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Zu Beginn des Winters ließ der General ein Jagen hundertzwanzigjähriger Fichten schlagen. Er war mit Thomas im Spätherbst durch den Wald gegangen, unweit des Ufers, hatte mit dem Stock einen der riesigen Bäume berührt und gesagt: »Kommt 'runter … hundertzwanzig Jahre alt … Zeit erfüllt.«
Thomas hatte gemeint, es sei schade, auch habe Goethe noch gelebt, als diese hier gepflanzt worden seien. Aber es sei schon recht, daß man der Natur gehorche, und einen Psalm auf das Leben der Bäume werde wohl auch noch jemand schreiben.
»Mischwald pflanzen«, hatte der General gesagt. »Erste große Arbeit für das Kind … ihm noch Schatten geben, wenn wir versammelt sind, Orla.«
Sie hatten sich dann getrennt. Thomas war zu seinem Boot gegangen, war aber am Ufer noch einmal umgekehrt und kreuz und quer durch das hügelige Jagen gegangen.
Am Abend hatte er eine Unterredung mit Bildermann gehabt, und am nächsten Morgen hatte er an die Tür von Mariannes kleinem Arbeitszimmer geklopft.
Er komme mit einer Bitte. Es sei ja eigentlich ihr Wald, dieser, der fallen müsse, und auch der andere, den sie pflanzen wolle, und er hätte mit Bildermann besprochen, daß sie beide ihn schlagen möchten. Wenn sie gesund und ordentlich dabei blieben, könnten sie Ende Januar fertig sein, und er hätte dann noch Zeit genug, für zwei Monate in das Grafenhaus zu ziehen.
Zuerst hatte sie gelächelt, aber dann war sie plötzlich ernst geworden und hatte eine Weile am Fenster gestanden.
»Du weißt, Thomas«, hatte sie schließlich gesagt, »daß du alles tun kannst, was du willst. Aber weshalb willst du das tun?«
»Wir haben zuwenig Arbeit, Marianne. Das heißt, Bildermann hat den ganzen Tag zu tun, aber ich schlendere so herum, und es bleibt nichts Rechtes für mich übrig.«
»Und weshalb gehst du nicht schon jetzt in das Haus?«
Er schüttelte den Kopf. »Bevor ich mich vergrabe«, sagte er dann, »muß ich müde sein. So müde, daß nur noch der Geist wach ist. Und ich bin noch nicht müde. Der Sommer ist zu kurz hier. Auch die Mönche haben geschlagen und gerodet.«
Sie stand noch immer am Fenster und sah ihn an, aber sein Bild verdunkelte sich unter ihren Tränen. »Ihr sollt ihn schlagen, Thomas«, sagte sie dann. »Ich will es dem Großvater sagen. Aber ich werde jeden Tag zu euch kommen und euch euer Essen bringen. Und ihr werdet aufpassen, daß kein Baum über euch stürzt?«
»Wir wollen nicht sterben, Marianne«, erwiderte er. »Wir wollen noch diesen Winter hinter uns bringen. Dann sind wir jenseits des Polarkreises.«
So schlugen sie also den Wald. Bildermann wußte auch, wie man Wälder schlägt. Er hatte neue Äxte und die lange Säge besorgt, und als es kalt wurde, schon in der ersten Novemberhälfte, besorgte er auch die geschnürten Lappenschuhe, die man dort in den Walddörfern trug.
Zwei Tage lang bog sich das Eis, wenn sie über den See gingen, aber dann war es fest, und der erste Schnee begann schon zu fallen.
Sie standen in der Dämmerung auf und tranken den Kaffee vor dem Herd. Erst wenn ihre Pfeifen brannten, begannen sie zu sprechen. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber sie lachten darüber, und nach acht Tagen traten sie so fröhlich aus ihrer Tür, als erwarte sie ein Christbaum unter den düsteren Fichten. Sie trugen ihr Werkzeug über der Schulter und gingen geräuschlos auf ihren weichen Schuhen über das Eis. Das Morgenrot stand über dem Wald und beleuchtete die einsame Hasenspur, die quer über den See nach der Insel führte. Die Luft strömte kalt und rein in ihren Körper, und es war so still, als ob sie am Nordpol lebten. »Großartiger Gedanke, Kapitän«, sagte Bildermann.
Sie hatten zwei Steige nebeneinander ausgetreten, und hinter dem Ufer tauchten sie in den Wäldern unter. Sie sahen immer noch einmal nach der Insel zurück, aber sie war nicht versunken. Auch das Haus stand unbewegt, und der rötliche Rauch stieg senkrecht über das tiefe Dach empor.
Sie sahen die Wildspuren über den Pfad laufen und rochen das frische Holz. Dann waren sie da. Die schweren, entasteten Stämme lagen übereinander, wie sie gestürzt waren. Harz stand in den Astnarben, und die Zweige waren sauber aufgesetzt. Sie sahen sich einmal um, von einem kindlichen Stolz erfüllt. Dann begann Bildermann Feuer zu machen, und Thomas überlegte, welchen der Riesen sie als ersten vornehmen würden. Durch den zertretenen Schnee ging hier und da der Abdruck eines schmalen Kinderfußes, und er sah lächelnd auf die Spur nieder, die jeden Mittag vom Schloß zu ihnen führte. »Fröhlich, Bildermann?«
»Jawoll, Kapitän! Guter Einfall das mit der Austreibung aus dem Paradies.«
Das Feuer brannte mit roter, tröstlicher Flamme, und der Rauch stieg weiß unter die hohen Wipfel. Bildermann stellte ein Kochgeschirr mit Schnee in die Asche, und dann begannen sie. Sie besprachen, wohin der Baum fallen sollte, und dann hallte der Wald von ihren Axtschlägen wider. Sie schlugen im Takt, und die weißen Späne blieben in ihrem Haar hängen. Der Geruch des angeschlagenen Lebens stieg zu ihnen auf, aber sie hatten keine Zeit zum Denken. Die blitzenden Schneiden verlangten Auge und Hand, und jeder Schlag mußte in die Kerbe des vorigen fallen.
»Genug, Kapitän«, sagte Bildermann.
Sie stützten sich auf die Stiele ihrer Äxte und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Die Sonne fiel mit rotem Licht durch die Bäume, der Schnee flimmerte, und der Specht klopfte neben ihnen in einem trockenen Wipfel. Sie legten die flachen Kissen unter die Knie und nahmen die lange Säge in die Hände. Der dichte Wald warf ein schnelles Echo zurück. Von Zeit zu Zeit schlugen sie den Holzkeil nach und ruhten aus.
»Gleich geschafft, Kapitän«, sagte Bildermann. »Er zittert schon.«
Der Wipfel bebte, Schnee rieselte ihnen in die Augen, und sie sahen im Knien hinauf, um den Augenblick nicht zu verpassen. »Achtung, Kapitän!« Die obersten Zweige fuhren unruhig hin und her, ein schweres Zittern lief bis in ihr Sägeblatt hinunter. Sie sprangen auf und rissen die Säge aus dem Spalt. »Hoi … ooo!« rief Bildermann. Die Krone neigte sich, es knirschte am Fuß des Stammes, dann senkte sich der grüne Turm, zuerst langsam, dann immer schneller, Wind erhob sich brausend, und in einer Wolke stäubenden Schnees donnerte der Gefällte auf den Boden, weithin das Echo weckend mit seinem brüllenden Schrei.
Bildermann streute Teeblätter in das Kochgeschirr. Sie saßen auf dem geschlagenen Stamm, rauchten eine Pfeife und tranken in kleinen Schlucken den glühenden Tee. Einfach war die Welt, ob die Sonne schien oder der Schnee fiel, und wenn der Ostwind pfiff, baute man einen Schirm aus dichten Zweigen und hielt die Füße über das Feuer. »Lange nicht Kap Hoorn, Kapitän«, sagte Bildermann.
Sie stiegen den liegenden Stamm hinauf und schlugen die Äste ab. Es war so leicht, daß man dabei rauchen konnte. Dann kam der nächste an die Reihe. Sie sahen nicht nach der Uhr. Es gab keine Langeweile, und wenn Gruber vorbei kam, meinten sie, er komme aus einer anderen Welt.
Thomas hörte die Schlittenglocken zuerst, aber er ließ es sich nicht merken. Sie sollte die Axtschläge oder das Lied der Säge hören. Er wußte, wie tröstlich es in einem großen, leeren Walde klang, wenn es von weither über die Hügel und Schonungen kam und wenn der weiße Rauch wie ein Meilerzeichen über den Wipfeln stand.
Sie hatten einen Sitz aus Fichtenzweigen für sie gebaut und einen Schirm gegen den Wind. Sie warf dem Pferd einen Arm voll Heu vor und nahm die Paartöpfe aus der Pelzdecke. Thomas hatte verlangt, daß es Paartöpfe seien, sonst sei es nicht richtig. Nur Stadtleute äßen aus Tellern im Wald. Sie kam vorsichtig durch den Schnee und über die Stämme, die Arme behutsam vom Körper abgestreckt. Sie lächelte unter ihren frohen Augen und sah zu, wie sie aßen. »Seid ihr zufrieden, Leute vom Ozean?« Ja, sie waren sehr zufrieden. Nicht nur mit dem Essen etwa, sondern mit der stillen Stunde, dem warmen Feuer, der Arbeit, die hinter ihnen und die vor ihnen lag, und mit dem reinen Gesicht, das ihnen zusah, das die Stämme zählte, aber dem die Stämme so gleichgültig waren, weil Thomas müde war und seine Augen ruhig und seines Glaubens gewiß in die ihrigen blickten.
Er hielt mit Strenge darauf, daß das Essen einfach war.
»Du sollst nicht meinen, daß wir spielen«, sagte er.
Zum Schluß gab es wieder Tee mit ein paar Tropfen Rum und die Pfeife. Und dann sprachen sie von der Arbeit, von nichts anderem. Manchmal, wenn das Feuer groß war, kam es vor, daß Thomas mitten im Satz die Augen zufielen. Dann saßen sie beide still und bewachten seinen Schlaf, und Bildermann sah von der Seite zu, wie die Augen des kleinen Fräuleins an dem entspannten Gesicht hingen.
Meistens erwachte er schon nach ein paar Minuten, von dem leisen Knall, mit dem ein glühender Ast zersprang, oder von einer Bewegung des Pferdes und der Glocken. Seine Augen kamen zurück von weither, und es war ihm nicht recht, daß er geschlafen hatte. »Kriegsgericht, Bildermann!« sagte er.
Dann mußte Marianne gehen, und er brachte sie an den Schlitten, zäumte das Pferd wieder auf und legte die Pelzdecke um ihre Füße. Die Glocken wurden immer leiser, und gleich darauf klang der Schlag der Äxte wieder allein durch den Wald.
Eine Stunde vor der Dämmerung hörten sie auf. Bildermann ging zuerst, um Feuer zu machen und den Kaffee zu kochen. Thomas räumte auf. Er trug die Äste zusammen, schichtete sie sauber auf und bedachte die Arbeit des nächsten Tages. Der Wald war ganz still, und oft begann es um diese Zeit zu schneien. Manchmal hörte er die Glocke vom Schloß. Dann lauschte er, bis sie ausgeschlagen hatte. Der Schnee fing die Klänge auf und begrub sie. Nachher war es noch stiller im Zwielicht unter den hohen Bäumen.
Schließlich deckte er das Feuer mit Asche zu, nahm die Axt über die Schulter und ging heim. Der Rücken schmerzte, aber wenn er an das Ufer kam und das Licht hinter den Fenstern erblickte, war er es alles zufrieden. Je müder die Hand, desto klarer das Leben. Er wollte über die Zeit hinwegkommen, in der die Bilder ihn bedrohten, und er wollte, daß sie schließlich nur an einer Wand hingen, hoch und matt wie in der Halle, und man konnte darunter stehen und sagen: »So also hast du einmal ausgesehen.« Er hatte manches im Leben nicht bezwungen, aber dies würde gewiß nicht dazu gehören.
Er zog sich um, trank den Kaffee mit Bildermann und schlief eine Stunde. Es war wunderbar, zu erwachen und zu sehen, wie der rote Schein des Feuers unter den Balken stand. Nebenan klapperten die Herdringe leise, und draußen lag wohl die Taiga oder Spitzbergen oder Alaska. Niemand würde kommen, nur Gruber vielleicht und ab und zu das Kind. Man hörte Schritte im Schnee und wußte, wer es war, ehe noch die Tür sich öffnete. Auf dem Tisch lag das Buch über die Totenbräuche absterbender Völker, und wenn es zu schwer war, konnte man Märchen lesen, wo die Sätze so einfach nebeneinander standen wie die Wipfel eines Waldes, aber alle zusammen ergaben das schöne Zwielicht des Wunders, wo die Königssöhne nicht viel anders sprachen als der Schweinehirt, und wo der junge Prinz immer stärker war als der alte Wassermann. Auch unter allen Wundern gab es ein unbestechliches Recht.
Sie löschten die Lampen früher als sonst, und im beginnenden Traum sahen sie die hohen grauen Stämme, aus denen das Eichhorn beim ersten Axtschlag floh.
Am Sonnabend zählte das Kind ihnen ernsthaft das Geld in die schwieligen Hände, und wenn sie, schon um die Mittagszeit, nach Hause gingen, hörten sie die Silberstücke leise aneinanderklingen. »Muß zum Tanz, Kapitän«, sagte Bildermann verlegen. » Never mind, Bildermann. Auch Tanz muß sein für junge Leute.«
Immer klarer wurden die Linien der Hügel in ihrem Wald, und Ende Januar, wie sie gedacht hatten, fiel der letzte Stamm. Sie standen da, auf ihre Äxte gestützt, wie die letzten Überlebenden aus einer Schlacht. Sie hatten nichts falsch gemacht und nichts verdorben. Die Stämme würden an den Weg geschleppt werden, und im Frühjahr konnte das Kind den neuen Wald pflanzen. Es konnte ihm einen besonderen Namen geben, wenn es wollte, und nach hundert Jahren konnten die Urenkel zu den hohen Wipfeln hinaufblicken und sagen: »Das ist also der Kapitänswald … auch für ihn wird es bald Zeit.« Alle Arbeit reichte weit in die Zukunft hinein, und auch Leute vom Ozean konnten unsterblich sein, wenn sie ihre Hände rührten. Er selbst aber würde die jungen Schonungen sehen und würde sie ganz im stillen den »Wald der guten Hoffnung« nennen.
Er blieb fast drei Monate im Grafenhaus. Es dauerte so lange, bis er die Arbeit des vorigen Winters beendigt hatte, wenn von einem Ende gesprochen werden durfte. Nun war ihm, als habe er den ersten Meridian um das Weltall durchmessen, und die sicherste Erkenntnis, die er mitbrachte, war die, daß es wohl dreihundertsechzig solcher Meridiane gebe für solche, die sich bald zufrieden gaben. Für die anderen aber würde es eine unendliche Zahl sein.
Er war nicht enttäuscht oder ohne Hoffnung. Er hatte die Idee der Unendlichkeit zu fassen vermocht und war weise genug für sie geworden. Er sah die tausend Eimer, die aufstiegen und versanken, aber weder Gott noch Mensch hielten die Hand an ihrem Bügel. Auch Götter wurden aus der Tiefe geschöpft, hoben sich auf und versanken, und was der Mensch sah, waren nur die »Tropfen am Eimer«. Ein Größeres stand über allem, ein Unerkennbares, eben »das Ganze«. Sein Anblick machte fromm, aber es gab weder Kirche noch Altar für die Frömmigkeit. Kein Bildnis, kein Gleichnis, nicht einmal einen Namen. Denn nicht einmal die Sterne waren das Letzte, nicht einmal die Nebel sich gebärender Sterne, wieviel weniger also der Mensch oder Gott, um dessen Bild er haderte und den er benannte, wie er selbst gern gewesen wäre: wissend, mächtig und gut.
Er bedachte, wieviel nötig gewesen war, ihn zu dieser Schwelle des Schweigens zu bringen: Vater und Mutter und dahinter der graue Zug der Geschlechter; das Haus zwischen den Feldern und der Weg über alle Meere der Welt; Wissenschaft aus Jahrtausenden und die Feuer des Krieges, den sie den »Großen« nannten; der Pfarrer mit dem hölzernen Christus; ein Kind namens Gloria und eines namens Marianne; der Wegweiser zu der Försterei, wo der König aus dem Morgenland am Tor stand; die Insel und das Wasser mit der goldenen Krone; der blaue Sarong mit den goldenen Vögeln und der grüne Wald, verflochten mit allen Zeiten und Zonen, mit den Spuren toter und lebender Hände, von Tränen durchfeuchtet, vom Fieber zerknüllt, verwühlt von Rausch und Schuld und endlich bescheiden geglättet vom Gehorsam und der stillen Beugung unter das große Gesetz.
Und auch das hatte er erkannt: daß am sich drehenden Gewölbe immer ein Stern unterging, wenn im Osten ein anderer aufstieg. Daß man mit vierzig oder fünfzig Jahren in den Schatten zu treten hatte. Daß man dann wohl beginnen konnte, zu geben, aber aufhören mußte, zu nehmen. Auf dieser Erde gab es nur ein bestimmtes Maß von Raum, und die Hälfte davon gehörte dem jungen Geschlecht. Im Glück wie in der Macht, und dafür auch im Schmerz. Wer über seine Jahre hinaus begehrte, verdarb. Nicht nur sich selbst, sondern auch das Begehrte. Die Liebe hatte nicht das Ihre zu suchen, von Anfang an nicht, aber noch viel weniger, wenn die grauen Fäden im Haar erschienen. Es gab keine größere Mannesprobe als das Entsagen ohne Bitterkeit.
Joachim schrieb, daß das Examen im Juni zu Ende gehe. Dann wollte er gern mit zwei oder drei Freunden noch einmal kommen, ehe der Dienst auf der Flotte beginne. Es stehe alles gut, und er habe die besten Aussichten.
Thomas schrieb an Finckenstein, daß er auch ihn erwarte auf der Insel. Es sei ihm etwas bange vor soviel Jugend, und er möchte gern jemanden dabeihaben, der so wie er selbst gewesen sei, gar nicht vollkommen und immer voller Unruhe, ob er nicht das Schiff auf die nächste Sandbank steuern würde.
Bergengrün war fertig mit seiner Gottesgelehrtheit und sollte nun mit dem Gottesdienst beginnen und zu Pfingsten seine erste Predigt von der Kanzel halten, die der General ihm versprochen hatte. »So lange ist es her, Kind«, sagte Thomas, »seit ich auf der Treppe stand, und ihr kamt mir entgegen. Eine goldene Krone habe ich dir versprochen, aber sie liegt noch immer auf dem Grunde, und nur manchmal ist mir, als scheine sie über das Wasser hin.«
»Du trägst sie ja, Thomas«, erwiderte sie, »du siehst es nur nicht.«
Aber er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich will schon zufrieden sein, wenn ich meinen Helm in Ehren tragen und ihn am Abend ein bißchen abnehmen kann. Es ist schon recht in der Welt, wenn die Männer den Helm und die Frauen die Krone tragen.«
Sie standen am Walde der guten Hoffnung und sahen auf die jungen Pflanzen nieder, die in langen Reihen hügelauf und hügelab liefen. Der Kuckuck rief, aber sie zählte nun nicht mehr. Sie glaubte zu wissen, daß sie lange leben würde. Ihre Kinder würden Erdbeeren unter diesen Gräsern sammeln und groß werden und mit der Büchse über den Knien hier auf das ziehende Wild warten, wenn das Haus auf der Insel schon leer stehen würde. Niemand sollte dort mehr wohnen als sie selbst, wenn sie alt geworden war. Und dort wollte sie auch begraben werden. – »Er wird wachsen, gleichviel, was wir tragen«, sagte sie auf dem Heimweg.
Der Baum des Lebens spiegelte sich ihm nun in einem unbewegten Wasser, und nur einmal, bevor ihre Gäste kamen, erbebte das Spiegelbild, als hebe der Grund sich leise auf, aber die Kreise verrannen, und er konnte wieder bis zu den Steinen sehen, über denen die jungen Fische spielten.
Sie hatten am Ufer unterhalb der Eichen gesessen, wo es nun schon Schatten gab, und besprochen, wie sie die jungen Leute beschäftigen sollten, die nun im Begriff waren, die Welt zu erobern.
Ein Gewitter stand über der Otterbucht, ganz fern noch, und Marianne hatte nach den kleinen Bremsen geschlagen und gefragt, ob sie nicht baden wollten, ehe die Wolke die Sonne bedeckte.
Es war nichts Besonderes gewesen, aber Thomas hatte gesagt, daß er nicht wolle, und auf ihren verwunderten Blick hinzugefügt, daß sie nun wohl zu alt dazu sei.
Es war ungeschickt von ihm gewesen, und es war nicht nötig, daß er ihren Blick vermied und über das Wasser hinaussah, wo die grünen Libellen auf den flimmernden Schilfhalmen saßen.
Sie war bis unter ihr Haar errötet und hatte geschwiegen, und als sie endlich aufgestanden und zu den Booten gegangen war, hatte ihr geschienen, als schwanke der vertraute Boden unter ihr.
Erst am Abend, als sie in ihrem Zimmer am Fenster stand und den Sprossern zuhörte, wußte sie, daß es das Glück gewesen war, das die Erde unter ihr bewegt hatte. Die Erde bebte wohl noch immer, wenn man den Apfel vom Baum der Erkenntnis brach.
Im Juni kamen die jungen Gäste, Joachim, Marschall und zwei andere. Sie kamen in ihren neuen Uniformen, wohnten im Schloß und versicherten dem General, daß eine neue Zeit beginne. Finckenstein kam einen Tag später, in einem alten grauen Jagdanzug, und schlief in Joachims Rohrhütte. Er erzählte mit gutmütigem Spott vom Examen und daß er immer noch der Meinung sei, ein Examen würde besser während einer Schlacht abgehalten. Auf dem Papier seien sie alle Helden gewesen, auch mit der nötigen Angst, die dazu gehöre. Er freue sich, auf die Flotte zu kommen, wo man nicht nur mit Schiffen, sondern auch mit Menschen zu tun bekomme, wo man nun zeigen könne, ob man seine Note verdiene.
Abends kam Marianne sie holen, aber sie blieben noch eine Weile auf der Insel, bevor sie abfuhren. Ja, drüben sei sie ihres Lebens nicht sicher vor lauter Verehrung. Auch Geschwaderchefs schienen sterblich zu sein.
Joachim vermied nach seinem langen Brief im Herbst eine Aussprache. Aber er bedankte sich für den damaligen Rat und für alle Unterstützung. Aus dem Gröbsten sei er nun heraus. Er war zu Thomas nicht viel anders als zu einem älteren Kameraden, und dieser war es zufrieden. Ein sauberes und tüchtiges Geschlecht wuchs auf, härter und schneller als sein eigenes, und man mußte nun zusehen, wie es seinen Kurs steuerte. Es war schön, ihnen zuzusehen, wie sie gleich Pfeilen auf der Sehne waren, bebend vor Ungeduld, und wie die Ferne ihnen voller Kränze hing, die auf sie warteten.
Am anderen Morgen ging er leise vor die Rohrhütte, in der sein Gast schlief, setzte sich auf die dunklen Steine des alten Feuerplatzes und sah den Schlafenden an. Das immer noch blasse Gesicht war nun ohne Gespanntheit, ganz still von innen heraus geformt, und es tat ihm wohl, es anzusehen. Also wollen wir doch ein Ebenbild, dachte er, zuerst ein Ebenbild und dann erst die nächste Stufe … Er war nicht traurig, daß Joachim anders war. Er war nur dankbar, daß er auch dies noch sehen konnte, so wie einen spät geborenen jungen Bruder. Besitz und Eigentum waren nicht die innigsten Beziehungen auf dieser Welt.
Für den dritten Abend hatte der General zu einem Fest geladen, zu Ehren der jungen Kriegsmarine. Es war der Sonnwendabend, und sie wollten nach dem Essen ein Feuer am Seeufer anzünden. Auch Pastor Bergengrün war eingeladen, und er kam am Nachmittag zur Insel gerudert, um Thomas zu begrüßen. Sein Kurs war noch immer nicht gerade.
Sie saßen an dem alten Tisch vor dem Hause, und noch einmal schien vor Thomas die Zeit vorüberzufließen, schwindelnd schnell und ohne Einzelheit. Das Gesicht Bergengrüns war fast unverändert, es würde immer ein kindliches Gesicht unter einer alten Brille bleiben. Und auch die Bewegungen seiner Hände waren noch die gleichen, mit denen er die Zukunftsbilder der Menschheit herbeirief, des Gottesreiches und Gottesfriedens.
Er habe wohl keine Zweifel mehr gehabt, seit ihrem letzten Kartoffelfeuer, fragte Thomas.
Nein, keine Zweifel. Etwas Angst wohl und auch mancherlei Verdruß, wie eben mit den jungen Leutnants, die nach der Arche Noah fragten, aber keine Zweifel. Gott sei um ihn herum wie die Frucht um den Kern. Er könne nicht herausfallen, wohin er sich auch bewege. Ebenso könnte der Mittelpunkt eines Kreises über die Peripherie hinausgeschleudert werden, was doch ein Absurdum sei. Er wisse nicht, womit er diese Gnade verdient habe, denn eine Gnade sei es ohne Zweifel.
Thomas gab ihm recht. Sie, die Gnadenlosen, wüßten das am besten.
Niemand sei gnadenlos, erwiderte Bergengrün leise.
Nein, außer denen, die es sein wollten.
Ob das Buch mit den Schmetterlingen noch da sei?
Ja, es sei noch da und immer für ihn da, wie die Insel die wenigen Getreuen und Guten nicht vergessen werde.
Und das Kind?
Ja, das Kind werde heiraten, und er werde die Kinder taufen und einsegnen und wieder trauen.
Keinen von denen da drüben werde es heiraten?
Wahrscheinlich nicht.
Das sei gut, denn sie sprächen von Gott wie von einem Zivilisten auf ihren Kriegsschiffen. Auf See finde man Gott meistens später, meinte Thomas. Darüber solle er sich nicht grämen. Mit den Fäden zwischen Gott und dem Kriegshandwerk sei es sowieso eine etwas schwierige Sache.
Dann fuhr Bergengrün mit Finckenstein zurück.
Thomas ließ sagen, daß er erst am Abend kommen werde. Hinter allen Wäldern standen Gewitter, und er legte mit Bildermann alle Netze aus. Nach der Arbeit schwamm er noch einmal weit hinaus, rauchte am Ufer eine Pfeife und zog dann langsam die Uniform an. Sie war ihm lose geworden, und er sah nachdenklich auf seine Orden herunter. Es war lange her, seit er Bänder und Kreuze gewonnen hatte.
Er fuhr ganz langsam. Lange nicht war die Erde ihm so schön erschienen. Er hörte die Glocke über den See schlagen. Er würde zu spät kommen, wenn er sich nicht beeilte, aber er wollte sich nicht beeilen. Schön war das Licht auf den Kieferstämmen und das Spiegelbild des Reihers im unbewegten Wasser.
Dies war ein Fest der Jugend, und er war nicht mehr unentbehrlich. Der Sinn stand ihm nicht mehr nach Festen. Er hatte nicht mehr viel Zeit, und er konnte auch ohne Feste fröhlich sein.
Es war schön, daß Joachim es erreicht hatte, was für ihn die erste Stufe des Glanzes war, und es schadete nichts, daß sie nicht mehr eins waren. Sein Sohn war schon das nächste Glied in der Kette und hing nur leise widerstrebend mit dem vorigen zusammen. Er sah nicht zurück. Es war vieles falsch gemacht worden nach seiner Meinung, und sie wollten es nun richtig machen. Die Welt hatte auf sie gewartet. Sie brauchten klares Fahrwasser vor ihren Kielen, und ihre Schlachten würden anders sein als vor fünfzehn Jahren. Daß immer noch Schlachten sein müßten, war nicht zu vermeiden. Auch die Jungen konnten nicht für die Weltordnung. Man mußte ihnen helfen und auf ihren Stern vertrauen. Man wußte so wenig von den Sternen, die über der Erde standen.
Thomas stieg langsam aus und machte das Boot fest. Hinter der Uferkrümmung, wo der Boden anstieg, hörte er Gelächter und Lärm. Dort trugen sie wohl das Holz zum Feuer zusammen. Die helle Stimme Marschalls war über allen anderen zu hören. Die Namen der beiden Freunde hatte er nicht behalten.
Der General saß auf der Gartenterrasse, in seiner Uniform, die Hände über dem Stock gefaltet. Sein Haar war nun schneeweiß, und er sah über den Park hinaus auf das Wasser, als ständen dort die stillen Leute und wunderten sich über das neue Leben.
»Gut, Sie zu sehen, Orla«, sagte er. »Sitze da wie ein Überhälter … langweile die jungen Leute … sind auf scharfen Wind aus …«
»An Bord ist es nachher einsam genug, Herr General.«
»Kennen noch keine Einsamkeit, Orla. Kommt erst mit grauen Haaren. Sehe ihnen zu und denke, daß die Kugel sich schnell dreht. Schneller als Ihr bunter Globus.« – Thomas nickte und fragte nach Marianne.
»Absentiert …«
Er wolle nach ihr sehen.
In der Halle dämmerte es schon. Er streifte die bronzenen Münder der Kanonen mit einem Blick und erinnerte sich des Frühlingstages, an dem er sie zum erstenmal gesehen hatte. Er wußte nicht mehr, wie viele Jahre vergangen waren. Segen ließ sich nicht nach Jahren messen. Aber es mußte lange her sein, sehr lange. Der junge Wald wuchs schon, und Bergengrün legte schon die Hände derer zusammen, die vor seinem Altar knieten.
Das Kind kam die Treppe herunter. Es trug ein weißes Abendkleid und um die Schultern den blauen Sarong mit den goldenen Vögeln, den er ihr auf den letzten Weihnachtstisch gelegt hatte. Lieber Gott, dachte er, manchmal wäre es doch schön, an dich zu glauben und an deine allmächtige, schützende Hand …
Er nahm ihren Arm und führte sie auf die Terrasse. »In der ›Ilias‹ gibt es eine Stelle«, sagte er, »wo Helena unter die Alten tritt.«
Hinter ihnen schlug Johann zum ersten Male an den Gong.
Bei der Tafel saß Thomas dem General gegenüber an der Schmalseite des Tisches. Das Licht der Kerzen stand ruhig über den alten Leuchtern, die Fenster waren weit geöffnet, und die Sprosser schlugen am See. Es war schön, die Tafel entlangzusehen, mit den jungen braunen Händen, die sich über dem weißen Tisch bewegten, den blauen Uniformen und den hellen Augen, in denen alle Kerzenflammen sich noch einmal wiederholten.
Der General stand auf und trank auf das Wohl der jungen Kameraden. Was mit wehender Flagge gesunken sei, werde mit wehender Flagge wieder auferstehen. Gott habe ihm auf seine alten Tage beschert, ein neues Geschlecht vor dem Mast zu sehen. Es brauche des alten nicht sehr zu achten, aber des Reiches und seiner Fahne möge es allezeit achten. Leicht werde dann der Abschied für die alten Soldaten sein, für die vor dem Feuer und für die auf der Insel. Und er wünsche dem jungen Geschlecht, daß es in Krieg und Frieden ein so fröhliches Herz gewinne, ja nur ein halb so fröhliches Herz wie der Mann, den er mit Stolz und Ehre an seinem Tisch und in seinem Herzen sehe.
Es war natürlich, daß Joachim erwiderte. Er war nicht der Älteste, aber es war selbstverständlich, daß er auf der Brücke zu stehen hatte. Thomas sah mit einer leisen Verwunderung zu, wie sein Sohn sich erhob und zu sprechen begann.
Man möge ihm erlauben, sagte er, im Namen seiner Kameraden und in seinem eigenen Namen für alles zu danken, was sie in diesem Hause empfangen hätten. Der Dank des Mannes aber sei die Tat, und so möchten sie sich alle so lange gedulden, bis die Tat in ihre Hände gelegt würde.
Ihre Jugend sei nicht leicht gewesen. Sie zahlten an Zinsen, für die sie eigentlich nicht könnten. Aber doch sei es nicht umsonst gewesen, weil sie damit eine andere Schätzung der Welt gefunden hätten. Eine härtere (und manchem scheine sie zu hart), aber, glaube er, auch eine zuverlässigere.
Dieses Haus sei eine Insel für sie, und sie verdankten der Insel Frohsinn, Entspannung und Heiterkeit. Draußen aber rausche schon das Meer, das sie rufe. Sie hätten sich ihm angelobt, und dabei wollten sie bleiben. Auch wenn es keine Insel trüge, sondern nur den Tod, so wollten sie auch beim Tode bleiben. Denn vor dem Tod stehe die Ehre.
Er aber erhebe das Glas auf diejenigen, die zu ihrer Zeit diese Ehre bewahrt hätten, gleichsam auf die Veteranen des Krieges und auf alle die, die zu ihnen gehörten.
Erst am Ende des Mahles stand Thomas auf. Er hatte nicht die Absicht gehabt, zu sprechen, aber es war ihm, als werde er von nun an schweigen, und es sei dies die letzte Stunde, in der er aufgerufen werde. Er sah den General an, aber er sprach eigentlich nur mit sich selbst.
In dieses Haus kämen viele stille Leute zu Besuch, sagte er, Tote und Lebende, aber mehr Tote als Lebende. Sie sprächen nicht mehr, sie seien nur da, und ab und zu werde ein Glas mit rotem Wein gegen sie erhoben. Er sei immer vertraut mit ihnen gewesen, und so wolle er auch für sie sprechen.
Sie freuten sich alle in diesem Hause an der neuen Generation, die sich dem Meere und dem Tode angelobt habe, aber sie möchten gern, daß sie auch der Erde und dem Leben angelobt blieben. Diese seien so ewig wie das andere, wenn auch immer in der Verwandlung begriffen. Aber Verwandlung sei das letzte, was sie könnten.
Sie brauchten nicht auf den Schultern der Lebenden zu stehen, aber sie dürften wohl nie vergessen, daß sie auf den Schultern der Toten stünden. Es führe zu nichts, Fehler und Schuld aufzusuchen, aber es führe ins Helle, Dankbarkeit und Verpflichtung zu fühlen. Ein Volk müsse seine Toten bewahren, und es sei ein dunkles Zeichen ihrer Zeit gewesen, daß sie das nicht getan habe, ja daß sie die Toten geschmäht habe.
Sie hätten ein Examen bestanden, sich selbst und ihnen, den Veteranen, zur Ehre. Aber sie hätten noch keine Bewährung bestanden. So möchten sie vorsichtig sein in Urteil und Wertung, bis die Bewährung gekommen sei. Und nicht immer geschehe sie in den Panzertürmen, auch für den Soldaten nicht.
Er habe das Meer fahrenlassen und sei ein Mann der Insel geworden. Er habe damit weder tadeln noch anklagen noch protestieren wollen. Er habe nur arbeiten wollen, denn Arbeit sei die zuverlässigste Seligkeit dieser Erde. Er habe auch die goldene Krone vom Grunde aufheben wollen. Das sei ihm nicht gelungen, aber in manchen Nächten sehe er doch ihren Schimmer über das Wasser blitzen. Wer sie gewinnen wolle, müsse fröhlichen Herzens sein, und still wie die Steine auf dem Grund, und nichts für sich haben wollen.
Dazu habe er noch einen langen Weg, und auch der ihre werde eine Weile dauern. Sie sähen ihm alle ein wenig danach aus, als wollten sie zuerst Ruhm und Ehre gewinnen. Das sei ganz in der Ordnung, und doch wolle er sein Glas nicht darauf heben, daß sie etwas gewännen. Dazu hätten sie noch viel Zeit, und das komme schon von selbst. Aber daß sie ihres Mutes immer Herr seien, das sei wohl viel schwerer, wenn sie es recht bedächten, und darauf wolle er heute schon sein Glas aufheben. Daß sie ihres Mutes immer Herr seien … Auch die »stillen Leute« würden wohl in diesen Trinkspruch einstimmen, soweit er sie kenne.
Er hatte sehr gerade gestanden, ohne eine Hand zu bewegen, und leise gesprochen. Er hatte eigentlich nicht die jungen Leute angeredet, sondern über sie hinweggesehen, und nur hier und da hatte er den General und das Kind angeblickt. Er war nicht zufrieden mit dem, was er gesagt hatte. Das Letzte blieb immer unsagbar. Nach seinem letzten Wort stand er noch eine Weile und sah mit seinen ernsten Augen vor sich hin. Die Sprosser riefen vom See, und außer ihrem Lied war kein Laut in dem großen Raum zu vernehmen. Dann, ohne noch etwas zu sagen, ging er um den Tisch herum, zuerst zum General und dann zu Marianne.
Als er das letzte Glas berührt hatte, hob das Kind die schweigende Tafel auf.
Sie gingen gleich über die Terrasse in den Park. Die Leute vom Hof und das Gesinde standen schon um den Holzstoß. Es wetterleuchtete über dem See, und die fernen roten Feuer spielten über ihre Gesichter. Es roch nach Regen, aber noch standen die Sterne über ihnen.
Bildermann durfte den Holzstoß anzünden, und als die Flamme hochglühend bis unter die Wipfel schoß, trat Thomas in den Schatten zurück. Während der General ein paar Worte sprach, ging er schon langsam zum Ufer hinunter. Es war, als rufe die Insel nach ihm und als müßte er ganz allein in die Wetter blicken, die den Horizont erhellten. Der Vorhang war über seiner Rolle gefallen. Andere kamen nun heran. Er stand allein im riesigen dunklen Bühnenhaus.
Als er die Kette vom Pfahl löste, hörte er ihren schnellen, leichten Schritt. Sie blieb so dicht vor ihm stehen, daß er das Licht der fernen Blitze bis auf den Grund ihrer Augen fallen sah. Sie sprach kein Wort. Sie hob nur ihre bloßen Arme aus dem blauen Sarong, faltete die Hände in seinem Haar und küßte ihn lange auf den Mund. Er spürte ihren Atem leise aus und ein gehen. Keine Träne stand in ihren offenen Augen.
Er sah den Saum des weißen Kleides noch, als er schon weit auf dem Wasser war. Er schimmerte wie der Sockel einer Statue, unbewegt, und er konnte meinen, das flammende Licht in die Poren des Marmors fallen zu sehen.
Langsam stieg er zu seinem Haus hinauf. Der Himmel war bedeckt mit schweren Wolkenzügen, die ganz langsam nach Osten rückten, aber es war nicht dunkel. Ein blasses Licht tropfte aus den Spalten der Wolken herunter, und nur wenn ein Blitz hinter den Wäldern erloschen war, stürzte die Finsternis über Wasser und Land. Die Fische sprangen, und über dem Geißblatt stand der dunkle Flügelton der großen Nachtfalter.
Im Hause roch es nach Rauch und trockenem Rohr. Thomas machte kein Licht. Er zog sich um, nahm den leichten Mantel um die Schultern und ging zu der Bank unter den Eichen hinauf. Als er das Streichholz für seine Pfeife anrieb, schrie einer der großen Vögel über ihm auf, und ein schwerer Flügelschlag kreiste einmal um die Wipfel.
Dann war alles still wie zuvor. Im Südosten, über der Bucht, lag ein roter Schein auf dem Walde. Das war der Holzstoß, um den sie wohl noch saßen.
Das Feuer hinter den Wolken blitzte jetzt scharf und rötlich über das Wasser hin. Ein warmer Wind strich niedrig über das Schilf, und wenn er erstarb, hörte Thomas das leise erzene Dröhnen hinter der Wolkenwand. Mitunter tastete nur ein fahler Schein über die Insel und den Wald, dazwischen flammte es böse und drohend auf, wie von langen Rohren über grauer Panzerwand, ein greller Strahl schoß den Himmel hinauf, und lange hinterher, auf begrabener Finsternis, rollte der ferne Donner lange nach und bewegte die Erde, auf der Thomas saß.
Er sah mit weit offenen Augen in das Licht hinaus. Er sah die grauen Leiber vorwärtsstürmen und die zerwühlte See zwischen ihnen. Er hörte Glocken, Signale und verwehenden Schrei. Er saß wie in einem Traum, und vor seinen Augen und Ohren zog es vorbei, die Summe vergangenen Lebens, die Probe vieler Jahre, die Entscheidung junger und bebender Herzen: die Schlacht.
Er wußte, daß er schon einmal so gesessen hatte, vor vielen Jahren, und damals mußte er noch jung gewesen sein. Vieles lag nun hinter ihm, und es gab noch andere Bewährungen als die unter den grauen Türmen, aus denen das Licht über die Wälder fuhr.
Aber jenes war der Anfang gewesen und gehörte unter das Gesetz, ebenso wie daß er nun hier saß und die trockenen Thymianblüten unter seiner Hand fühlte. Alles hatte seinen Platz und seine Ordnung, alles war richtig, wie es war und werden würde. Es war nicht gut und nicht böse. Er hatte einen Sohn, der ihm Ehre machen würde, und es kam nicht darauf an, daß er nicht sein Ebenbild war. Er hatte eine junge Schwester namens Marianne, und es kam nicht darauf an, daß sie ebensogut fünfzehn oder zwanzig Jahre älter hätte sein können. Die Schöpfung hatte es nicht gewollt, und sie hatte ihre zureichenden Gründe dafür gehabt. Sie hatte auch nicht gewollt, daß der junge Graf am Leben blieb oder das Kind mit Namen Gloria. Sie ging ihren Gang. Sie streute aus und sammelte wieder ein. Das Maß ihrer Ernte blieb immer das gleiche, weil das Maß ihrer Saat das gleiche blieb. Man trug seinen Helm und rührte seine Hände, und ab und zu konnte man den Helm abbinden und die Hände in den Schoß legen. Nicht oft, aber doch ab und zu.
Und manchmal konnte man es in den Nächten über das Wasser blitzen sehen, einen stillen, rötlichen Schein, und konnte meinen, daß er von der goldenen Krone herrühre, die auf dem Grunde lag.
Und einmal auch, viel später, würde man vielleicht meinen können, daß man ein fröhliches Herz besitze.
Ein paar Tropfen fielen und schlugen in das junge Laub der Eichen, aber er blieb noch sitzen, den Kopf an die harte, rissige Rinde gelehnt, und sah den Blitzen zu, die immer höher über die Wälder stiegen.