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Schon im November fiel Schnee bei östlichem Wind und blieb liegen. Die Engerlinge waren tief in der Erde. Dompfaffen und Seidenschwänze saßen in den Fichtenwipfeln, alles zeigte einen strengen Winter an.
Thomas und Bildermann waren viele Tage auf Schlittschuhen unterwegs gewesen, um Wuhnen in das Eis zu schlagen und mit jungen Fichten die Wege zum Schloß und zur Försterei auszustecken. In der ersten Adventswoche fischten sie mit dem großen Netz einen ganzen Tag lang. Die Leute vom Schloß halfen ihnen; es war üblich, daß kein Fremder dabei war.
Dann legten sie die Schlittschuhe beiseite, und Bildermann holte die Schneeschuhe vom Boden herunter. Sie waren aus Birkenholz, ganz leicht, und Bildermann war sehr stolz auf seiner Hände Werk. Der General hatte den Jäger entlassen, der zu viele Freundschaften in den Dörfern ringsum besaß, und Thomas gebeten, sich etwas um den großen Wald zu kümmern. Für die Fütterung des Wildes sorgte er selbst, aber es war gut in diesen Zeiten, wenn die lautlosen Läufer ab und zu unterwegs waren und man die schmalen Doppelspuren kreuz und quer durch die Wälder ziehen sah. Bildermann hatte eine zweite Büchse bekommen, trug einen Jagdschein in der Brusttasche, und an windstillen Tagen, wenn der Schnee schon am Morgen zu fallen begann, stand er in der Dämmerung vor Thomas, der sich noch den Schlaf aus den Augen rieb, und erbat sich Urlaub. Es sei so ein Wetter für lichtscheue Gestalten, und er denke sich zu erinnern, daß auch die großen Elch- und Bärenjäger in Finnland oder in Lappland schon um diese Tageszeit ausführen, wo das Knicken eines Astes meist meilenweit zu hören sei. Das Kaffeewasser sei aufgesetzt, das Feuer im Herde brenne, und der Kapitän könne ruhig noch ein oder zwei Stunden schlafen.
Er legte noch eine Kohle in seine Morgenpfeife und schloß dann leise die Tür. Glitt er von dem Hause den Uferhang hinunter und auf die ebene Fläche hinaus, um die die dämmerdunklen Wälder lautlos standen, so glaubte er, hoch oben jenseits des Polarkreises zu leben und einer der einsamen Jäger zu sein, die nichts Lebendiges kannten als das Wild und vor deren Auge kein anderes Zeichen des Lebens in die unendlichen Schneefelder geschrieben war als die Fährten des Wildes, die dunkelgrau über den weißen Spiegel liefen, bis ihre Ränder im ersten Morgenrot aufglühten und bläuliche Schatten warfen.
Er ermüdete nicht. Seine Augen hatten bald gelernt, die Spuren zu lesen, die der Mensch oder das Tier in den Schnee schrieben, und bald wußte er zwischen dem zu unterscheiden, was ihn anging, und dem, was man lieber dem General oder dem Rentmeister überließ. Aber außer der Fährte eines wildernden Hundes, die er mit Erbitterung betrachtete, fand sich nichts Gefährliches. Man wußte in den Dörfern bald, daß der Mann mit den wehenden Mützenbändern auf schmalen Brettern tags und nachts unterwegs war, und man erinnerte sich, daß er Augen hatte, unter denen es einem leicht unbehaglich wurde. So ging man besser in den Staatsforst, wo die Beamten keine Zauberbretter unter den Füßen trugen und wo die Gebräuche selten waren, die Bildermann den Ländern jenseits der Polarkreise zuschrieb.
Verließ Thomas ein paar Stunden später das Haus, so achtete er wohl auf die Fährten wie sein Vorläufer, aber seine Augen nahmen noch andere Dinge wahr, und mitunter blieb er lange in ihren Anblick versunken, fast verloren, in die langen Fichtenschatten über einem Lärchenhang, in das Geflecht eines Haselnußstrauches, der, mit lockerem Schnee beladen, sich wie ein Scherenschnitt in den roten Morgenhimmel hob, in eine ferne blaue Wälderlinie, vor der ein Haus mit tiefem Giebel stand, und der Rauch stieg langsam und gerade über die Wipfellinie hinauf, wo die Sonne ihn rötlich wie eine Wolke durchglänzte.
Es schien ihm, als wisse er nun erst, was Stille sei, der tiefe Atem eines Daseins, das nichts wollte und begehrte, nichts zu bedauern und sich an nichts zu erinnern hatte, das nicht fröhlich oder traurig war gleich einem menschlichen Herzen, sondern das abrollte wie eine Sternenbahn, groß, weil es ein Gesetz erfüllte, und gut, weil es notwendig war. Friede ging von ihm aus wie von allem Vollendeten, und sichtbarer als in der menschlichen Welt war hier, daß der Tod in das Leben verschlungen war, so tief verschlungen wie das Netzwerk auf einer Kugel, wo der Horizont kein Ende ist, sondern nur die flüchtige und immer wechselnde Grenze zwischen dem Beleuchteten und Unbeleuchteten, und überall ist immer Tag, und überall ist immer Nacht.
Auch verließ Thomas nun häufiger die ihm vertraute Landschaft. Die überall gleiche weiße Decke verlockte ihn ins Unbekannte, und schoben sich Hügel und Wälder allzu hindernd in seinen Weg, so brauchte er nur zu einem der schmalen Bänder hinunterzugleiten, mit denen die zahllosen Seen sich eben und spurlos durch die Landschaft flochten. Es kam nun vor, daß er in einem fremden Dorf einkehrte, daß er mit fremden Menschen ein Wort wechselte, ja daß er Meinungen und Begebnisse in sich aufnahm und sie überdachte, ehe er wieder in seine Stille zurückkehrte. Aber das meiste war, wie es gewesen war, ohne Freude und ohne Frieden. Die Raben flogen noch immer um das Land, es gab wenig Hoffnung in den Gesichtern, die er sah, und das Leben trieb wie ein Schiff ohne Steuer und Masten dahin. Der Wind bewegte es, und die Windstille hielt es an, aber alle Küsten lagen hinter Nebeln. Propheten standen auf der Brücke und weissagten, aber vor dem Mast standen andere und weissagten den Untergang der Weissagenden, und die Kinder liefen müde von einem zum andern, ob nicht aus den Weissagungen Brot wachsen würde. Aber es wuchs nur Verzückung oder Haß.
Müde kehrte er dann heim, oft erst um die Dämmerung, sah das Licht der Lampe auf den Schnee hinausscheinen und wußte, daß der Raum des Friedens nur so groß war, wie seine Arme ihn umspannen konnten, daß immer der einzelne beginnen müsse, ehe viele aufbrechen dürften, und daß erst aus der unendlichen Mühe Weniger und Hingegebener ein Wort oder eine Tat reifen könne, so wie der Wein nicht aus einer Traube fließe, sondern erst aus der gehäuften Kelter.
Bildermann hatte den Tisch gedeckt und das Feuer geschürt. Die Lampe brannte, die Weltkugel hing im freien Raum, und die Bücherreihen sahen ernst herab, eine immerwährende Mahnung, daß die Menschheit sich Mühe gegeben hatte, Tausende von Jahren lang, und daß alle Mühe nicht verhindert hatte, daß der Tod über die Erde ging, der Unfriede, der Haß, die Verzweiflung. Aber daß auch alles dieses nicht verhindert hatte, daß man sich weiter Mühe gab, als liege es nur an einem Zauberwort, das zu finden sei, und einmal, vielleicht morgen, vielleicht in der Ewigkeit, werde es gefunden werden.
Dann spülte Bildermann das Geschirr und setzte sich mit seiner rätselhaften Arbeit vor den Herd: große Rahmen, zwischen die er Drähte spannte, Spulen, die er umwickelte, seltsame Lampen, die er grübelnd in der Hand hielt, ehe er sie hier und da befestigte. Er bat, ihn nicht danach zu fragen, bevor es fertig sei oder in den See geworfen werde, und dazwischen hob er seine »Meeraugen« auf und blickte auf die Weltkugel oder auf seinen Herrn, der über einem Buche saß, die Stirn in beide Hände gestützt, oder müde ins Feuer sah, in dem die leisen Stimmen des verkohlenden Holzes klagten und sangen, leiser wurden und sich wieder erhoben. Der Wind stieg im Schornstein auf und ab, der Schnee trieb an die Fensterscheiben, fern in den Wäldern riß der Frost einen Baum auf, oder ein langer Spalt öffnete sich mit gellendem Schrei im Eise der Seen.
Dann sahen sie beide auf und lauschten hinaus, aber die Insel bebte nicht unter ihren Füßen, das Dach schwankte nicht, die schwarzen Balken spannten sich unerschüttert über ihnen, und das Pendel der Uhr ging eintönig durch die Stille, maß die Stunden, ließ die Zeiger rücken und gab nicht zurück, was es gemessen hatte.
Thomas schob das Buch zur Seite, legte den Kopf gegen die Lehne seines Stuhles und sah zu den Balken der Decke hinauf. Wo gingen die Füße nun über die Erde, die lange neben ihm gegangen waren? Die Frau schwieg, und er wußte von ihrem Leben soviel wie von dem der Seidenschwänze, die eines Morgens auf den Eichenwipfeln saßen und am Mittag verschwunden waren, ohne Spur und ohne Laut. Joachim schrieb, daß es ihm gut gehe, daß sie bald mit den schriftlichen Arbeiten beginnen würden und daß er sich nicht fürchte. Der Direktor sei ihm immer noch wohlgesinnt, und eher würde er wohl einen der Pauker durchfallen lassen als ihn. »Dein gehorsamer Sohn Joachim von Orla« stand darunter.
Er lächelte und klopfte seine Pfeife aus. Es war hübsch, daß er so schrieb, aber gehorsame Söhne gab es wohl nur noch in Briefen. Die Zeit war über sie hinweggegangen.
Auch das Kind schrieb, oft, jede Woche. Es schrieb, was es tue und lerne, sehe und höre. Aber nicht, was es dachte. Es blieb Thomas überlassen, das aus den geraden Schriftzügen herauszulesen. Ja, sie wisse nun schon ungefähr, wie man in einem Laden etwas bestelle, was man haben möchte, auch wie man es nicht nehme, wenn es einem nicht gefalle. Auch wie man einen Wagen heranwinke und mit einem Besuch spreche, der zur Großtante wolle. Und sie wisse, wie es sei, wenn in einem Konzert die Bögen aller Geigen sich gleichzeitig erhöben und man darauf warte, daß der nächste Ton einen in der Brust schmerze.
Jede Woche gab es Neues zu melden, an Kenntnissen und Erfahrungen, aber von dem, was Thomas wissen wollte, stand wenig in den Briefen. »Ich bin ganz gehorsam«, war etwa unten an den Bogen gefügt, oder »Ich habe von der Insel geträumt«, oder »Laß den Großvater nicht soviel allein am Feuer sitzen.« Auch daß die Großen beschlossen hatten, sie solle in den zwei Jahren nicht nach Hause kommen, weil der Abschied ihr dann zu schwerfallen würde. »Hierin haben sie recht«, hatte sie dazugefügt.
Thomas antwortete ihr regelmäßig. Er hatte so wenige Briefe zu schreiben. Er erzählte das wenige, was sie erlebten, aber er erzählte es liebevoll und umständlich. Er vergaß keinen Schneefall und kein großartiges Abendrot, auch keine von Bildermanns kleinen Geschichten, die er aus der Seekiste seines Lebens auspackte. Er vergaß auch nicht, zu schreiben, was er las, und daß sie zwölf Fallen gegen die Mäuse gebaut hatten, denen das Garn der Netze so gut zu schmecken schien. Nach seinen Briefen schienen sie in einem verschneiten Garten Eden zu wohnen, wo sie die Dompfaffen, Meisen und Hasen fütterten, wo sie sich die Eiszapfen aus den Haaren brachen und der Engel mit dem Feuerschwert vor der Schwelle stand, um niemanden zu ihnen hereinzulassen. Er wußte nicht, daß das Kind jeden letzten Brief unter seinem Kleid auf dem bloßen Herzen trug und daß das Hoffräulein außer Diensten einmal in der Woche ihm zärtlich über die Wangen strich und sagte: »Nun, meine Liebe, wieder Thomastag heute?«
Vielleicht würde er es auch nicht geglaubt haben, denn die letzten zehn Jahre waren hart für seinen Glauben gewesen, für den an eine göttliche Weltordnung wie für den an die Menschen. Er hatte zu viel gesehen, und seine Augen waren immer noch scharf. Auch wurden seine Gedanken immer furchtloser und zeigten immer mehr den zähen und fast erbitterten Drang, eine Sache zu Ende zu denken, nicht nur bis zu den festen Grenzsteinen des Herkömmlichen, der Tradition oder der Pietät, sondern darüber hinaus, ganz weit hinaus sogar, so weit wie ein Gedanke überhaupt nur laufen konnte, ehe er an den Grenzen der menschlichen Vernunft niederfiel und sich ergab.
In der Ordnung aber, die er sich so erdachte, hatte der Mensch ein anderes Gesicht als das, wovon man in seiner Jugend gesprochen hatte. Und es schien ihm, daß auch Gott nicht mehr das gleiche trüge. Es war, als zöge es sich immer weiter zurück von diesem blutigen Stern, als würde es immer starrer und unnahbarer, ja als fließe es ganz in der Ferne langsam mit dem zusammen, das etwa über dem Erbarmungslosen der Natur stand, über den lautlosen Schlachten der Tiefsee oder der glühenden Dämmerung der tropischen Urwälder. Als stehe es nun auch ebenso über den wirren Wegen der Menschheit, ja über dem verschlungenen Leben des einzelnen. Über den zerrissenen und verbrannten Körpern zu beiden Seiten der verrosteten und zerfallenen Drahtverhaue; über den grauen, weit offenen Augen derer, die auf den Ozeanen unter den schreienden Vögeln trieben oder längst in die Tiefe gesunken waren; über den endlosen, schweigenden Zügen der Kinder, über denen der Finger des Hungers aufgehoben war oder das Messer des Schlächters.
Als stehe es über allem diesem so streng und eisig wie ein erzenes Götterbild oder so glühend wie ein Moloch, Augen ohne Wimpern, ein Mund, der nicht lächelte oder weinte, ein Ohr, das nichts vernahm. Als sei dies Gesicht nichts als die bleiche Form eines unerbittlichen Gesetzes, vor dem die Träne nicht mehr war als der Regen oder Tau und der Schrei nicht mehr als der Donner der Woge und das Stöhnen ganzer Städte und Reiche nicht mehr als der flüchtige Laut des Windes, der über die Oberfläche eines von tausend und aber tausend Sternen ging.
Nein, es war ihnen beiden nicht mehr viel geblieben von der schönen Zeit, in der sie Gott gebeten hatten, ihre Holzsäbel zu segnen, und auch nicht viel von der anderen Zeit, in der die Priester aller Religionen gebetet hatten, daß Gott ihre stählernen Klingen und die Münder ihrer Kanonen segnen möchte. Es war ihnen nichts als ein bitterer Bodensatz geblieben. Sie wußten, daß Blut anders schmecke als Wein und daß die Augen der Toten gebrochen waren. Sie hatten Schiffe im Feuer zu den Sternen fliegen sehen und Menschen hinter Gittern, die um Abfälle kämpften, über die die Füße der Tiere verachtend hingingen. Sie erkannten Gesetz und Ordnung auch darin, aber sie wollten es nicht mehr ein göttliches Gesetz und eine göttliche Ordnung nennen. Es schien ihnen Namen in allen Sprachen zu geben, die das besser und richtiger und deutlicher benannten.
Sie rühmten sich nun dessen nicht etwa, es war ihnen sogar beiden, als hätten sie etwas verloren, was ihnen lieb gewesen war und womit sie ausgezogen waren zur Eroberung dieser Welt. Einen guten Kameraden, wortkarg, aber immer da, immer zuverlässig, der nie fragte, aber den man alles fragen konnte, so spärlich auch seine Antworten waren. Sie hatten manche Stunde nur dadurch bestanden, daß er da war, und manches nur tun können, indem sie vergaßen, daß er da war. Nun waren sie allein nach dem großen Schiffbruch, vorläufig noch zu zweien, aber einmal würden sie ganz allein sein, nur auf das eigene Herz gestützt. Sie sahen ohne Spott auf die anderen, die ihn immer noch neben sich gehen sahen, aber auch ohne Wehmut. Sie sahen nur mit stillen Augen zu, wie es nun weiter sein würde mit den andern und wie lange der Stille noch bei ihnen bleiben würde.
Sie hatten die Jahre entgegengenommen, wie sie ihnen gereicht worden waren. Sie hatten überhört, was man dazu an Reden oder Deutungen mitgereicht hatte. Die Gabe selbst hatte ihnen genügt, und sie hatten sich ihren eigenen Vers darauf gemacht. Er war anders als die öffentlichen Verse, nüchterner und kürzer, aber sie wußten, daß sie damit auskommen mußten, und sie kamen eben aus.
Auch mit dem Weihnachtsabend, der so still über die Insel kam, als lebten sie auf einem Leuchtturm. Der General war zu seinem Enkelkind gefahren, und er hatte sogar gefragt, ob Thomas ihn begleiten wolle. Aber dieser hatte den Kopf geschüttelt. In der Frühe war ein großer Korb vom Schloß gekommen, eine Kiste von Frau von Orla und ein Päckchen von Marianne. Johann hatte mit Bildermann die Kiste ins Haus getragen und am kleinen Herd gedankenvoll in dem Glühwein gerührt, der auf dem Feuer heiß wurde. »Wat schall wi mit'n Boom?« hatte er düster gesagt. »De olle Gnädge hefft ihr mitnamen, unn nu hucke wi as de Aape op'm Tuhn.« Auch für Affen seien zwei Jahre eine kurze Zeit, hatte Bildermann tröstend gemeint, er habe gehört, daß die großen Sorten sehr alt werden könnten. Aber Johann blieb beim Kopfschütteln, und nach dem dritten Glase band er sich den Schal wieder um den Hals und stapfte durch den Schnee davon. Der Schlitten, den er hinter sich herzog, sah aus wie ein Kinderspielzeug.
In der Dämmerung war Thomas noch im Forsthaus gewesen und hatte ihre kleinen Gaben auf den Tisch gelegt. Oben war der ruhelose Schritt hin und her gegangen, und die Diele hatte noch immer geknarrt. Der Alte hatte am Ofen gestanden und auf die Eisblumen an den Fensterscheiben gesehen. »Ja, lieber Herr«, hatte er gesagt, »sie meinen ja nun alle, daß der Stern nur für die Dummen sei, oder daß er untergehe oder auch niemals geschienen habe. Ich denke, daß vieles untergegangen ist oder auf dem Wege dazu ist, aber der Stern, lieber Herr, der Stern steht immer noch über allen dunklen Häusern … und die Heiligen Drei Könige, lieber Herr, was sollten sie denn anfangen, ohne ihren Stern? Und die Toten, die heute wiederkommen, um eine Stunde bei ihrer Mutter zu sein, wie sollten sie den Weg finden ohne den Stern?«
Er stand da, groß und gebeugt, das Haar nun schon über die Schläfen hinaus weiß geworden, aber seine Augen waren immer noch die gleichen, glänzend, wie alle Kinderaugen es an diesem Abend waren, wiewohl die Schritte über der Zimmerdecke nicht das Weihnachtsfest verkündeten.
Ja, er wolle einmal herüberkommen, gern. Nur die Gräber und die Gefängnisse seien wohl so still wie sein Haus.
Langsam ging Thomas zurück. Es schneite immer noch, und als er auf dem Eise war, gab es keine Wälder mehr in der Runde, nur die weiße Glocke, die über ihn fiel. Der schmale Steig lief vor ihm her und ein Stück hinter ihm zurück. Anfang und Ende waren ausgelöscht, und dort, wo sie einmündeten in die weiße, rieselnde Wand, war der Rand der Welt. Dann stand das Licht auf der Insel plötzlich da wie ein Stern über dem Horizont, unruhig zuerst und wieder verweht, bis es mit ruhiger Flamme leuchtete, immer wachsend, eine Verheißung auch über ihrem grauen Dach.
Bildermann hatte den Baum geschmückt und die Kistendeckel abgehoben. Nun zündete er die Kerzen an, und sie saßen beide am Herd und sahen zu, wie die Silberfäden leuchteten. Sie sangen nicht, sie lasen auch nicht die Weihnachtsgeschichte. Sie schwiegen, und ein Hauch von dem Munde des Heiligen Kindes mochte wohl auch über ihre Augen gehen. In ihrer beider Leben gab es manches, an das sie sich zu erinnern hatten.
Dann packte Thomas aus, und sie standen nun doch verwundert da, als sie sahen, wieviel an zwei einsame Männer gewendet worden war. » For ever, kleines Fräulein«, sagte Bildermann, »das sollst du mir nun glauben …«
Thomas aber stand vor der dünnen Holzplatte, die sie auf den Tisch gehoben hatten, und blickte auf die Insel hinunter, die vor ihm zwischen Land und Wasser sich aufhob. Das Wasser war blau, die Wälder standen zollhoch in der Runde, aus einer grünen, weichen Masse geformt, der Sand des Ufers leuchtete, das graue Dach neigte sich tief über die Fenster, und auf dem nadeldünnen Flaggenmast stand ein großer goldener Stern. Er leuchtete hoch über diesem Werk einer jungen, scheuen Liebe, und auf dem dünnen Landungssteg, über dem winzigen Abbild der Boote, glaubte Thomas sie sitzen zu sehen, mit ihrer geneigten Stirn und den schmalen Schultern der alten Bilder in der Halle, und zu dem Hause hinaufsehen, aus dem das Licht für sie schien.
»Und wenn wir nichts übrigbehalten hätten, Bildermann, als für sie zu sorgen, würden wir nicht reich sein, Bildermann?«
Der Schnee fiel auf das Dach, es knackte im alten Gebälk, und die Mäuse raschelten im Rohr. Bildermann hatte die Glocken, die er in seinem geheimnisvollen Apparat aus dem Äther aufgefangen hatte, verstummen lassen. Sie hatten etwas heiser geklungen, und mitunter war ein kreischender Laut wie ein Blitz durch die Töne gefahren, aber für sie beide war es doch ein Wunder gewesen. Die Weltkugel neben ihnen schien mit Leben erfüllt, mit einem ganz, ganz fernen Leben, und über knisternde Drähte und schimmernde Lampen fingen sie es ein, in ihre schneeverhangene Öde. Eine Menschenstimme erklang weit, fast von jenseits des Ozeans, Glocken dröhnten zu Ehren des Kindes, und jemand hatte laut und feierlich an ihrem Herd gesprochen: » For unto you is born this day, in the city of David, a Saviour, which is Christ the Lord … and this shall be …« Dann war die Stimme vergangen, zurückgewichen in den unendlichen Raum, vielleicht bis zu den nächsten Sternen, und nicht mehr wiedergekommen.
Bildermann aber erklärte seinem Herrn, daß dies das wunderbarste Welttheater sei, das es gebe. Denn wenn es einem nicht passe, was dort gespielt werde, so drehe man einen Hebel, so, mit einem Finger, und das Theater schweige, tot und dunkel, als habe man sie alle dort plötzlich geköpft. Und statt dessen tauche eine andere Stimme auf, aus einem anderen Lande, und wenn einem die Stimme oder das Land nicht behagten, so schneide man sie einfach mitten durch, und sie seien weg, so wie ein Schiff kopfüber auf den Grund gehe. Aus und fertig.
Wenn sie aber Lust hätten, dorthin zu gehen, wo das kleine Fräulein sei, so gingen sie eben dorthin, und so würden sie wissen, daß auch die Hände des kleinen Fräuleins dabei seien, dieselben, die das Wunderwerk auf dem Tisch gemacht hätten.
»Du bist ein Zauberer, Bildermann«, sagte Thomas.
Ja, sie kamen aus mit diesem Weihnachtsabend. Sie ließen die Kerzen herunterbrennen und tranken auf das Wohl aller Platens, von jenem an, der über die Beresina gegangen war, bis zu dem Kinde, auf dessen zwei Augen der Name nun allein ruhte. Ihre Gespräche waren etwas langsamer als sonst und ihre Augen etwas ernster, weil so viele »stille Leute« zu Besuch bei ihnen waren. Aber sie bestanden auch die stillen Leute, wie sie den Krieg und alles andere bestanden hatten. Die Kerzen waren erloschen, und das Feuer im Herd sank zusammen, aber der goldene Stern auf dem nadeldünnen Flaggenmast leuchtete noch immer, und wenn Thomas in der Nacht erwachte, sah er ihn im dunklen Raum schweben, von der letzten Glut bestrahlt, die hinter der Herdtür zusammenfiel.
Sie kamen auch mit dem Telegramm von Schwester Beate aus, das am Neujahrstag gebracht wurde und in dem auf ein paar dünnen Papierstreifen geschrieben stand, daß Frau von Orla sehr krank sei und den Wunsch habe, auf die Insel zu kommen. Und Thomas möchte telegraphieren, ob er damit einverstanden sei.
Er tat es sofort, und dann holten sie Betten vom Schloß und was Frau von Sperber ihnen sonst auf den Schlitten lud. Thomas und Bildermann fuhren ihnen bis zur Schnellzugstation entgegen, und der General hatte den alten, geschlossenen Schlitten herrichten lassen, in dem Friedrich Christian Ehrenreich von Platen gut über die Beresina hätte fahren können. Er war mit Pelzdecken und heißen Steingutflaschen versehen, und in ihm fuhr Gloria von Orla den langen Weg von der Bahn bis zur Insel, quer durch tiefverschneite Wälder, die an den Glaswänden des Schlittens lautlos vorüberglitten, an dem Forsthaus vorbei, wo die schwarze Frau am Zaun lehnte, und über das Eis des Sees, das unsichtbar unter dem Schnee lag und über das ein schmaler Pfad lief, von kleinen Fichtenbäumchen besteckt.
Sie lag fast ausgestreckt auf dem tiefen Sitz, von vielen Kissen gestützt, eine Pelzkappe mit einem Veilchenstrauß auf dem feuchten Haar, die Lippen immer noch leuchtend rot und die großen, dunklen Augen in tiefem Erstaunen auf die lautlose, weiße Welt gerichtet, die über dem schmalen Wege fast zusammenschlug.
Thomas und Schwester Beate saßen neben ihr. Er hielt ihre Hand, und wenn sie fragte, ob in diesen Wäldern wohl die sieben Zwerge wohnten, so lächelte er und sagte, es könnte schon sein, denn unter diesen hohen Fichten hätten sie schon wunderliche Leute getroffen, aber seine Augen waren auf Bildermanns Mützenbänder gerichtet, der neben dem Kutscher saß, und er verstand nicht, weshalb sie so fröhlich wehten, sondern dachte nur: Drei Jahre … wie kann es nur sein, daß ein Mensch in drei Jahren den ganzen Weg geht, und ich habe nichts gewußt? Und habe mich nicht gekümmert? Und nun ist sie viel stiller geworden als ich und bin doch ausgezogen, das Schweigen zu lernen?
Auch das breite, vergoldete Bett, das sie neben dem Herd aufgestellt hatten, konnte gut aus den Zeiten der Beresina sein, aber Frau von Orla fand es herrlich, und ihre Augen gingen lächelnd von den rußgeschwärzten Balken der Decke zu den goldenen Amoretten, die auf dem rötlichen Holz des Fußendes zärtlich sich aneinanderlehnten. Es mochte wohl sein, daß sie mit diesem Lächeln die beiden Welten begriff, die, aus der sie kam, und die, in der er nun wohl zu Hause war, der in einem tiefen Stuhl am Fußende des Bettes saß und sie schweigend betrachtete.
Sie war nun doch sehr müde. Der Husten quälte sie, und in der Dämmerung verwirrte das Fieber ihre Gedanken. Dann schlief sie ein wenig, und währenddessen erzählte Schwester Beate an dem kleinen Herd im Nebenraum, wie es gegangen war. Ihre Augen füllten sich noch immer schnell mit Tränen, aber sie wußte nicht, ob der Tod daran schuld war, dessen Schatten sie schon weithin über den verschneiten See fallen sah, oder der kleine, so bescheidene Raum, mit den Wassereimern, den Rudern in der Ecke, dem dürftigen Lager Bildermanns und den beiden Männern, die auf sie hinunterblickten, die einmal groß und frei über alle Meere gefahren waren und die nun hier in der Öde lebten, so allein wie zwei Tiere in der Dickung, und die Augen bekommen hatten, als wäre die ganze Welt für sie versunken.
Aber wußte sie denn, wie es gegangen war mit Frau von Orla? Sie hatte gelebt, wie sie immer gelebt hatte, schnell, hungrig, wie eben Kranke leben, die mehr wissen als die Gesunden. Sie hatte ein bißchen gehustet, zuerst nur am Morgen. Sie hatte keine Freude an den Speisen, die man auf ihren Tisch stellte. Sie rauchte unaufhörlich und … (vor Bildermann gebe es keine Geheimnisse, sagte Thomas) … nun, sie hatte eine Schwäche für ein Glas Sekt und für scharfe, kunstvoll gemischte Schnäpse. Sie stand sehr spät auf und kam sehr spät nach Hause. Sie wollte ihren Körper zwingen, ihr keine Freude zu versagen, aber er begann ungehorsam zu werden und zu mahnen. Die Bettücher waren feucht am Morgen, der Zeiger an der Waagschale ging immer mehr zurück.
Und dann war da noch etwas. Die gnädige Frau hatte wohl viel Freunde, aber sie wußte, daß sie allein war, ganz allein. Und manchmal hatte sie um die Abendzeit am Fenster gestanden und hinausgesehen, so wie ein gefangener Vogel. »So still, Beate«, hatte sie gesagt, »so schrecklich still …« Ja, und dann mußte sie wohl angefangen haben, die Spritzen zu benutzen, nach denen ihre Augen glänzten, nach denen sie sang und die Menschen bezauberte. Aber leise begann der Körper sich zu rächen. Der Körper, der kein Gift haben wollte, sondern der Schlaf und Meeresluft und Speise haben wollte statt der feinen Nadel, die seine Haut zerstach. Schwester Beate hatte es früh gemerkt. Sie hatte geschwiegen, aber dann hatte sie gebeten, gefleht und gedroht. Es war alles umsonst gewesen.
Schließlich war die gnädige Frau beim Arzt gewesen. Sie hatte ihn gut gekannt, und er hatte ihr vielleicht alles gesagt, denn er hatte sie nach der Schweiz geschickt, und für eine Weile war die tödliche Spritze verschwunden. Aber dann waren sie wiedergekommen, der Husten, die durchtanzten Nächte, und plötzlich, wie bei einer unterspülten Wand, war alles zusammengebrochen. Blutflecken waren auf den Spitzentaschentüchern erschienen, Gespenster vor den großen, angstvollen Augen, die Insel war immer näher gekommen, so nahe, daß sie alle anderen Dinge überdeckte, und dann war nur der Gedanke an ihn gewesen, an den Herrn Kapitän, und daß sie dort gesund werden wollte, zwischen den Wäldern und Seen, von denen Joachim so fröhlich erzählt hatte, nur dort allein, und wenn sie auf Stroh in einem Winkel schlafen müßte.
»Nimm die Schneeschuhe, Bildermann«, sagte Thomas, »und laufe zum Schloß. Sie möchten morgen früh den Arzt schicken, den aus dem Kirchdorf. Sie sollen sagen, daß er mit dem Schlitten bis an die Insel fahren kann.«
Dann saß er wieder an dem goldenen Bett und hörte den schnellen Atemzügen zu, die den Raum wie der Flügelschlag eines Vogels erfüllten. Das Feuer brannte wie sonst, die Bücherreihen schimmerten, die Weltkugel und in der dunklen Ecke über dem Tisch der goldene Stern. Die Nacht stand weiß und bläulich vor den Fenstern, ohne Laut, nur in den alten Balken grub und pochte der Wurm.
Dazwischen sprach die Kranke leise und hastig vor sich hin, ohne Angst oder Qual, nur wie ein eiliger Mensch, der etwas verloren hat, der sich aufmachen soll auf einen langen Weg, gleich jetzt, und der doch nicht aufbrechen kann, ehe er das Verlorene gefunden hat.
Es war wenig von dem zu verstehen, was sie sagte, und das wenige flog unruhig über dem Meer der Erinnerung hin und her. Das meiste waren Bilder aus der Jugendzeit, aus dem großen Haus mit den vielen Geschwistern und dem Elternpaar, das so viele Luftschlösser baute und dem doch alles zwischen den Fingern zerrann, was gehalten, geformt und bewahrt werden mußte. Die düsteren Jahre des Krieges zogen vorüber und die wilden, durchtanzten und durchlärmten, die ihm folgten. Aber sie zogen so schnell vorüber wie eine rasende Strömung, nur an den Trümmern zu ermessen, die sie mitführte.
Überall aber hinter den Türen des Fiebers stand Thomas. Ein Schatten, der nicht zu greifen war, ein Phantom, das seine Form wechselte und verlor und an dem nur die Augen unveränderlich waren, der mahnende, haltende Blick, ohne ein Wort des Vorwurfs, aber brennend wie die wildeste Reue.
Er sah, wie die Mundwinkel bebten, und er wußte nun, daß das Weinen ihnen immer näher gewesen war als das Lachen. Nun, da es zu spät war, wußte er vieles, und einmal würde er Zeit haben, auch das Letzte zu bedenken. Nicht so einfach war es also, ein Leben beiseite zu lassen, wie er gemeint hatte. Recht und Unrecht waren nicht so zu scheiden, wie Kinder sie zu scheiden pflegten, und der Fliehende war wohl nicht immer der Verfolgte. Schuld war schon in jeder Berührung eines anderen Lebens, in der ausgestreckten Hand, im zusprechenden, tröstenden oder liebenden Wort. Es band schon, es ließ schon zusammenwachsen, und aus jeder Lösung sickerte Blut, das sich nie mehr ersetzte, das das andere Leben schwächte und es dem preisgab, was immer bereit stand, immer auf der Lauer: jener dunklen Macht, für die sie so viele Namen hatten und die doch nur das Gesetz war, nach dem das Rad jedes Lebens immer am schwächsten Punkt zerbrach.
Schwester Beate schlief auf der Erde neben dem goldenen Bett, und für Thomas hatte Bildermann ein Lager im Nebenraum zurechtgemacht. Die Tür war nur angelehnt, und von Zeit zu Zeit hörten sie die leise Stimme suchend durch die Dunkelheit gehen.
»Wir waren zu sicher, Kapitän«, sagte Bildermann leise. »Haben nicht gelotet … nun sitzen wir auf Grund …«
»Ja, Bildermann«, erwiderte Thomas.
Der Doktor kam in der Frühe. Als er in seinem Pelz, der bis zur Erde reichte, das Ufer heraufkam, ein großer, schwerer Mann mit einem Mund ohne Lächeln, sah er aus, als trüge er alle Schicksale auf seinen Schultern, die in einem langen Leben durch seine Hände geglitten waren. Auf dem halben Hang blieb er einmal stehen und sah sich um in dem ungeheuren Schweigen, als wollte er erkennen, ob dies ein passendes Feld für den Tod sei, diese Insel, die so gestorben aussah wie alles in der Runde, aber über deren Schnee doch ein paar Fußspuren liefen, auf der ein Haus stand, über dem der Rauch sich gerade in die Luft hob, und auf deren Ufer die umgedrehten Boote wie Särge lagen.
Thomas führte ihn zuerst in den Nebenraum, wo er seinen Pelz ablegte und die Hände über dem Feuer erwärmte. Er nickte zu dem kurzen Bericht, sah Thomas aufmerksam an und fragte, ob er hier für immer zu bleiben gedenke. »So, so«, sagte er dann nur. Ja, manchmal komme das vor, der mönchische Trieb im Mann, wie er das nenne. Es sei nicht der schlechteste neben den anderen, etwas problematischen Trieben.
Dann ließ er sich zur Kranken führen.
Sie war mit dem Farbstift über ihre Lippen gefahren und hatte die schmale Perlenkette umgelegt. Nun lächelte sie, als habe sie ein Kind geboren und empfange die ersten Besuche. Aber es ging ein leiser Schauer von diesem Lächeln und diesem Schmuck aus, als habe man ein totes Kind geschmückt und das Lächeln auf seinen Zügen gefrieren lassen, und Thomas wandte sich um und trat ans Fenster, wo die Sonne nach vielen grauen Tagen wieder rot über dem Walde stand.
Der Arzt saß neben dem goldenen Bett und sah die Kranke schweigend an. Sie lächelte noch immer, aber in ihren Augenwinkeln stand nun, kaum sichtbar, ein leiser Spott, so leise, als sei er nur für den Arzt da, für den einzig Wissenden, eine Art von Geheimsprache, in der lautlos das gesagt wurde, was nur sie beide verstanden. Der Doktor sah es, und einen Augenblick lang schien es, als nicke er ihr zu, zum Zeichen, daß sie recht habe und daß sie beide nun diese letzte Komödie gut zu Ende spielen wollten, die einzig Erwachsenen unter den kindlichen Zuschauern.
Aber dann ließ er sich von ihren Beschwerden erzählen, was sie lächelnd und gehorsam tat, indes er fast nachlässig ihren Puls fühlte, bis er plötzlich das Nachthemd an ihrem linken Arm zurückstreifte und mit dem Zeigefinger über die feinen Narben fuhr. Sie wollte den Arm zurückziehen, und statt des Lächelns lag plötzlich die graue Angst um ihre Lippen, aber er nickte nur, und auch in seinen Augenwinkeln schien plötzlich dieser leise, fast verächtliche Spott zu stehen, das Wissen um die kleinen, törichten Umwege der Menschen. »Wie lange?« fragte er nur, nickte und sagte dann leise, wenn sie nichts mehr da habe, solle sie es ihn wissen lassen.
Dann erst begann er mit der Untersuchung.
Sie müsse über diesen Berg gebracht werden, sagte er nur, als sie wieder erschöpft in ihren Kissen lag, und dann sofort in die Schweiz. Ganz andere als sie seien dort wieder gesund geworden.
Sie sah mit leuchtenden Augen zu, wie er zwei Rezepte schrieb, aber als er dann aufstand und sich verabschiedete, stand wieder nur dieses leise Blinzeln in den Augenwinkeln.
Es ging ihm nach bis zu der schmalen Zwischentür, die Thomas vor ihm öffnete, zwang ihn, noch einmal zurückzublicken und nötigte ihn noch einmal, es schweigend zu erwidern.
»Tapfer«, sagte er im Nebenraum in das Feuer hinein, über dem er wieder die Hände wärmte, »sehr tapfer …«
Ob Hoffnung sei, fragte Thomas endlich. Nein, Hoffnung sei keine. Natürlich nicht. Sie müßten es ihr nur leicht machen, auch mit den Spritzen. Wieviel sie noch da habe? Schwester Beate meinte, daß es für vierzehn Tage wohl ausreichen werde.
Er dachte nach und nickte. Es werde genügen, sagte er und sah Thomas wieder aufmerksam an. Den letzten Weg solle man immer leicht machen, setzte er hinzu. Das Leben mache es den Menschen ja schwer genug, und wohin der letzte Weg führe, das wüßten sie ja alle nicht ganz genau. Oder ob Thomas es wisse?
Nein, er wüßte es nicht.
Dann halfen sie ihm in den schweren Pelz, und Thomas brachte ihn zum Schlitten hinunter. Die Sonne stand noch immer niedrig über dem Walde und ließ das rote Licht über die weiße Fläche fließen. Es war kalt, und das Haar der beiden Pferde war dicht bereift.
Der Doktor zog die Pelzdecke hoch und reichte Thomas die Hand. »Wenn es wahr ist, mit der ›Krone der Schöpfung‹«, sagte er, »dann ist es eine bescheidene Schöpfung. Hätte besser gemacht werden können … übermorgen gegen Abend komme ich wieder vorbei.«
Es ging schnell abwärts, so schnell, als sei der Tod schon fertig gewesen und habe nur keine Zeit gehabt, die letzten Fäden zu durchtrennen. Nur nach dem Morphium gab es mitunter noch eine helle, klare Stunde, mit einer spielerischen Fröhlichkeit erfüllt, als sei das Ganze nur ein Scherz, eine kleine Komödie zum Fürchtenmachen, aber nun solle es wieder gut sein mit den ängstlichen Kindern, die ihr erschreckt zugesehen hatten.
In solch einer Stunde fuhr Bildermann sie einmal ganz um die Insel herum. Sie saß auf dem kleinen Schlitten, den sie mit einer Lehne ausgerüstet hatten, in Pelze und Decken gehüllt, und Bildermann schob sie vor sich her durch den unberührten Schnee. Es war um die Mittagszeit, die Sonne schien, und es tropfte von allen Bäumen. Sie ließ sich alles erzählen: wo das Schloß lag, wo sie die Netze stellten und wo die Reiher am Abend saßen. Sie war so leicht auf dem Schlitten wie ein Vogel, und auch ihre Stimme war wie die eines Vogels, kein Gesang mehr, sondern ein müdes Zwitschern, allein und verloren in der ungeheuren Einsamkeit wie der dünne Ton der Seidenschwänze, die für ein paar Stunden hier einkehrten, aus dem hohen Norden wahrscheinlich, und dann wieder verschwanden, man wußte nicht, wohin.
»Bildermann«, sagte sie, als das Haus nicht mehr zu sehen war, »Thomas wird vielleicht denken, daß ich hier liegen möchte. Aber Sie müssen ihm sagen, daß ich das nicht will. Diese Insel ist zum Leben da, für euch beide, und ein Grabstein ist etwas, worüber man immer stolpert. Wie ein Läufer, der nicht ordentlich festgemacht ist. Drüben, wo die Frau am Zaun stand, dort wird es einen guten Platz geben. Dort habt ihr mich nicht zu nah und nicht zu weit. Sie versprechen es mir, Bildermann?«
Ja, er versprach es.
»Und noch eins, Bildermann. Ich habe ein Testament gemacht. Ich habe eine ganze Menge gerettet aus jenen dummen Jahren da. Ich denke, daß er hierbleiben wird, und Sie müssen zusehen, Bildermann, daß Sie bei ihm bleiben, hören Sie? Er ist so still, daß er besser nicht allein bleibt. Mit mir war es nichts, ich war nicht die Rechte dazu, aber Sie werden schon aufpassen, das weiß ich. Ich habe Ihnen ein kleines Legat vermacht, Bildermann … nein, nein, Sie sind zu Hause geblieben, damit ich tanzen konnte, ich weiß das ganz gut, und … ich werde ruhiger fortgehen können, wenn ich weiß, daß Sie hierbleiben. Versprechen Sie es mir, Bildermann?«
Er versprach auch dieses, und dann trug er sie auf seinen Armen wieder hinein. Er erinnerte sich, wie sie vor ihm gestanden hatte, unter den Kiefern des Gartens, und in ihrer Tasche nach einem Geldschein für ihn gesucht hatte, indes vor dem Tor der blitzende Wagen wartete. Er sah die feuchte Schläfe dicht vor seinen Augen, auf der die feinen, blauen Adern sich kreuzten, und er biß die Zähne ein wenig zusammen, als er es sah. » Never mind, Frau Kapitän«, sagte er leise auf der Schwelle, »wir werden schon vor dem Wind bleiben.«
Sie ließ den Kopf etwas zur Seite gleiten, so daß ihre Wange auf seiner Schulter lag, und lächelte ihm zu. Ihre Augen waren dicht unter den seinigen, und er hielt den Atem an, daß kein Hauch ihren feuchten Spiegel trübe.
In solch einer Stunde auch, nur um die Abendzeit, fragte sie Thomas, wo der goldene Stern über dem Abbild der Insel herkomme.
»Sie war bei mir«, sagte sie, als er es erzählt hatte. »Kurz bevor ich hierher kam. Sie wollte wohl sehen, wie eine Frau aussieht, die ihren Mann allein läßt. Sie war sehr scheu, aber in der Tür kehrte sie noch einmal um, kam zurück und sagte: ›Bitte, bitte, fahren Sie einmal hin … sie sind beide auf dem Ozean …‹ Sie küßte meine Hand und ging schnell fort … ein wunderliches, schönes Kind … und nun bin ich ja auch gekommen.«
Sie schloß die Augen und strich nur leise mit der rechten Hand über die Decke. »Auf dem Ozean …«, wiederholte sie leise. Dann schlief sie für eine Stunde ein.
Eines Nachmittags kam der General über das Eis, zu Fuß, in seinem langen grauen Mantel, von dem die roten Aufschläge abgetrennt waren. Er kam durch die Hintertür, leise, mit drohenden Augen unter den bereiften Brauen.
Ja, Frau von Orla wollte ihn gerne sehen, wenn er sich nicht fürchte. Er saß vor ihrem Bett, dämpfte seine Stimme, bis sie ganz heiser klang, und las ihr jede Frage von den Augen ab. Das Kind, ja, es sei schön, daß sie es gesehen habe. Es sei alles, was ihm geblieben sei. Eine kleine Frau schon, das einzige Licht auf dieser trüben Welt, das, wozu alle Frauen geboren seien. Ja, sie könne ohne Sorge sein. Die Insel sei Herrn von Orlas Insel, solange er lebe. Ein Offizier und Edelmann, an dem der Große König seine Freude gehabt haben würde. Ein Trost seines Alters, er und das Kind, und wenn die Gnädige wieder gesund sei, so wollten sie das große Boot mit Rosen bekränzen und sie hinüberholen auf die Terrasse über dem See …
»Ein Ritter, Herr von Platen«, sagte die Kranke lächelnd, als er sich verabschiedete. »Es ist schön, vor der letzten Reise einen Ritter gesehen zu haben, mit Schild und Helm und einer verblaßten Schärpe …«
»Lieber Gott uns vergessen, Orla«, sagte er am Ufer. »Nicht nötig das … so jung … Irrtum möglich, auch da oben.«
»Nein, Herr General!« erwiderte Thomas leise. »Es gibt keinen Irrtum. Es gibt nur das Gesetz, und das Gesetz ist blind. Ohne Ansehen der Person. So hat es zu sein.«
»Vielleicht, Orla …« Er sah vor sich hin über das Eis. Die Sonne stand hinter der Insel und warf den Schatten des Daches weit über sie hin auf den See. Waldarbeiter gingen in der Ferne quer über die Bucht nach ihrem Dorf. Sie gingen hintereinander, und ihre Äxte und Sägen lagen wie Gewehre auf ihren Schultern.
Sie sahen beide hin. Der Krieg war noch nicht tot. Das Bild von ein paar Männern, die etwas Schmales auf den Schultern trugen, und er war wieder da. Die Erde schlief, aber der Tod schlief nicht.
Thomas wartete, bis die Männer die Bucht überquert hatten und im Walde verschwunden waren. Nun war nur noch die Gestalt des Generals auf dem Eis. Sie wurde immer kleiner, wie ein Mann, der fortging und niemals wiederkommen würde, und ihr Schatten ging lang und waagerecht neben ihr her.
Am zwölften Tage sahen sie, daß es zu Ende ging. Um die Mittagszeit wurde die Kranke unruhig und verlangte, im Sessel neben dem Feuer zu sitzen. Thomas trug sie hinein und öffnete die Herdtür, damit sie es wärmer hätte. Er blieb neben ihr stehen, und sie fuhr mit ihren durchsichtigen Fingern einmal leise über seine Hand. »Vergib mir, Thomas«, sagte sie.
Er küßte ihre Stirn und blieb dann auf der Lehne sitzen, den Arm um ihre Schulter gelegt. Sie war nun so mager wie ein Kind. Sie sah an ihm vorbei auf das Fenster, den Kopf an seine Brust gelegt. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und sie sahen zu, wie die Flocken fielen.
Am Abend, bevor sie das Bewußtsein verlor, bat sie, die Weltkugel dicht an ihr Bett zu rücken. Es war dunkel im Raum bis auf die Flamme im Herd, und über die Festländer und Meere ging das unruhige Licht wie von einem fernen Feuer. Er saß an ihrem Kopfende und sah zu, wie ihre durchsichtige Hand sich gegen die Kugel stützte. Es sah aus, als tauche sie die Fingerspitzen in den Indischen Ozean.
Sie ließ die Welt langsam kreisen, so langsam, daß die Längengrade einer nach dem andern mit großen Zwischenräumen über den Horizont kamen. Der Äquator warf einen dunklen, ringförmigen Schatten auf Länder und Meere, und das rote Band der Ekliptik breitete sich aus und verschwand. Ihre Augen folgten still dem leisen Spiel, nur als die Umdrehung einmal beendet war, sagte sie: »So groß die Erde, Thomas, so groß …«
Es war ihm schwer, das zarte, fast schon vergangene Gebilde ihrer Haut auf dem großen Abbild des Lebens zu sehen, und er legte sie sanft auf die Decke zurück, aber ihre Augen blieben noch immer mit einem sehnsüchtigen Glanz auf die nun ruhende Ferne gerichtet.
»So still, Thomas«, sagte sie dann. »Das war es wohl am meisten. Zu Hause, siehst du, wir waren so viele, sechs Geschwister, und die Eltern, und alle waren laut und fröhlich. Und dann war es so still bei dir, auch wenn du nicht auf dem Schiff warst, ja gerade, wenn du zu Hause warst. Sie lachten immer zu Hause, auch dann vielleicht, wenn es nicht recht war … und du lachtest so wenig. Ich war ein dummes Kind. Ich war so jung und ich fror so … ich war nicht schlecht, ich liebte dich auch, aber es war so still, Thomas …«
»Vergib mir«, sagte er, »ich habe es falsch gemacht … ich war zu früh alt, viel zu früh …«
»Nein, nein, Thomas, nimm es nun nicht auf dich allein … hier habt ihr gelebt, ihr beide, so arm und so ›auf dem Ozean‹, und ich habe getanzt und gelärmt … aber weißt du, Thomas … komm ganz dicht heran … das Letzte, das wollte ich doch bei dir haben, das Fortgehen …«
»Sprich nun nicht mehr«, bat er.
»Kein Narr, Thomas«, sagte sie nach einer Weile, »einmal habe ich es gesagt, aber es ist nicht wahr … du nicht, nur wir, auch Joachim, ja …«
»Wir alle, Gloria«, sagte er. »Wir haben zuviel gedacht, und das Letzte ist immer so einfach, ohne Denken …«
Die Augen fielen ihr schon zu, und ihr Bewußtsein begann sich wieder zu trüben. »So einfach …«, wiederholte sie ein paarmal, aber es war wohl nur das Fieber, das so sprach. Und nach einer Weile, mit einem schweren, langen Atemzug: »So still … Thomas …«
Dann sprach sie nicht mehr. Am Abend begann der Todeskampf, und sie erwachte nicht mehr zur Besinnung.
Sie starb eine Stunde nach Mitternacht. Thomas sah die Zeit, als er das Pendel der Uhr anhielt. Als er vor die Schwelle trat, schneite es noch immer.
Bildermann grub das Grab, neben der Försterei. Er wollte keine Hilfe, obwohl die Erde tief hinunter gefroren war. Auch er hatte manchmal Bitteres gedacht, und es schadete nun nichts, wenn der Schweiß seiner Stirn in das Grab tropfte.
Die dunkle Frau kam von Zeit zu Zeit und sah ihm zu. Sie hatte sich in ein großes schwarzes Tuch gehüllt, und wenn sie unter den verschneiten Fichten näher kam, leise vor sich hinsingend, dachte Bildermann, daß der Engel des Todes wohl so aussehen mochte für die, die an ihn glaubten.
Sie stand am Fußende und blickte mit ihren erloschenen Augen in den rieselnden Sand. » Rolling home, my boys, to windlass …«, begann sie leise. Sie zog die Melodie lang hin wie alte Frauen in der Kirche und wiegte den Oberkörper langsam hin und her, aber Bildermann stieg aus der Grube herauf, faßte sie vorsichtig an und führte sie nach Hause.
Der General hatte für alles gesorgt, und Thomas hatte Zeit, vor der Toten zu sitzen und sie anzusehen. Dazwischen nahm er die Schneeschuhe und fuhr lange durch die Wälder, aber wenn er zurückgekommen war, saß er wieder vor dem schmalen Sarg und sah in das stille Gesicht. Er hatte so viele Tote gesehen, aber dieses war nun anders. Nun, nachdem die Farbe fort war und das Licht der Augen, war es ein armes Gesicht geworden, so arm, als hätte es alles verschwendet, auch den letzten Reisepfennig. Es war nicht traurig oder streng oder abweisend, es war nur ein bißchen verzagt, und die blassen Mundwinkel waren kaum merklich herabgezogen wie bei einem Kinde. Man konnte es nicht ohne Reue ansehen, daß man es nicht besser gehütet hatte, und man glaubte es zudecken zu müssen, damit es nicht friere.
Thomas wußte gut genug, daß es nun zu spät war. Kein Glaube baute ihm die Brücke zu einem Wiedersehen. Die arme Form verging, wie er so viele hatte vergehen sehen, und das, was sie unvergänglich nannten, blieb im Gebrechlichen. In Joachims Blut, in Erinnerungen, in dem Widerschein, den ihr Leben zurückließ. Einen Teil würde er selbst bewahren, einen Teil Joachim, das meiste aber würde vergehen wie eine Abendröte. Man würde wissen, daß sie gewesen war, Menschen, Tiere und Pflanzen hatten sie empfangen, aber das Morgenrot löschte sie aus, und der neue Tag deckte sie zu.
Er erkannte, daß man nicht ohne Schuld in die Stille ging, aber daß man Schuld auf sich nehmen mußte, um zu bewahren, was man allein besaß. Und eine einsame Schuld war besser als ein gemeinsames Behagen.
Der Pfarrer hatte den linken Arm im Krieg verloren, und er sprach zu ihnen in ihren vertragenen Uniformen wie zu Kameraden. Er versuchte nicht, sie zu trösten. Er sprach vom Tode als einer bitteren Frucht, die zu essen ihnen vorgeschrieben sei. Die Fahne wehe immer noch, auch über den Toten, ja gerade über den Toten, und sie hätten sie wieder in die Hand zu nehmen und weiterzumarschieren. Sie wüßten nichts vom Ziel, sie hätten nur zu glauben, daß ein Sinn am Ziele stände. Sie seien gebunden durch ein dunkles Wort, aber einmal sei der Strick zerrissen, und der Vogel sei frei.
Thomas stand zur Seite des Sarges, und wenn er den Blick hob, sah er die Weltkugel, die von ihrer Hand bewegt worden war. Die blaue Fläche des Indischen Ozeans war ihm zugewendet, das Meer, in das sie ihre Finger getaucht hatte, bevor sie auf die letzte Reise gegangen war. Daneben stand der General, mit beiden Händen auf seinen Stock gestützt. Er hatte die weißen Augenbrauen zusammengezogen und sah drohend auf den Sarg wie auf einen Irrtum, den Gott begangen hatte. Hinter ihm sah Thomas den Grafen in der hellblauen Uniform, die sein Vater getragen hatte, und es war ihm, als liege auch in diesem Augenblick das leise schwermütige Lächeln um seine Lippen, mit dem er am Kamin von dem grauen Besucher gesprochen hatte, der »meditierend« dasitze, um das Kommende anzuzeigen.
Joachim war nicht gekommen. Er hatte einen Kranz geschickt und geschrieben, daß er mitten in den schriftlichen Arbeiten sei und nicht fortkönne. Es würde ihn unter Umständen das ganze Examen kosten.
Sie gingen zu Fuß hinter dem Sarge her, die Schlitten folgten. Die rote Sonne stand schon hinter der Insel und warf ihre langen Schatten vor ihnen her. Ein leichter Ostwind kam aus den verschneiten Wäldern und wehte Bildermanns Mützenbänder zur Seite. Am Zaun der Försterei stand die Frau und sang leise das Flaggenlied vor sich hin. Es kam von selbst, daß im Vorübergehen ihre Schritte sich dem Takt des Liedes fügten.
Während der ganzen Feier war der traurige Pfiff des Dompfaffen hoch über ihnen in den Fichtenwipfeln, und die braunen Scheiben der Zapfen, die sie fallenließen, fielen, vom Winde getrieben, langsam aus der blauen Luft in das Grab.
Schwester Beate fuhr mit der weinenden Frau von Sperber ins Schloß. Nein, Thomas wollte allein bleiben, er danke für alles, und in den nächsten Tagen würde er gern einmal vorsprechen.
Er ging mit Bildermann zurück, nahm gleich die Schneeschuhe und kam erst in der Dunkelheit wieder auf die Insel. Die Lampe brannte, das goldene Bett war nicht mehr da, und alles war, wie es früher gewesen war. Sie saßen schweigend am Feuer und rauchten. In der Luft stand noch ein Rest von dem Duft der Kränze und Blumen. Die Uhr ging wieder ihren alten Gang.
»Kanntest du das, Bildermann?« fragte Thomas. »Der Strick ist zerrissen, der Vogel ist frei?«
»Nein, Kapitän.«
»Schöne Dinge stehen in dem alten Buch …«
»Jawohl, Kapitän … aber auch das von der Fahne war schön. Das hatte er aus keinem Buch.«
»Ja, wie war es, Bildermann?«
»›Die Fahne weht auch über den Toten‹, Kapitän … Daran wollen wir uns vielleicht halten, Kapitän, nicht?«
Thomas sah ihn an. »Ja, das wollen wir wohl, Bildermann«, sagte er.