangen über ihrer Höhle und darüber eine Handbreit Erde. Sie haben einen kleinen Ofen, einen Tisch, ein paar Holzklötze zum Sitzen und ein Strohlager. Es gibt noch Kerzen im Überfluß und viele Liebesgaben. Lehmann, der Ersatz für Schröder, ein kleiner Goldschmied, der wie eine Schießbudenfigur aussieht, hat bereits sechs Paar Pulswärmer und das Doppelte an Strümpfen.

Ein Licht brennt auf dem Tisch. Lorenz kocht Kaffee auf dem Ofen, nur für sich allein, und Lehmann kniet in seiner Ecke, mit dem Gesicht zur Wand, und kramt lautlos in seinen Paketen. Er ist immer in einer Ecke, er scheint immer an einem Speicher zu bauen, und wenn er sich umsieht, schnell, über die linke Schulter hinweg, sieht er wie eine dunkle Ratte aus, die Junge trägt. Denn er hat an einem kümmerlichen Leibe einen seltsamen spitzen Bauch, der fremd und unnatürlich wie ein bekleidetes Geschwür erscheint. Oberüber nennt ihn die »Gulaschpistole«.

Percy und Megaï, die die nächste Wache haben, schlafen. Megaï zusammengekrümmt, das Gesicht unter den Armen verborgen, Percy gerade, auf dem Rücken, die Hände auf der Brust gefaltet, wie ein Ritter in einem Sarge, ein unsichtbares Schwert in den Händen.

Sie schnallen ihre Koppel ab und ziehen die nassen Stiefel aus. Es ist verboten, sich auszuziehen. Dann liegen sie in dem Stroh, das nach großen, halbleeren Scheunen riecht, den Tornister unter dem Kopf, und rauchen noch eine Zigarette, eine Konservenbüchse in der Hand, um die Asche aufzufangen. Lehmann raschelt leise in seiner Ecke, und von draußen klingt ab und zu der Knall eines fernen Schusses herein, ganz gedämpft, als sei es hinter der Welt. Es ist schläfrig und warm, wie in einem guten Grabe. Die Gedanken wandern noch ein wenig, von der Kerze, um die ein Falter braust, nach Hause, zu dem Vormarsch, von dem die Rede ist, zu dem Postenloch, in dem die beiden nun stehen, zu dem Lied, das immer noch unter dem Mond klingt, ein Lied vom Ural wahrscheinlich, vom Wolgaufer oder den sibirischen Wäldern.

Und dann schlafen sie ein, ohne Träume, wie die Toten. Und wie die Toten erwachen sie auch. Es ist eine Posaune, die sie weckt. Es ist der Einschlag einer Granate oder das Herabstürzen eines Kochgeschirrs oder der Klang eines Wortes, der wie ein Pfeil die Nebel des Schlafes spaltet, bis sein Schaft im Tor des Bewußtseins zittert. Dann erwachen sie wie in einem Sarge. Wasser tropft von der Decke in den dämmernden Raum, und dort, wo Gollimbek an dem Fußende seines Lagers eine leere Konservenbüchse aufgestellt hat, klingt jeder Tropfen hohl und schmerzlich und mit quälender Regelmäßigkeit auf das angesammelte Wasser herunter.

Sie starren in das graue Licht hinein und fühlen den Druck der dumpfen, raumlosen Luft auf ihrer Brust. Ja, so wird das Jüngste Gericht sein. Nebel steht in der kleinen Fensteröffnung. Eine leere Welt muß draußen sein, mit tausend Särgen wie dem ihrigen, und statt des Engels brausen die ehernen Vögel unter dem unsichtbaren Himmel dahin, die nach den Deckeln der Grüfte zielen, um sie aufzureißen zum letzten Gang.

Und dann gähnen sie. Die leere Gebärde, die der Leere der Welt entspricht. Sie werden Kaffee trinken und ein bißchen ihre Gewehre reinigen, werden Posten stehen und auf das Mittagessen warten. Auf der Latrine wird es wieder Parolen geben: nach Frankreich, nach den Karpathen ,… Angriff ,… nein, Ruhestellung ,… Friedensschluß, Heimkehr. Niemand wird daran glauben, aber sie werden darüber reden, lange und ausführlich, weil das Schweigen noch bedrückender ist als das zwecklose Reden. Und dann werden sie irgendwo in der Sonne sitzen und die Läuse aus ihren Hemden heraussuchen, und wenn sie Zeit haben, wird Oberüber wieder seine Einsegnungsuhr öffnen und eine Laus auf den Sekundenzeiger setzen, und sie werden wieder wetten, wie lange sie sich auf ihrem Karussell halten wird.

Ab und zu versucht Hasenbein, befehlsgemäß eine Instruktionsstunde einzulegen. Sein Gesicht ist noch immer feierlich, besonders zu den »Akademikern«, und wenn er lächelt, geschieht es auf eine milde, zurückhaltende Weise. Es ist gar keine Gelegenheit zur Würde, aber er behält sie an sich wie sein Koppel. Er ist immer »umgeschnallt«. Sie wissen nichts von seiner Welt, ob er Kinder hat oder nicht, was er zu Hause treiben mag, ob er an Gott glaubt oder an Bebel. Er ist von solcher Gemessenheit, daß es schon schwer fällt, ihn anzureden, und sie können sich gar nicht vorstellen, daß er ohne Koppel schläft. Er schikaniert sie nicht, er sorgt für sie, wie es sich gehört. Aber er ist wie ein Vormundschaftsrichter, und sie haben das Gefühl, als werde jedes Wort protokolliert, das sie sprechen.

Sie sitzen vor ihrer Höhle, kauen an den jungen Grashalmen und antworten verdrießlich. Bis Oberüber sagt, daß es doch eigentlich keinen Zweck habe. »Wollen lieber Holz besorgen, Korp'ral«, sagt er wie ein Vater, der ein Kinderspiel beiseite legt. Hasenbein, leichtverletzt, ist trotzdem ohne Widerspruch einverstanden, und so schlendern sie langsam nach hinten, die Hände in den Taschen, horchen ein bißchen auf den hohen Gang ferner Granaten, die sie nicht unmittelbar angehen, und folgen gehorsam jeder Richtungsänderung Oberübers, der alle Vorgesetzten und »windigen Ecken« zu vermeiden weiß. Er findet immer einen Balken, ein paar Zaunpfähle. Sie tragen es zusammen, an einen sonnigen Platz, der still zwischen Büschen oder jungen Birken liegt, und dann bleiben sie da, auf der warmen Erde, kauen die bittren Kiefernnadeln und sprechen ohne Eile oder Erregung von dem, was sein wird. Das Täubchen muß aufpassen, weil es den empfindlichsten Sinn für Gefahr hat.

»Mit uns können se det machen«, sagt Oberüber pessimistisch. »Jahrelang, von ein' Graben in' andern.«

»Das bleibt nicht so«, erwidert Percy ruhig.

Die anderen sehen sie an und versuchen, aus ihren Gesichtern abzulesen, wer recht habe. Aber es strengt sie zu sehr an. Die Sonne glüht in dem stillen Kessel der Lichtung, Tauben rufen im Hochwald hinter dem zerschossenen Dorf, und es dauert nicht lange, bis ihnen die Augen zufallen. Gollimbek steht ängstlich auf und späht nun noch angestrengter nach allen Seiten, ob keine Gefahr sich nähere.

Sie haben nie Streit miteinander. Sie sind der unerschütterliche Kern der Gruppe, Johannes, Percy, Klaus, Oberüber. Sie sind gleich vier Palisaden eines Blockhauses, einer letzten Zuflucht, die an den Ecken ineinandergefügt sind. Die anderen sind einbegriffen in den Schutz ihrer Wände, selbst Hasenbein, aber ohne eigene Kraft und Geltung. Sie sind Kreise um den Atomkern, ohne eigene Gesetzlichkeit. Wenn sie ausbrechen wollen, hält Oberüber eine kleine Rede, ohne Pathos, durch seine Zahnlücke gleichsam, und mitunter greift er zu, wie auf den Hügeln beim ersten Gefecht. Seine Autorität liegt in seiner Menschlichkeit. Unter allen Einseitigen ist er der Allseitige, von keiner Schule, keinem Beruf, keiner Standestradition gebildet, sondern vom Leben geformt, zu einer unbekümmerten Sicherheit geformt, aus der eine lächelnde Weisheit erblüht. Er ist Möbelkutscher und Landstreicher gewesen, Stauer und Bollwerkspucker, Zirkusbudenringer und Hausierer. Er ist ein Handlanger alles Lebens gewesen, und er ist der einzige unter ihnen, der wie ein »Fechtbruder« durch den Krieg geht, mit der Heiterkeit der Landstraße, über der Sonnenschein und Regen wechseln. Um die Mittagszeit beladen sie sich mit ihrem Balken und begeben sich nach ihrer Höhle zurück. Das Essen kommt, die Post kommt, Kaffee, der Abend, und Parolen kommen. Sie haben wenig Verluste, aber die Ruhe freut sie nicht sehr. Der Sinn und Zweck des Krieges, ihres aus der Bahn geschleuderten Daseins scheint sich ihnen zu verlieren, in den nassen Gräben zu ertrinken. Der Krieg ist wie das Moor vor ihnen. Jeder Weg hinein ist gefährlich, aber das Stehenbleiben ist noch gefährlicher. Der Boden des Daseins senkt sich. Blasen steigen auf, trübes Wasser sammelt sich, und langsam sinkt und verengt sich der Horizont. Noch ist ihnen in ihrer Harmlosigkeit der Friede das Ziel des Krieges, nicht der Krieg selbst, und jeder ruhige Tag, jedes Verharrenbleiben auf derselben Stelle scheint ihnen das Ziel hinauszurücken in eine Ferne, die mit doppelten Opfern eingeholt werden muß.

Lehmann kommt immer spät mit dem Essen, weil er bis zum Schluß wartet, um sich sein zweites Kochgeschirr füllen zu lassen. Niemand versteht, wo die doppelte »Wucht« bei ihm bleibt. »Die Bagage soll Marschbefehl bekommen haben«, erzählt er. »Wir werden wo anders eingesetzt, um anzugreifen. Es scheint eine sichere Tatsache zu sein.« Er spricht so gewählt wie Gollimbek, und in seinem dunklen Vollbart scheint die Sorge zu nisten. Das Täubchen läßt den Löffel sinken und starrt ihn an. »Bei diesen grundlosen Wegeverhältnissen ,…« seufzt es.

»Auch große Kanonen sind angekommen«, fährt Lehmann bekümmert fort.

Selbst Oberüber verwundert sich über diese Ausdrucksweise. »Mensch, das 'n Soldat!« sagt er. »Große Kanonen!« Und er kratzt kopfschüttelnd den Rest aus seinem Kochgeschirr.

Am Abend ist es sicher, und in der nächsten Nacht werden sie abgelöst. Sie haben ihre Sachen gepackt, stehen in den Gräben und warten, mit der verdrießlichen Nervosität, die jeder Veränderung vorausgeht, und die so lange anhält, bis das Kommende klar, wenn auch bedrückend, aus dem Nebel sich löst. Der Mond steht über dem Moor, und die einsame Traurigkeit der Landschaft fließt bis in die Gräben hinein, wo sie im kalten Wasser stehen und nach hinten horchen, ob die Ablösung noch nicht komme. Das Gefühl der Heimatlosigkeit fällt wieder über die grauen Gestalten, der Rechtlosigkeit: das Kolonnengefühl. Nun erkennen sie, daß ihre Höhle doch eine Heimat gewesen ist, in der der einzelne ein kleines Eigentum an Raum, an Selbständigkeit, an Einsamkeit gehabt hat. Jetzt gibt es wieder nur Vordermann und Nebenmann, Kolonne der Namenlosen, die in ein unbekanntes Schicksal geworfen wird.

Sie möchten, daß jetzt drüben wieder gesungen werde, daß ein Menschliches an Klang, Sehnsucht und Leid dieses traurige Land überbrücke und sie gleichsam hineinbeziehe in ein großes Menschheitsschicksal. Aber nur ein Schuß knallt hin und wieder, ein Querschläger singt in die Ewigkeit hinaus, und die Frösche schwatzen, eintönig, verschlafen, als bestehe gar keine Beziehung mehr zwischen den Menschen und der Erde. Und dieses Fortrinnen ihrer Gespräche, durch keinen Schuß gehemmt, ist wie eine bedrückende Gleichgültigkeit, sondert die Lauschenden gleichsam aus von der gemeinsamen Erde und weist sie in eine andere Welt, eine losgelöste, ausgeschiedene, die nun wie eine Schatteninsel in einer Strömung zu treiben beginnt, lautlos, von Wirbeln begleitet, ins Unermessene hinaus.

Es ist Landsturm, der sie ablöst. Bärtige, zum Teil ergraute Gesichter, die sorgenvoll sich in der unbekannten Fremde umsehen. »Alles in Butter, Kameraden«, sagt Oberüber tröstend. »Beinah Heimat ,… achthundert Meter Sumpf ,… bloß für Leute mit Schwimmhäuten.«

Und dann hängen sie Tornister und Gewehre um und stolpern nach hinten. Sie sammeln sich am Rande des Hochwaldes, und während sie auf die beiden anderen Züge warten, fühlen sie, wenn auch nicht immer mit klarer Erkenntnis, daß sich wiederholt, was sie jedesmal mit der gleichen Verwunderung erfüllt: daß die Welt der letzten Wochen versinkt, kaum daß sie ihr den Rücken gekehrt haben, die Örtlichkeit, die Ereignisse, der seelische Inhalt. Sie sind wie ein Kinderspielzeug, das abgelaufen ist und nun neu aufgezogen und auf ein neues Geleise gesetzt wird ,… Sie fühlen, daß sie im wahren Sinne des Wortes »eingesetzt« werden.

Aus dem Walde steigt der schwere Geruch einer auferstehenden Welt, der Erde, der Gräser, der Nadeln, ein ganz und gar anderer Geruch als der ihrer Gräben und Erdhöhlen, und während ihre Brust sich mit diesem neuen Atem erfüllt, versinkt alles Gewesene, und ihre Augen tasten schon um den neuen Horizont, fertig und bereit zum neuen Kapitel, das sich vor ihnen aufschlägt.

Und alles dieses erzeugt in ihnen ein dumpfes Gefühl, daß man so, widerstandslos, Kapitel an Kapitel in ihnen fügen werde, ein nie aufhörendes Buch, in dem der einzelne ein Buchstabe ist, sinnlos und bedeutungslos, der Sinn und Bedeutung erst durch Verknüpfung gewinnt, durch Zusammenhänge, je nachdem die Hand des Setzers sie ordnet und fügt.

Dann tauchen sie langsam aus der Nacht herauf, graue, gebeugte Schatten mit Helm und Gewehr, der Zug der Namenlosen, der sich langsam zur Kolonne ordnet, zu einer Richtung, zu einer schweigenden Bereitschaft. »Merkwürdig«, denkt Johannes, »wie sie gar nicht fühlen, daß der Tod bei ihnen ist ,… dieser graue Begleiter, der mit jeder Kolonne marschiert, immer da, immer wach, stumm wie ein Wächter bei einem Transport ,… immer wartend, immer bereit ,… wieviel Tode marschieren wohl in dieser Nacht in das Morgen hinein und grüßen einander stumm, wenn zwei Kolonnen sich treffen ,…« Er sieht sich um, aber alle Gesichter in dem schwachen Mondlicht sehen einander gleich, vorwärtsgerichtet, müde, auf den Befehl zum Antreten wartend.

Und dann marschieren sie. Vorne reitet der Hauptmann, ein junger Reservehauptmann, von dem sie nicht viel mehr als den Namen wissen. Sie hören den Hufschlag des Pferdes und sehen mitunter das Mondlicht auf dem Eisen der Kandare aufblitzen. Mehr ist nicht zu erkennen. Sie haben einen Führer, der Weg und Pausen und Ziel bestimmt, aber es gibt keine Verbindung zwischen ihm und ihnen als das Wort, eine Bewegung des Armes, einen unbekannten Entschluß, der dort vorne in die Erscheinung tritt und mechanisch sich durch die Kolonne fortpflanzt, bis sie schwenkt, oder aufrückt, oder erstarrt.

Sie marschieren. Der Mond steht über dem nebligen Land, und Vögel rufen über glänzenden Wäldern. Sie kommen durch Dörfer, in denen es nach Brand und Verwesung riecht. Schornsteine ragen wie Säulen niedergebrochener Tempel, und mitunter leuchtet ein Fenster im spiegelnden Licht, aber hinter dem Fenster steht kein Haus, sondern nur der grenzenlose Himmelsraum. Sie haben das Gefühl, daß Gespenster zwischen den Trümmern kauern könnten, die Hände gefaltet, die leeren Augen auf die Kolonne gerichtet. Dumpfer hallt der Marschtritt zwischen Mauerresten und verweht wieder, sobald sie das offene Feld erreichen. Nur das leise Klirren wandert mit der Kolonne mit, von den Kochgeschirren, dem Schanzzeug, den Tragriemen der Gewehre. Und der dumpfe Geruch, der über allen Körpern steht, der Geruch der Armut, der Mühe, der Last.

Sie marschieren. Sie singen nicht, sie sind nun sparsam mit Worten. Das Neue ist schon wieder alt geworden: die Landschaft, die Bewegung, das Ziel. Die Stumpfheit der Märsche hat sie wieder ergriffen, der Druck des Tornisters, des Koppels, des Gewehres. Sie setzen einen Fuß vor den anderen, und vor ihren Augen schwanken die Helmspitzen eintönig und hoffnungslos auf und ab.

Plötzlich beginnt vorne eine junge, tapfere Stimme zu singen. »O Deutschland, hoch in Ehren ,…« Ganz allein, ein wenig krampfhaft und fast sichtbar auf den Einsatz der anderen wartend, auf Unterstützung, Gesellschaft, Trost. Aber niemand fällt ein, nicht eine einzige Stimme. Und diese einsame, gleichsam wurzellose Melodie hat etwas Gespenstisches, wie sie sich aus der grauen, düster schweigenden Kolonne in die keusche Zugeschlossenheit der Nacht hinaufhebt, eine laute und fast peinliche Lästerung, wie Klaviermusik in einem Totenzimmer.

Alle Gesichter sind unbehaglich, verstimmt nach vorn gerichtet, und als ob sie es fühlte, wird die Stimme matt, leer, von einer nur mühsam bewahrten Sicherheit, fällt in sich zusammen und endet wie in einer verhüllten Scham. Und selbst der Nachklang scheint sich hastig zu verbergen, damit nicht einmal die Erinnerung an etwas Kindisches und Unpassendes zurückbleibe.

»Idiot«, murmelt Oberüber, und damit ist es vorbei.

Vor jedem Dorf hoffen sie, daß der Marsch zu Ende sein wird, daß ein dunkler Raum mit verfaultem Stroh auf ihre Müdigkeit wartet. Aber sie marschieren. Und je weiter sie nach hinten kommen, desto lebendiger wird die Nacht, erfüllt von jenem heimlichen aber nach einer Richtung drängenden Leben, das sie schon kennen und das vor jedem Angriff wie ein leiser Krampf über die Erde läuft. Die Nacht scheint voller Straßen zu sein, und von jeder dieser Straßen dringt leise, wie mit Tüchern zugedeckt, das Knarren von Rädern, das leise Dröhnen von Erz, das verstohlene Rauschen von Kolonnen, die nach einem dunklen Ziel streben; die nichts wissen, aber deren Führer wissen; die gehorsam, schweigend, in schweren Gedanken einen Fuß vor den anderen setzen, um dahin zu gelangen, wo der Tod geduldig wartet, den Kopf in die Hände gestützt, die leeren Augen ihnen entgegengerichtet.

Plötzlich – es dämmert schon – fliegt ein leises Wort von Gruppe zu Gruppe. Niemand weiß, wo solche Worte entstehen, wer sie zuerst gesprochen hat, aus welchem Brunnen dieser erste sie geschöpft hat. Aber immer an einer bestimmten Stelle der Ungewißheit ist es da, gleich einer Vision, die aus dem Nebel tritt, und während alle Parolen des Grabens wohl äußerlich erörtert, aber innerlich beiseite geschoben und verachtet werden, besitzt ein solches Wort auf dem Marsche immer eine unantastbare Gewißheit, ordnet die Kolonne nun erst gleichsam ein in das Schicksal eines Frontabschnittes, formt an der Haltung, an den Gesichtern und erzeugt die Ruhe und Gelassenheit der Wissenden, die den Nebel steigen sehen und ein bekanntes Land erblicken, mit Weg und Richtzeichen, von denen das Kommende klar abzulesen ist. »Wolhynien«, sagt das Wort. »Mittags verladen ,…«

Und damit ist es in der Ordnung. Der Tornister drückt nicht mehr, die Straße scheint fest und eben zu sein. Sie blättern in Gedanken ihren Schulatlas um. Es ist ihnen, als müsse es dort Flüsse geben, Sümpfe und große Wälder, dunkel tönende Namen und eine weite Ferne, die schon an Asien grenzt.

»Wolhynien ,…«, denkt Johannes, und das Wort klingt ihm traurig und vertraut wie das Wort »Jonathan« aus seiner Kinderzeit. »Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan ,…« Es ist, als könnte Jonathan dort zu Hause sein, in dem fernen, dunklen Land, durch das die Ströme rinnen.

Bei der nächsten Ruhepause geht hinter ihnen die Sonne auf. Dunkelrot fließt sie über einen geneigten Wald, erfüllt die Wasserlachen auf den Wegen, färbt den Stahl der Gewehrpyramiden, reißt das Haus der Erde auf, die Schatten, den Horizont, und fließt bis in die Brunnen ihres durchfrorenen, ermüdeten, übernächtigten Lebens mit der stillen Wärme des Tages, des Lichtes, des Daseins. Lerchen heben sich von allen Feldern auf, der Kiebitz taumelt in den Morgenflammen, und in allen Gesichtern erwacht das Lächeln des Lebens, das noch Zeit hat, viel Zeit, bevor eine künftige Sonne über ihr Schlachtfeld strahlen wird.

»Wolhynien, kleiner Klaus«, sagt Johannes lächelnd und legt den Kopf auf seinen Tornister, »Wolhynien ,… das ist am Ende der Welt ,… dort werden wir schlafen ,… bei Welarun ,…«


 << zurück weiter >>