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6

Zuerst war es so, daß Johannes die gesamte Last des Krieges mit sich fortschleppte, eine Last des Bewußtseins, die die Fahrt im Lazarettzug und die ersten Wochen der Operationen überdauerte. Das Gefühl einer unaufhörlich bebenden Erde, einer flammenerfüllten Raumlosigkeit, einer stumpfen Wehrlosigkeit gegen Grauen, Blut und Tod. Es gab Tage, in denen er aufgegeben wurde, und Tage, die mit einer leisen Hoffnung erfüllt waren. Aber er selbst wußte nichts davon. Er lag in der Einsamkeit des Sterbens, und seine Hände gruben sich in die weiße Decke seines Lagers, wie in die Kreide jenes Landes, mit dem ihn tausend schmerzende Fäden der Erinnerung verknüpften.

Die Genesung begann damit, daß aus dieser raumlosen Erde Fenster emporstiegen, hohe Fenster mit weißen Vorhängen, hinter denen eine helle, unerschütterte, nicht glühende Luft stand. Daß eine hohe Decke über den Augen war, die nicht bröckelte, nicht schwankte, als hätte der Friede Gottes sie über ein schmerzenloses Haus gebaut. Daß die Hände trocken waren und kein Metall zwischen ihnen lag. Daß mitunter ein Gesicht sich über ihn beugte, jenseits von Befehl, Aufrüttelung und Grauen, ein Gesicht des Trostes, das in sich ruhte, wie eine Blume in ihrer Schönheit ruht. Und daß die Klage verstummte, die durch Tage und Nächte und Wochen »Oh!« gerufen hatte. Einen langgezogenen, sich hebenden und fallenden Laut des Leidens, aus irgendeiner Ecke des Raumes, wie von einem Gekreuzigten, der dort an der Wand hing, vergessen, verschollen, in einer letzten stöhnenden Zwiesprache mit seinem Tode.

Und danach stieg langsam alles andere empor: die lange Reihe der Betten, die hageren Gesichter, die sich nach der aufgehenden Türe wandten, Ärzte, Schwestern, Träger, die etwas Verhülltes auf einer Bahre hinaustrugen, Krücken, Gespräche, die ihn langsam mit einem Inhalt erfüllten wie ein leeres Gefäß, Vergangenheiten, die wie stützende Balken sich wieder unter die Trümmer seines Daseins schoben, bis er wieder am Strande seines Lebens war, hinausgeschleudert aus einem zurückweichenden Meere, von Blut und Tränen gleichsam trocknend, und den Blick hinausrichtete aus der Umklammerung des Fiebers, der Ohnmacht, der Unterwelt.

»Bist du es, Lisa?« fragte er mit geschlossenen Augen.

»Ich heiße Agnete«, erwiderte eine leise Stimme, fern wie aus einem anderen Hause. »Schwester Agnete ,…«

Er öffnete die Augen und sah in ihr junges Gesicht, in dem die Lippen zu lächeln versuchten. »Du bist ja ein Kind«, sagte er verwundert. »Was willst du unter den Sterbenden?«

»Hier stirbt niemand«, antwortete sie, indes ihre Augen zu erkennen versuchten, ob er noch im Fieber spreche. »Und auch Sie werden nun gesund werden ,…«

Er legte seine Fingerspitzen auf ihre warme Hand, als taste er langsam über das neue Leben hin. »Ist schon Friede?« fragte er leise.

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Wozu denn leben?« Und er schloß die Augen wieder. Bis sein bitterer Mund sich entspannte und der Schlaf, schnell wie ein Tuch, wieder über sein müdes Bewußtsein fiel.

Und dann, als er wieder erwachte, war alles wieder da: er selbst und die Gruppe, der Krieg und die flüchtige Geborgenheit dieses Hauses, die Gesamtheit eines Lebensgefühls, schwer wie eine Traube, aber in ihrer lastenden Reife nur lose an nährender Ranke hängend. Noch war die Fähigkeit des Denkens erloschen, die Furchtlosigkeit klaren Überschauens, die Kühle der Vergleiche, das Bittere des Schließens. Noch setzte sich, kindlich und willenlos, das Dasein der Seele aus Vorstellungen zusammen, aus Bildern, die wieder zerrannen, aus Tönen und Farben, die Herrschaft über das Wehrlose besaßen.

»Weshalb trägt der Stabsarzt Sporen?« dachte Johannes viele Stunden. »Er reitet doch nicht die Treppe hinauf, und es klirrt doch auch so, wenn er hereinkommt? Weshalb müssen sie uns immer mit Symbolen quälen? Weshalb ist es nicht Vorschrift, daß sie alle Blumen tragen oder irgend etwas Unschuldiges, das auf der Erde zu Hause ist?« Und er malte sich mit geschlossenen Augen aus, daß alle Gewaltigen des Lazaretts Schwänze zu tragen hätten, lange, geringelte, kurzbehaarte Meerkatzenschwänze. Die Sanitäter hatten nur ein armes und kümmerliches Stummelschwänzchen, aber der der Stabsärzte wurde von zwei Ordonnanzen getragen und konnte Wellen schlagen im Zorn. Wenn aber der Oberstabsarzt kam, so fuhren vier Sanitäter ein kleines Wäglein hinter ihm her, und darauf, auf einem blaßgrünen Samtkissen, lag die nervöse Quaste eines majestätischen Schweifes.

Er bat um Papier und Bleistifte, machte ein paar Skizzen davon und zeigte sie Schwester Agnete, die entsetzt auf die karikierten Gesichter starrte. Er lächelte, nahm ihr das Blatt aus der Hand und zeichnete auf die Rückseite ihre Gestalt, wie sie zerbrochene Rosenstämme wieder aufband und die Rosen hatten die Gesichter der Verwundeten aus dem Saal. Über ihrem Scheitel aber schimmerte ein Heiligenreif.

Tränen stürzten aus ihren erschütterten Augen, aber Johannes schob das Blatt schon zur Seite und drehte den Kopf zur Wand. »Und unterdes sterben sie dort draußen«, sagte er in plötzlich ihn überstürzender Finsterkeit.

Schwester Agnete schrieb an seine Kompagnie und bekam Antwort: Percy und Lehmann waren die einzigen der Gruppe, die noch da waren. Lorenz war verschollen. Die anderen waren im Lazarett. Klaus lebte noch, und Oberüber sollte in diesen Tagen wieder bei der Kompagnie eintreffen. Sie hatten schwere Verluste gehabt und alle Offiziere verloren. Außerdem war ein Eisernes Kreuz für Johannes beigelegt.

Sie las ihm den Brief vor, ehe der Stabsarzt kam. »Percy mit Lehmann ,…«, murmelte er. »Der Arme ,… und er lebt ,… der kleine Klaus lebt ohne Beine ,… sie werden ihn über die Bühne heben wie eine Kasperlefigur ,… da wird man nicht sehen, daß er keine Beine hat ,…«

»Schwester«, sagte er laut, »das kann niemand gutmachen ,… das Leben für das Vaterland ,… meinetwegen ,… aber die Beine? Nein, das kann niemand gutmachen ,… nicht einmal Gott verlangt die Beine.«

Sie konnte ihn nicht trösten, denn der Stabsarzt kam. Er kam zuerst zu Johannes' Bett, räusperte sich, sprach ein paar Worte von Vaterland, Tapferkeit und Opfern an Gut und Blut und legte »im Namen Seiner Majestät, unseres obersten Kriegsherrn« das Kreuz auf das weiße Bettuch.

Johannes sah ihn an, aus einer finsteren Abwesenheit, wie einen Boten, der vergeblich bei Gott gewesen war. »Freuen Sie sich denn gar nicht?« fragte der Stabsarzt mit einem leisen Tadel. »Und die Beine?« erwiderte Johannes. »Beine ,… was für Beine?« Die Schwester flüsterte ihm einige Worte zu. »Nun«, sagte er verlegen, »das ,… das müssen Sie nicht so schwer nehmen ,… außerdem gibt es vorzügliche Prothesen ,… ja ,…«

»Prothesen Gottes«, erwiderte Johannes und kehrte sich zur Wand. Es war eine peinliche Szene, und der Stabsarzt brüllte ohne Veranlassung einen der Verwundeten an, der auf einer Krücke herangekommen war, um der feierlichen Handlung zuzusehen.

Später nahm Schwester Agnete das Kreuz und legte es leise in die Nachttischschublade. Sie nahm dazu ein samtgefüttertes Kästchen, in dem sie ein Armband aufbewahrte. Johannes fragte nie mehr danach.

Als er aufstehen durfte und in seinem gestreiften Krankenkittel zwecklos durch die Korridore wanderte, ermaß er erst die Summe des Leidens, das das graue Haus umschloß. Dort draußen hatte der Tod wie ein Hagel in das lebendige Feld geschlagen, und die Wildheit des Sterbens hatte die Qual des Sterbens verschleiert. Aber hier war die Tenne des Todes, wo die Garben gelöst wurden und die letzten Körner aus hilflosen Ähren fielen. Hier waren Menschen ohne Glieder, ohne Augen, ohne Mund, zusammengeschrumpfte Bündel des Lebens, die eine blutige Faust auf den Kehrichthaufen geworfen hatte. Hier war das Allerheilige des Krieges, und er sah, daß Ärzte, Schwestern, Fremde nicht einmal die Schuhe reinigten, bevor sie es betraten. Hier war die Vielheit, noch schrecklicher als an der Front, und mit einer Handbewegung wischte das Schicksal ganze Gruppen in die Totenkammer.

Hier erfuhr Johannes, daß der Krieg die Mütter kreuzigte, und er erfuhr zum erstenmal die Scham des Lebens, wenn die erloschenen Augen einer Frau über die Betten tasteten, aus denen das Leben sie anblickte, ein verstümmeltes, mühsam zusammengebundenes Leben, aber doch ein Leben.

Obwohl es verboten war, stahl er sich mitunter um die Abenddämmerung in die Totenkammer. Hier lagen sie auf nackten Holzgerüsten, von einem groben Laken verhüllt, in Kälte, Dunkelheit und Schweigen. Er blieb an die Wand gelehnt stehen und blickte auf die Unerbittlichkeit der Stirnen, von denen Hoffnung wie Grauen abgefallen war. Er sah die Summe aller ihrer Tage und Nächte und die Vielheit aller Hände, die an ihnen, demütig oder leidenschaftlich, gearbeitet hatten. Und er sah das Gewaltsame ihres Sterbens, den Riß der Willkür durch das Antlitz der Natur, und ein leises Grauen stieg unter den kalten Laken empor, das Grauen der Gesetzlosigkeit, unter dem die Erde schwankte.

Er erinnerte sich des toten Antlitzes seines Schulkameraden und des Adels unnahbarer Majestät, der es verklärt hatte. Aber hier war keine Majestät. Hier war die düstere Zerbrochenheit des Opfers, und in seinem Hauch war das Leben nichts als eine Kugel auf einer gläsernen Scheibe, die nach Sturz und Zersplitterung rollte. Und in dem lautlosen Schweigen der Kammer vernahm er plötzlich durch alle unbewegten Wände hindurch die leisen Schmerzenslaute des großen Hauses, Stöhnen und ersterbende Rufe, die doch nicht sterben konnten und die furchtbare Gleichförmigkeit eines sich drehenden Rades hatten, das an einer bestimmten und unveränderlich wiederkehrenden Stelle seines Kreises einen klagenden, brüchigen, hoffnungslosen Ton erzeugt. Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen, mit der unbekümmerten Härte der Lebenden, denen die toten Dinge gehorchten, und mitunter stieg eine leise singende Stimme eine ferne Treppe hinauf oder hinunter, die Stimme einer blonden Schwester, die sich von den Sterbenden gelöst hatte, wie der Wind sich aus einem dunklen Walde löst.

Und dies alles ging über die Stirnen der Toten hin, ohne sie zu verändern oder auch nur zu berühren, blieb im Raum und erfüllte ihn, so daß die Lager der Toten immer mehr in sich zusammenzufrieren schienen, als seien sie zu Unrecht Inhaber ihrer schmalen Plätze und als drängten sie sich immer mehr zusammen wie Arme bei einem Schauspiel der Reichen.

Einmal öffnete Schwester Agnete die Tür, schattenhaft in ihrem dunklen, schmalen Kleide. Sie erschrak vor ihm, als sei er von einem der Holzgestelle aufgestanden, aber dann erkannte sie, ohne zu fragen, weshalb er dort stand. »Ich habe um Ihr Leben gerungen, so viele Nächte, und nun werfen Sie fort, was meine Hände zusammengesetzt haben.«

Er sah von der Seite auf ihre schmale Gestalt, die so fremd in dem dunklen Raum stand wie Regines Gestalt in der Werkstatt des Sargtischlers. Er hörte ihre Worte kaum, aber er empfand mit dem Instinkt seines zerbröckelnden Daseins die noch nicht zerstörte Kraft ihres Lebens, eines Lebens, das Schlaf und Tränen und Mitleid an die Erscheinung des Krieges hingegeben hatte, aber dessen innerste Blüte noch nicht zerstört war, nicht vom Blute zerfressen, nicht von der Angst, nicht vom Haß. In der furchtbaren Einsamkeit der Totenkammer, in der er nicht ein Gast, ein Zuschauer war, sondern ein Zugehöriger, der kraft seiner Eintrittskarte ein bißchen früher gekommen war, um den künftigen Schauplatz ein wenig anzusehen, empfand er ihre Gestalt wie einen Engel der Erlösung, eine Botin Gottes, die allein imstande war, über die brechende Brücke zurückzuführen, und als er seine Hände nach ihr ausstreckte, verwunderte es ihn nicht, daß die Botin Gottes sie ergriff und sich an sein Herz ziehen ließ, an seinen Körper, an den wankenden Rest seines Lebens, der das Blut eines anderen Lebens verlangte, um sich mit ihm zu erfüllen, sich an ihm wieder zu erwärmen, nachdem er Blut und Wärme und Leben verströmt hatte auf jenen Feldern, auf denen der Tod umging.

Als er ihre Lippen küßte, geschah es nicht mit dem zitternden Genuß der Vergangenheit, der ein Überfluß der Gnade war. Hier war ein Becher für den Verdurstenden, hier war noch einmal eine flüchtige, aber unzweifelhafte Sicherheit des Lebens, und inmitten der schweigenden Gestalten auf den dunklen Holzgestellen hielt er noch einmal die Verheißung des Daseins in seinen Armen, das was stärker war als die Gewißheit des Todes, was das Grauen des Raumes überwand, ob auch die Zukunft schon hinter den Wänden wartete, unausweichlich und unentrinnbar.

»Liebe mich!« flüsterte er ebenso heimlich. »Wärme mich ,… noch einmal, ehe ich dort liegen muß ,…«

Er fühlte sie erschauern unter seinen Worten, sich an ihn klammern, als taste auch nach ihrem jungen Leben die Hand, die das Antlitz dieses Raumes formte. Aber während er ihren Atem trank, fühlte er gleichzeitig die hoffnungslose Bitterkeit der Erkenntnis, daß er nichts davon würde mitnehmen können in die verfallenen Gräber jener Kraterlandschaft, nichts als eine verwehte Erinnerung, wie die Erinnerung an einen Traum. »Zum Tode verurteilt«, dachte er, während er in ihren warmen Lippen sich gleichsam verbarg. »Und auch sie weiß es ,… aber es graut sie nicht vor mir, nicht einmal in diesem Raume meiner Zukunft ,…«

Es war ein karges Glück in der Welt der Aufsicht, der Ordnung, der Totenkaserne, die sie umschloß. Sie stahlen es aus den Räumen des Verbotenen, vor den hungrigen Augen der Verwundeten, vor dem Spähen der anderen Schwestern, dem mißtrauischen Neid der Ärzte. In dem Strom der Namenlosen, der die Uferlinie zwischen Leben und Tod zerbröckelte, der Tag und Nacht auch über die Treppen, durch die Säle dieses Hauses floß, war auch das Weib und seine Liebe namenlos geworden, eine Funktion des Geschlechts, das am Körperlichen hing, und hinter der Name, Seele, Einzelwesen verschwand. Etwas Raubtierhaftes erfüllte auch diese Arena des Todes, ging in Blicken, Seufzern und Gesprächen hinter der Gestalt jeder Schwester her und warf den erbarmungslosen Schimmer des Krieges auch über die Zärtlichkeit der Liebe, warf das hastige Gefühl einer Beute über jedes gewonnene Wort, jeden eroberten Blick und rückte jede Stunde der Liebe dicht an den Rand des Todes, in das Bewußtsein des schrecklich Vergänglichen, morgen vielleicht schon Verlorenen.

Auch Johannes entging ihm nicht ganz. Er fragte nicht nach dem Namen seiner Geliebten, nicht nach ihrem Vaterhaus und ihren Kinderspielen. Denn nichts davon würde bleiben, nichts davon als ein heimlicher Besitz seine Hände füllen. Nur ihr schmales Antlitz blieb von der Nacht bis an den Morgen, wenn es zwischen den weißen Betten im Saal erschien, ihr blondes, schlichtes Haar, das ihn umhüllte, wenn er es löste, die Schmalheit ihrer Glieder, nun verborgen in der dunklen Tracht, aber ihm bekannt und sich vielmals verschenkend, wenn er es forderte. Das Lächeln blieb, das immer ein wenig scheue Lächeln eines Kindes vor den Krankenbetten der Großen, und die sanfte Beugung des Kopfes vor den Fragen, Wünschen und Schmerzen der Verwundeten.

Immer war das törichte bittere Gefühl des Entgleitens in diesen Stunden, des Teilhabens aller an ihrem Dasein, der Schaubühne des Krieges, über die das gesunde Leben gleich einer Hostie wandelte, bereit und gebunden, sich allen Lippen zum Abendmahl zu schenken. Und doch blieb, ihm allein zugehörig, das Erröten ihrer Wangen, wenn sie sich über seinen Verband beugte und sein plötzlich aufgeschlagener Blick mit der stillen Sicherheit des Wissens durch ihr Antlitz sich bis an ihre Seele drängte, sie umfing und sich aus ihr mit dem Glück der Erinnerung tränkte. Doch blieb, ihm allein sichtbar, das leise Erschauern ihres Körpers, wenn er, indes sie den Verband wechselte, seine Fingerspitzen an ihre Brust lehnte und sie das Blut ihrer Körper gleichsam tauschten.

Aber doch war es eine andere Liebe als die des vergangenen Lebens. Der Rausch des Besitzes war brennender, weil das Gefühl des Besitzlosen niemals wich, des zwischen Leben und Tod noch einmal sich Erfüllenden, das kein Haus besaß, keinen Feierabend, keinen Namen und keine Zukunft. In jeder Stunde des Glückes, ja in jeder Berührung der nacheinander verlangenden Lippen konnte das Ende hineinbrechen, der Befehl, die Aussendung in den Tod. Jeder Schritt, der draußen über die Korridore ging, konnte der Schritt des Boten sein, der das Gewebe zerriß, jedes Wort, das auf der Treppe erklang, konnte das Wort des Endes sein, das schon die Kette um seinen Körper schlang, indes sie noch ineinander versunken waren und ihr Atem sich noch mischte, konnte ihn herausreißen aus ihrem Atem, ihren Küssen, der Hingabe ihrer Glieder, und sie zurücklassen, einsam, verglühend, während das Schicksal ihn fortschleuderte aus den Schauern der Schöpfung in die eisige Kälte des Todes.

Doch war es dem ersten Gang in den Frühling vorbehalten, ihm die Entwurzelung seines Daseins klarer zu offenbaren als das monatelange Grübeln in dem Haus der Sterbenden und wieder zum Sterben Bereiteten. Er ging mit Agnete vor die Tore der Stadt, in den nahen Wald, an dessen Rand die Himmelsschlüssel blühten. Er ging auf einen Stock gestützt, weil ein leichter Schwindel ihn noch mitunter überfiel, und schon in den Straßen erkannte er, daß die Erde ihm fremd geworden war. Daß er sie nicht ohne Beziehung zu dem anzuschauen vermochte, was ein Jahr lang durch seine Seele gegangen war, daß Häuser, Giebel, Hecken und Torwege sich mechanisch einordneten in die Vorstellung des Kampfes, der Verteidigung, der Zuflucht. Alle diese unwissenden, still in sich ruhenden Dinge der Welt waren wissend geworden gleich ihm, waren ihm schweigend verbunden durch das gleiche Geheimnis, die gleiche Schuld, das gleiche Leiden, so daß er sie anblickte gleich dem Gesicht einer Frau am Morgen, mit der das Wissen um das Geschehnis der Nacht ihn unlöslich verband.

Es war ihm, als sei es am besten, umzukehren, ohne Zögern, und in das zurückzugehen, was ihm nun an Heimat verblieben war: das graue Haus, die schweigenden Säle, die große Gleichförmigkeit der Betten, der Gespräche, der Gesichter. Aber er kehrte nicht um, weil er hoffte, daß es vor den Toren anders sein würde, daß das Feld, die Wolken, der Wald ihn wieder aufnehmen würden in ihr schweigendes und unberührtes Sein.

Doch sie nahmen ihn nicht auf. Sie schlossen sich zu und ließen ihn vorübergehn wie einen Schatten über eine Wand. Es geschah nichts Sichtbares an Widerstand, an Verstoßung oder Fluch. Die Vögel sangen wie sonst, die dunklen Kronen rauschten wie ehemals. Aber er hörte ihnen zu wie in einem Konzert. Sie sangen außer ihm, nicht in seinem Blut. Die Fäden waren zerschnitten, und es war wie in einem Traum, der ihn gelöst hatte aus den Gesetzen der Verbundenheit, in dem man fliegen oder ohne Kopf gehen kann, aber in dem doch die dumpfe Erinnerung geblieben ist, daß es einmal anders gewesen ist.

»Welarun ist tot«, sagte er laut. Er saß auf einem Baumstumpf in einer Lichtung und sah mit leeren und traurigen Augen über das Gras hinweg. Die gelben Primeln standen um seine Füße, aber ihre Glocken waren stumm, wenn der Wind über sie ging, und sie waren ihm wie gemalte Blumen in einem Bild, das in der Sonne vor ihm stand. Und in seinen Augen begann der hohe Stengel einer Glockenblume zu schwanken, am Ausgang einer Höhle, in der der kleine General gestorben war, der von seinem Sohn erzählte, bevor die Schatten über sein Antlitz fielen.

Er sah Agnete an und sah, daß sie zu Hause war, wo man ihn verstoßen hatte. Daß ihre Augen sich mit Sonne füllten und das Gras lebendig war unter ihrer Hand. Daß sie der Welt des Lebens angehörte, in der das Blut im behüteten Gefäß sank und stieg, ohne sich zu verströmen in eine tote Erde und über die Fremdheit eines finsteren Altars. Und eine kalte Verlassenheit fiel über ihn und das Bewußtsein, daß er wie ein Kind einem Zauber entflohen war für eine kurze Zeit, aber daß dort, hinter dem Walde, die dunkle Gestalt sich ihm lächelnd näherte, die alles wußte und alles sah und nur den Stab zu heben brauchte, damit er gehorsam wieder in den Bann zurückkehre, der ihn nicht entlassen, sondern nur spielend beurlaubt hatte für eine kurze Frist.

»Johannes«, sagte Agnete und legte die Wange in seine Hand.

Er streichelte über ihr Haar, aber er sah sie nicht an. »Einen Knaben mußt du dir suchen«, sagte er versunken, »für deine Liebe und dein Blut. Einen jungen Knaben, der zu jung ist für den Krieg, der noch mit Bällen spielt, wenn du es erlaubst ,… wir sind zu alt, viel zu alt ,… wir gehören nicht uns, sondern einem fremden Reich, und wenn es ruft, müssen wir zurück ,…«

Er fühlte ihre Tränen in der Fläche seiner Hand und schüttelte den Kopf. »Du darfst nicht weinen«, sagte er. »Nur die Mütter dürfen weinen ,… Sie haben über einem Abgrund geboren und knien nun an seinem Rand. Aber du hast noch nicht geboren, du hast nur empfangen, und die Empfängnis darf nicht weinen ,…«

Sie hob ihr Gesicht zu ihm auf.

»So laß mich eine Mutter werden, damit ich weinen darf.«

Langsam kehrte er mit seinen Augen zu ihr zurück und verbarg sich in dem Glanz der Liebe, der ihn umfing. »Eine Mutter muß ein Haus haben und ein Stück Brot«, sagte er leise. »Aber wir haben nichts als dies graue Kleid ,… Und ich bin es ja, den du nähren und wärmen mußt. Du hast keine Zeit zu einem Kind, verstehst du? Ich brauche ja all dein Blut, ich allein, damit ich wieder dorthin gehen kann, wo sie unser Blut trinken ,…«

»Ich werde Zeit haben«, flüsterte sie, »viel Zeit, wenn du wieder fort bist ,…«

Er schüttelte finster den Kopf. »Auch wenn ich fort bin, werde ich von deinem Blute leben, verstehst du das nicht? Von dem Hauch der Erinnerung, der mir bleiben wird. Jede Minute des Stilleseins und der Nächte, wenn der Tod meiner müde wird und mit den andern spielen will, werde ich bei dir sein und aus deiner Liebe trinken ,… ein Gespenst des Lebens werde ich wieder sein wie all die grauen Millionen, ein Gespenst, das umgeht im Garten des Lebens ,… nein, einen jungen Knaben mußt du dir suchen, keinen Feldhauptmann wie Urias ,… Kennst du die Geschichte von Urias und Bathseba?«

Sie weinte stumm in seine Hand, ohne zu antworten. Aber langsam begannen die Tränen das Starre seiner Form zu schmelzen, begannen sie ihm trostvoller und dauernder zu erscheinen als ihre Liebe, und in seiner geöffneten Hand schien er noch einmal den spärlichen Rest aus dem Wasser des Lebens zu halten, das ihm verschüttet worden war, als die Hand des Krieges mit harter Gebärde ihn hinausgestoßen hatte aus den Trümmern der Kindheit.

»Ja, weine«, sagte er in erwachender Dankbarkeit. »Wir wissen nicht mehr, was uns helfen soll. Gott will es nicht, und die Könige wollen es nicht. Aber vielleicht werden eure Tränen helfen, denn ihr wollt, daß es zu Ende sei. Weil ihr lieben wollt, um ein Kind an eurer Brust zu tragen. Ihr liebt den Helden, das ist wahr, den Ritter, den Eroberer, der den Glanz des Unbesieglichen auf seiner Stirne trägt. Aber ihr liebt den Zweikampf, das Turnier, in dem die Speere um euren Preis brechen. Nicht das Schlachthaus, das Blutbespritzte. Ihr liebt den Tod als einen dunklen Ritter auf dunklem Pferde, aber nicht den Tod als laufendes Band. Ihr wollt lieben, vielleicht mit einem Schauer der Angst, aber nicht mit dem Grauen vor der Allgegenwart des Todes ,… Und wenn sie weinen, überall auf der Erde, die ein Kind an ihrer Brust tragen wollen, vielleicht verlöschen sie die Flamme, die uns verbrennt. Vielleicht ist es das einzige, was uns helfen kann: eure Tränen ,…«

Die Schatten der Gräser glitten über seine Hand, und die Lichtung war erfüllt von den Gerüchen der Erde wie eine sich erwärmende Schale, in der die Kräuter der Heilung sich entfalten. Eine frühe Drossel begann tief im Walde zu singen, so wie sie in seiner Kindheit gesungen hatte, unverändert, als seien Jahre, Krieg und Sterben ein draußen vorüberziehender Strom, der das ewige Gleichmaß nicht berührt. Er sah die Mooshütte vor seinen Augen und Frau Lisas fromm sich verschenkendes Gesicht, und es war ihm, als kreise das Rad seines Lebens unverändert um seine stille Achse, als sei das Leben doch das Ewige und der Krieg und der Tod das Vergängliche, gleich dem Staub, der um die Speichen stand. Und wiewohl er fühlte, daß dies nicht die letzte Wahrheit sein konnte, daß eine Wertung dieser Art gegen das Gesetz des Gleichgewichts verstieß, beugte er doch seine Lippen in Agnetes Haar und hielt seine Hände um das Leben gefaltet, solange es ihm zu eigen war.

»Weißt du, was man von den Tieren des Waldes erzählt?« fragte er, ihr Gesicht zu sich aufhebend. »Man sagt, daß zu den Zeiten ihrer Liebe sie das Gesetz dieser Liebe erfüllen, auch wenn die tödliche Kugel sie schon getroffen habe. Und dann erst sterben sie ,… Wir sind geneigt, davor zu erschrecken und uns davon abzuwenden als vor einer wilden Erscheinungsform der Natur, aber vielleicht wissen sie mehr von den Urkräften der Schöpfung als wir ,…«

Er zog sie zu sich empor, und wieder verblaßte in ihren Küssen für eine kurze Frist das Gespenst, das auf der anderen Seite des Lebens stand, unbeweglich, aber mit der mahnend gehobenen Hand, die das Zeichen der Verbundenheit machte, das niemandem verständlich war als der Bruderschaft des Todes.

Und als sie sich in der Dämmerung am Rande der Stadt trennten, war es wieder da, am Ende der schwach erleuchteten Straße, über den dunkelnden Giebeln der Häuser: die schweigende Mahnung, die alles gesehen hatte, von der ersten Berührung der Lippen bis zum wehen Rausch der Vereinigung, die dazu geschwiegen hatte, wie sie jetzt schwieg, aber deren Allgegenwart unentrinnbar war wie die Augen Gottes.

»Wenn es das letzte Mal gewesen sein sollte«, sagte Johannes, »dann würde es wie ein Testament sein ,… und wenn nicht ,… alle Testamente haben sie umgestoßen ,… wo ist unser letzter Wille ,…?«

Und dann ging er die Straße entlang zu seinem Lazarett, und sein Stock klang wie ein fremder und unsichtbarer Begleiter neben ihm auf dem Pflaster, als klinge auch in ihm die dumpfe Mahnung aus der allgegenwärtigen Ferne.

Als Johannes den Urlaubsschein über drei Wochen in seinen Händen hielt, erschrak er wie über eine Urteilsverkündigung. Das Lazarett hatte etwas gleichsam Ewiges an sich, wie die Fieberkurven über den Betten. Es war unvorstellbar, daß es einmal keine Verwundeten mehr geben könnte, keine verhüllten Bahren, keine Totenkammer. Daß die ferne Mühle einmal aufhören könnte zu mahlen. Und es schien möglich, sich wie ein Korn zu verbergen in den trüben Gängen und Sälen dieses Hauses. Aber nun war ihm eine Frist gesetzt, und hinter der Frist war es zu Ende: das stille Bett mit der Fiebertafel, die Blume auf seinem Nachttisch, Agnetes weiche und reine Hand, die zur Liebkosung und zum Frieden geschaffen war. Alles das würde verwehen, erlöschen, würde begraben werden unter den Trümmern des Kommenden wie die Feuerstätte eines Hauses unter Schutt und Gebälk, würde sterben und in der Erinnerung liegen wie in einem Sarge, kalt, erstarrt, unwiederbringlich.

Und dann fürchtete er sich vor seiner Mutter. Nicht daß sie ihn als einen Helden empfangen und in jedem seiner Worte, in jeder seiner Bewegungen das ruhende Heldentum erwarten würde. Aber seit sie das Korn aus der Ähre zum Abschied miteinander gegessen hatten, erschien der Urlaub vom Tode ihm als etwas Widernatürliches, als eine Verletzung und Aufhebung der Grundgesetze der Erde, als das beschämte Eingeständnis eines Zuviel an Geste und Pathos.

Und er fürchtete sich vor dem Versinken in ihrer Liebe, vor der Heimlichkeit ihrer Blicke, die noch einmal um ihn gleiten würden, bevor es »zu spät« sei, vor dem Umherwandeln unter ihren Augen als ein Gezeichneter, dem alles erlaubt ist, weil man weiß, daß die Zeit sich bald erfüllen wird, in der jede Gelegenheit zur Erlaubnis ausgelöscht sein wird. Er fühlte die Fäden der Vergangenheit lose in sich hängen und schwanken, wie die zerstörten Fäden eines Spinngewebes, und er fürchtete sich, sie wieder anzuknüpfen und eine Brücke des Zusammenhangs durch das Zusammenhanglose zu bauen. Von dem raumlos Schwebenden seines Daseins schien der Sturz in den Tod ihm leichter als der Sturz in das Leben. Er sehnte sich nach Oberübers zerfaltetem Gesicht, nach der Ruhe und Weisheit seines Duldens, nach dem umfangenden Gestütztwerden durch die Gruppe, wie ein einsamer Stein, der sich aus einem brüderlichen Gewölbe verloren hat. »Sie haben uns so schwach gemacht«, dachte er, »daß wir nur zu mehreren leben können ,… nur die Gruppe kann leben, nicht der einzelne ,…« Aber er wußte auch, daß er nicht ausweichen durfte, auch nicht dem Urlaub vom Tode.

Er kam um die Abendzeit an, ohne sich angemeldet zu haben. Er stieg auf dem Bahnhof der Siedlung aus. Er sah den Bahnmeister Wirtulla zum Gepäckwagen gehen, so müde, als gehe er auf den zerrissenen Beinen seines Sohnes, und wich ihm aus, um nichts sagen zu brauchen, wie es mit Klaus gewesen sei. Er sah die Straße zwischen den kleinen Häusern, die Wand des Fichtenwaldes und Zerrgiebels Haus, in dem er geboren worden war. Er stand davor, sah auf die Gartentür, vor der der Wassermann nach ihm gerufen hatte, die Kellerfenster, hinter denen das Schreckliche geschehen war, und das Gefühl einer furchtbaren Fremdheit inmitten allen Lebens fiel aus Dächern und Wolken und fremden Stimmen auf ihn hernieder ,… »Sie haben uns getötet«, dachte er, »sie haben den Boden unter unseren Füßen fortgezogen und alles Gewesene zu einem Traum gemacht ,… niemals werden wir das Kind wiederfinden, das wir gewesen sind, und sie haben den Schleier der Maja vor alle Dinge gehängt ,… ich bin ein Soldat, der hier steht und auf fremde Häuser blickt, ein ausgelöschter Mensch, der nicht leuchtet, sondern auf den ein anderes Licht fällt ,…« Und eine schreckliche Angst begann ihn zu erfüllen, daß es mit seiner Mutter ebenso sein könnte, daß er auf sie blicken könnte wie auf dieses Haus seiner Kindheit, in dem sie ihn geboren hatte. Er suchte nach ihrem Gesicht, nach ihrem dunklen Scheitel und der traurigen Güte ihrer Augen und ihres Mundes, aber die grauen Bilder schoben sich dazwischen, die seine Seele ausfüllten gegen seinen Willen: das tote Antlitz Hasenbeins, die dunkle Stimme im »Lande Jonathans«, der Regen über der Kreideerde und Klaus' graue Hände, die nach seinen Handschuhen suchten.

»Ich darf hier nicht stehenbleiben«, sagte er laut, »sonst finde ich keinen Weg mehr zurück ,…«

Als er aus dem Walde trat, sah er sie auf dem Stein sitzen, an dem die Erde der Karstens begann. Es dämmerte schon so stark, daß er nur die Umrisse ihrer Gestalt erkennen konnte, die Beugung der Schultern, die stille Gebärde der zusammengelegten Hände, und mit jedem seiner Schritte schien diese Gestalt sich nicht zu verdeutlichen und persönlicher zu werden, sondern sich gleichsam zu vereinfachen, alles Einzelne und Bestimmte von sich abzutun und dem Augenblick der Begegnung entgegenzureifen als ein Symbol, das sich des Zeitlichen entkleidet, um des Ewigen würdig zu werden.

Und nun fiel der Schleier. Das Gesicht der Toten erlosch, das Gesicht der fremden Länder, der zerbrochenen Wälder, der blutigen Erden. Von dem schweigenden Bilde der dunklen, regungslosen Gestalt schien ein solches Leuchten auszustrahlen, daß alle anderen Bilder versanken, daß die Jahre erloschen, die Verzweiflungen, die Entsagungen ,… »Mutter!« rief Johannes. Er lief ihrer stillen Gestalt entgegen, die sich nicht erhob, sondern nur die geöffneten Hände ihm entgegenbreitete. Er stürzte diesen Händen entgegen, als könnten sie ihm entgleiten in seinem Sturz und für alle Ewigkeit ihm verloren sein. »Mutter!« schrie er. »Meine Mutter!«

Und dann warf er seine kalte Stirn in ihre warmen Hände, über der die Wunde brannte, preßte sie hinein wie in einen Mantel Gottes, umfing ihre Gestalt mit seinen Armen und weinte ohne eine Träne, ein zerbrochenes, nie wieder zu heilendes Weinen, das wie Blut über ihre auffangenden Hände floß, bis es sie beide umhüllte und vor aller Welt verschloß, vor aller Zukunft wie vor aller Erinnerung.

»Mein Kind ,…«, sagte Frau Gina leise.

Und dann blieben sie so, bis die Nacht über sie fiel, ohne ein Wort, ohne eine Bewegung. Es war der Schoß einer Geliebten, in der Johannes' Stirne lag, und der Schoß einer Mutter, es waren die Knie einer Begehrten und die Knie einer Heiligen. Es war die schützende Wärme eines Menschenleibes, der durchdrungen war von aller Süße eines Menschenleibes, von der nährenden Hingabe eines Mutterleibes über die empfangende Demut eines Mädchenleibes bis zur versöhnenden Umarmung eines Heilandleibes. Es war die Vergöttlichung eines Bildes unter dem Tränensturz eines Betenden, die Rückkehr zum Ewigen des Kindes, zur einfachsten und unverlierbarsten Form des Blutzaubers, der löste und band, entsiegelte und beschloß: das Kind, das aus dem Grauen des Lebens wieder einkehrte in den dunklen Frieden des Mutterleibes.

Langsam, im leise fallenden Frühlingsregen, gingen sie dem Hofe zu.

Niemand hatte die Herzlosigkeit des Jubels. Sie sahen ihn an und blickten dann still zur Seite, gingen hinaus und standen in einer dunklen Ecke oder in einem Winkel des Hofes, und vor ihren Augen erhob sich das Bild des Kindes, wie es träumend, behutsam, leise lächelnd sich unter ihren Händen entfaltet hatte. Nun sahen sie den Sprung durch das Bild laufen, einen feinen, gezackten Sprung, den man zu leugnen, zu übersehen versuchen konnte, aber der doch da war und blieb. Sie gingen leise mit ihm um. Sie wollten, daß er vergesse, aber sie wußten alle, daß ihm eine Frist gesetzt war und daß sie alle daran dachten.

Und es schien, als ob auch Johannes leugnen wollte, daß der Krieg da sei. Als ob er ein Jahrzehnt auslöschen und sein Dasein da anknüpfen wollte, wo er es als Kind verlassen hatte. Er holte sein Spielzeug, seine Zeichnungen und Gedichte aus der Truhe seiner Mutter hervor, saß auf der Ofenbank, die vergilbten Dinge still um sich, den Stall seines Großvaters mit den geschnitzten Tieren, die Schwämme des Waldes, die kleine Flöte. Und wenn er mit spielerischen Händen sie zwecklos bewegt hatte, lehnte er den Kopf an die Kacheln des Ofens und blickte durch die stillen Gesichter seiner Angehörigen hindurch in die Ferne, in der er kleiner und kleiner vor seinen eigenen Augen verschwand. Er fragte ein wenig nach den Führern und Gespielen seiner Kinderzeit, aber ihr Schicksal schien ihn nicht anzurühren, sondern außer ihm zu bleiben, wie jenseits seines Zauberbanns. »Alles ist anders«, sagte er einmal, »als man früher gedacht hat. Das Leben, der Krieg, der Tod, die Liebe ,… klarer, gesetzmäßiger ,… aber das andere war schöner ,… wir spielten mit der Welt, wie Gott. Nun spielt Gott mit uns ,…«

Am ersten Abend, als er in seiner Giebelstube lag, kam Gina leise herein und setzte sich an sein Bett. Sie streichelte seine Hände und sagte nichts. Es war ganz dunkel im Raum und der Regen fiel mit leisem Rauschen in die Ahornwipfel vor dem Fenster. Noch immer ging der Großvater, wie früher, unter ihnen auf und ab, mit dem schweren, langsamen Schritt, mit dem er hinter dem Pfluge herging. Aus den Ställen kam von Zeit zu Zeit ein dumpfer Laut der Behaglichkeit, des Schlafes, des Friedens, fügte sich zu den andern Lauten, mit denen das Holz des Hauses sich dehnte und zusammenzog, mit denen die Vögel unter dem Strohdach sich im Traume rührten, erfüllte alles Seiende mit seinem stillen Dasein, wie das leise Rauschen der nächtlichen Meere alle Küsten erfüllt, war eine unverlierbare Gewähr, daß etwas bleiben würde in allem Aufgelösten, daß der Mensch nicht das Wichtigste war in dem Gang der Erde, sondern nur ein Umgetriebenes über der unveränderlichen Achse einer verborgenen Welt.

»Ich weiß es nun, Mutter«, sagte Johannes laut. »Wenn ich falle, dann falle ich nicht für das Vaterland oder den Kaiser oder eine Idee, sondern für dich. Alle, die draußen sterben, sterben für ihre Mutter ,… Nicht daß das Heldische bleibe, das Männliche oder das Furchtlose, sondern daß das Mütterliche bleibe. Es gibt keine Ewigkeit ohne die Mutter ,… ›Das Regiment beklagt den Verlust ,…‹, schreiben sie. Nein, tausend Mütter beklagen den Verlust ihrer Söhne. So ist es richtig. Es ist wie mit Christus. Er wurde gekreuzigt, aber durch ihr Herz ging das Schwert. Von Joseph ist nicht die Rede und von keinem andern. Er starb nicht, damit wir erlöst werden, sondern damit ihr Bild aufgerichtet werden konnte zum Troste. Von seinem Bild kommt nur Jammer und Schmerz, aber vor ihrem Bilde knien alle, die schweren Herzens sind ,…«

»Du darfst uns nicht so erhöhen, Johannes«, sagte sie leise. Aber er lächelte still. »Wir haben das Korn gegessen«, erwiderte er, »du hast mich aufgenommen in dein Abendmahl, und ich sollte dich nicht erhöhen über meine Tiefe?«

Und dann schlief er ein unter ihren Händen, wie er als Kind getan hatte, wenn die Angst des Tages zu Ende gewesen war.


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