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13

Das Kind war wieder da, aber es war kein Kind mehr. Sie erschraken beide, als sie aus dem Boot ausstieg und das Ufer heraufkam. Sie war gewachsen und hatte ihr Haar im Nacken aufgebunden. Sie trug nicht mehr die alten Kleider, die sie kannten, weil sie ihr zu kurz geworden waren. Sie ging noch immer gerade und neigte das Gesicht zum Gruß wie früher, aber es war zu sehen, daß sie »im Haus des Königs« gewesen war.

Sie empfingen sie bedrückt, und Bildermann nahm die Mütze ab, aber sie sah von einem zum andern, legte die linke Hand langsam in die alte Holzperlenkette und sagte: »Liebt ihr mich denn nicht mehr?« Und mit der vertrauten Bewegung und dem Klang der Stimme, die etwas tiefer geworden war, erloschen die beiden Jahre, und das Leben knüpfte den Faden wieder an, wo das alte Hoffräulein ihn abgerissen hatte. Der Rauch des Kartoffelfeuers schien noch über der Insel zu stehen, das rote Licht der Vogelbeeren in der grauen Luft, die alte, gute Zeit ohne Einsamkeit, Gewalttat und Tod, und Bildermann schwenkte seine Mütze mit den gebügelten Bändern, deren Farbe immer verschossener wurde, und sagte: »Kleines Fräulein, es fällt ein alter, milder Bann auf Friedrich Wilhelm Bildermann.«

Sie führten sie in das Haus, die beiden, die »auf dem Ozean« gelebt hatten, und der Raum schien ihnen nun wieder ohne Gespenster, der Raum, in dem Gloria auf die stille Weltkugel geblickt hatte, wo die Stimme durch das Fenster gekommen war und sie den Feuerschein gesehen hatten und wo der tote Graf gesagt hatte, daß die Sonne sinke. Auf dem Maskenschrank stand das Bild der Insel, an der Spitze des dünnen Flaggenmastes leuchtete noch immer der goldene Stern, und das Kind, die linke Hand auf das Band des Äquators gelegt, sah zu ihm hinauf und wieder zu den beiden zurück und sagte nur: »Ach, Thomas …« Und es klang nicht viel anders, als es vor vier Jahren geklungen hatte, wenn er ihr eine Geschichte erzählt hatte. Nicht viel anders, aber das Hoffräulein würde den Unterschied gehört haben.

Sie tranken den Kaffee vor dem Hause, und sie bemerkten beide, daß sie die Kanne aus Bildermanns Händen nahm und die Tassen füllte. Die Luft war grau und still wie damals, der wilde Birnbaum am Ufer glühte, und die Haubentaucher riefen aus der Bucht. Sie sprach von den beiden Jahren so ernsthaft wie eine gute Schülerin. Ja, sie konnte nun einkaufen und auf der richtigen Seite in eine Straßenbahn steigen. Sie konnte einen Wagen steuern und alle alten und einige neue Tänze tanzen. Sie konnte einen Hofknicks machen und sich in drei Sprachen unterhalten. Sie hatte fremde Länder gesehen und dort erfahren, daß der Sieg nicht immer die Krone des Krieges ist. Und daneben hatte sie einiges gesehen, was nicht gerade in ihrem Stundenplan enthalten gewesen war: Armut des Leibes und der Seele, Schuld und Sühne, Furche und Pflug. Sie hatte alles mit ihren stillen Augen angesehen und es bewahrt. Nicht alles stimmte mehr, was Bergengrün gesagt hatte, aber von dem, was er gewollt hatte, in den Stunden, in denen sie ihn »auf die Fährte« gesetzt hatte, brauchte sie kaum etwas abzustreichen. Und auch der »preußische Traum«, wie der Graf es genannt hatte, war noch immer etwas, worüber man nicht zu lächeln brauchte. Es war erstaunlich, dachte Thomas, wie das alte Blut immer weiter seinen Gang floß.

Sie ging mit ihm um die Insel und bewunderte, was sie alles fertiggebracht hatten. Aber unter den Eichen nahm sie plötzlich mit beiden Händen seine linke Hand und sagte mit einem fast beschwörenden Klang in ihrer Stimme: »Du wirst mich nicht austreiben, Thomas, nicht wahr?«

Er strich mit seiner freien Hand über ihre Hände. »Liebes Kind«, sagte er, »weißt du denn nicht, wie wir auf dich gewartet haben?«

Sie atmete ein paarmal tief auf, die Augen noch immer auf ihn gerichtet. »Ihr wißt nicht, wie ich mich gesehnt habe«, sagte sie nur. »Keiner weiß es.«

Ob es ihr denn nicht gut gewesen sei, zu erfahren, wie es in der Welt zugehe, und Dinge zu lernen, die man hier nicht lernen könne?

Gut? Nützlich wahrscheinlich, aber nicht gut. Die meisten Platens seien unruhig gewesen, und ihre Wege hätten von der Beresina bis zum Oranje-Fluß geführt. In ihr habe sich nun wohl alles gesammelt, was in dem Leben jener zu kurz gekommen sei, und das Glück wohne für sie nur an den Ufern dieses Wassers.

Wie es denn aussehe, dieses Glück?

»Ach, Thomas«, sagte sie, »ich habe es gleich gesehen, daß du anders geworden bist.«

»Alt geworden, Marianne.«

»Nein, nicht alt. Das ist nicht wahr. Aber als ob ihr nicht mehr an das Glück glaubt.«

Er schüttelte den Kopf. »Es liegt daran, Marianne, daß wir nicht mehr siebzehn Jahre alt sind. Unser Glück, an das wir glauben, ist ernst und schweigsam. Noch vor zehn Jahren sah es anders aus, ja noch vor zwei Jahren hatte es ein blaues Band um das Handgelenk gebunden. Ein sehr schmales Band, aber es war doch blau.«

»Und jetzt?«

»Jetzt ist es nicht mehr da. Jetzt kommen wir ohne Bänder aus. Aber das Glück ist immer noch da. Die Leute auf dem Ozean, weißt du, sie brauchen nicht mehr viel.«

»Und was brauchen Sie, Thomas?«

»Frieden, Marianne, und ein fröhliches Herz.«

Sie dachte eine Weile nach, mit zusammengezogenen Brauen. Thomas hatte eine Bank unter den Eichen aufgeschlagen, auf der sie saßen. Über ihnen pfiffen die Eichelhäher leise im welken Laub, und hier und da klopfte eine der braunen, blanken Früchte in das Moos.

»Du betest noch immer nicht zur Nacht?« fragte sie endlich leise.

»Nein.«

»Wir bitten Gott um das, was du sagtest, der Großvater und ich. Wer soll euch schenken, was ihr braucht?«

Er machte mit seiner Hand eine weite Bewegung über das Wasser und die Wälder hin. »Dies hier«, sagte er. »Dies und die Bücher und die Sterne und deine Stimme, wenn wir sie am Ufer hören.«

Sie hatte die Hände im Schoß zusammengelegt und blickte auf sie nieder. »Weshalb bist du nicht in das Haus gezogen, das er dir geschenkt hat?« fragte sie endlich.

»Wir brauchen keinen Besitz«, erwiderte er. »Wir brauchen Arbeit, Armut und ein bißchen Zeit. Und wir denken immer noch, daß wir ein wenig für dich sorgen müssen.«

»Und Joachim?«

»Oh, Joachim ist unterwegs nach den Westindischen Inseln und hält uns für zwei komische Leute, denen der Mast gebrochen ist und die nun so langsam hinter den Siegern ans Ziel schleichen.«

»Ach, Thomas, weshalb bist du so allein?«

»Ich will es dir sagen, Marianne: Weil ich aus einem anderen Zeitalter stamme, nicht nur aus dem vor dem Kriege, sondern noch viel weiter zurück, aus dem Zeitalter der Mönche. Ein paar Orlas sind Äbte gewesen vor langen Zeiten, und manchmal bewahrt das Blut sich lange.«

»Aber sie empfingen kein Mädchen in ihrer Zelle.«

Er lächelte: »Sie empfingen wohl manches, was unsichtbar war und was nur sie allein sahen.«

»Aber sie beteten, Thomas.«

»Weißt du denn, kleine Marianne, was ich denke, wenn ich den Sirius in meinem Fernrohr sehe?«

Sie bat ihn, sie zu den beiden Gräbern zu führen, und er ruderte sie hinüber. Die neue Scheune stand schon da, aber die Haustür war verschlossen. Thomas schien es, als rieche es immer noch nach Rauch.

»Ich war bei ihr«, sagte sie leise vor den beiden Hügeln. »Kurz bevor sie hierherkam. Ich wollte ihr sagen, daß du so allein bist.«

»Ich weiß es, sie hat es erzählt.«

»Sie war sehr unglücklich, Thomas.«

»Ja, sie hat es nicht eingeholt. Sie lief und lief, aber sie holte es nicht ein. Ich war zu still und zu langsam für sie. Ich hätte nicht heiraten sollen.«

Sie sprach nicht mehr, und er ruderte bis zum Ufer des Parkes.

Erst als sie die Waldspitze vor der Bucht erreichten, sagte sie: »Meinst du, daß es wahr ist, was Tante Gabriele gesagt hat: daß ich heiraten muß, ob ich will oder nicht?«

»Weil du die Letzte bist?«

»Ja.«

»Auch ohnedem wirst du heiraten«, sagte er lächelnd. »Nicht nur, damit kein Fremder uns von der Insel treibt.«

»Wenn ich katholisch wäre, würde ich eine Nonne werden«, erwiderte sie. »Das taten doch früher die Töchter aus alten Häusern zuweilen, nicht wahr?«

»Ja, aber nicht, wenn keine Söhne da waren. Auch die Orlas durften nur Äbte werden, wenn sie Brüder hatten. Man muß nicht nur an Gott denken, sondern auch an den Großvater und das Erbe.«

»Ich denke nicht an Gott«, sagte sie und wandte das Gesicht ab.

Es dauerte ein paar Wochen, ehe es ihnen allen schien, als lebe sie wieder wie früher. Doch war sie nun nicht mehr das Kind, das eine Stunde am Tage mit dem General über die Felder ritt, sondern »die Elevin«. Sie wollte lernen, nichts als lernen, und in vier Jahren, wenn sie mündig war, wollte sie »wirtschaften« können. Der General hatte ihr zugehört, zuerst ein wenig belustigt, dann ganz aufmerksam und ernst, und schließlich hatte er ein »Reglement« entworfen, in dem von der Hühnerzucht bis zur Buchführung alles enthalten war, was die Tage und Jahreszeiten erfüllte.

Als Thomas nach dem Fischzug im Advent mit der Jahresabrechnung zum General kam, sah dieser sie durch wie immer, meinte aber dann, er müsse nun auch damit zum Kinde gehen. Auch die Fischerei stehe im Reglement. Und er müsse zusehen, wie er mit der neuen, jungen Herrin fertig werde.

Neben dem Arbeitszimmer des Generals hatte Marianne einen kleinen Raum für sich eingerichtet, mit einem langen Tisch, mit Saatproben, Lesebüchern, Wandkarten und landwirtschaftlichen Katalogen. Hier trug sie mitunter einen weißen Arbeitsmantel, über den niemand lächelte und den die Hoffrauen voller Ehrfurcht anstaunten, als sei das gnädige Fräulein ein »Doktorapotheker«.

Thomas verbeugte sich und bat, dem gnädigen Fräulein die Jahresabrechnung vorlegen zu dürfen.

Sie zog die Augenbrauen etwas in die Höhe, nahm aber schweigend die Blätter aus seiner Hand, wies ihm mit einer Bewegung einen Stuhl an und vertiefte sich wortlos in die Zahlenreihen, den Kopf in beide Hände gestützt.

»In der letzten Augustwoche ist der Fang auffällig zurückgegangen«, sagte sie endlich. »Wie kommt das?«

»In der letzten Augustwoche hat Fräulein Marianne von Platen an die Insel geschrieben, daß sie in vier Wochen heimkehren werde, und beide Fischer haben sich daraufhin außerstande gesehen, ihre Arbeit mit der üblichen Pflichttreue auszuführen.«

»Fischer Thomas von Orla«, sagte Marianne lächelnd, »Sie haben versprochen, allezeit in Treue zu Ihrer Herrschaft zu stehen.«

»Eben deshalb«, erwiderte er. Dann trat er neben sie und erklärte ihr Spalten und Zahlen. Auch fügte er hinzu, daß die Kaufkraft der städtischen Bevölkerung immer mehr sinke und daß wohl zu überlegen sei, ob man den Lohn des Fischers nicht herabsetzen solle. Sie seien nicht am Verhungern, und das Gut könne jeden Pfennig gebrauchen.

Sie hatte ihre Wange an seinen aufgestützten Arm gelegt und hörte mit abwesenden Augen zu. »Ach, Thomas«, sagte sie, »wenn dies alles einmal mir gehört, werde ich dir keinen Lohn geben als ein schmales blaues Band, damit ihr es wieder flattern seht …«

»Kleine Marianne«, erwiderte er nach einer Weile und richtete sich langsam auf, »im weißen Kittel darf man nicht träumen.«

Sie nickte und beugte sich wieder über die Blätter.

Als er sie auf der Insel zusammenheftete, um sie in die Mappe zu den andern zu legen, sah er, daß am untern Rande des letzten Blattes ein paar Zahlen verwischt waren und daß das glatte Papier sich an dieser Stelle gewölbt hatte. Er blickte eine Weile darauf nieder, ehe er mit der Hand darüberstrich und den Deckel der Mappe langsam schloß. Es war ihm, als werde noch einige Zeit vergehen, ehe er von sich würde sagen können, daß er im Frieden sei.

Zum Weihnachtsabend wurden sie in das Schloß geladen. Zwei Jahre hätten sie das Fest wie Geister gefeiert, sagte der General. Nun möchte er das Glas einmal nicht nur gegen Tote und Abwesende heben. Der Mann mit der Sense habe sich zwei Jahre lang um sie gekümmert, und es sei eine alte Erfahrung, daß es ihm auf die Dauer mißfalle, in seine eigenen Spuren zu treten. Sie wollten Wein in seine Fährte gießen und ihn versöhnen.

Thomas wäre lieber allein geblieben, aber der General war alt geworden in diesen beiden Jahren, und das Kind hatte Schatten um die Augen, als sei auch der weiße Mantel mitunter zu schwer für seine Schultern. So sagte er, daß sie gern kommen würden.

Sie hatten an den langen Abenden ein Modell des Kreuzers gebaut, auf dem sie das letzte Jahr gefochten hatten. Thomas war oft verzagt an der Arbeit, zumal alle Teile aus Metall bestanden, aber Bildermann hatte gemeint, Ehre sei Ehre, und so war es fertig geworden. Der Rumpf war aus grauem Eisenblech und fast eine Klafter lang. Aus den schimmernden Panzertürmen ragten drohend die langen Geschützrohre, die man auf und ab und zur Seite schwenken konnte, und wenn man eine Deckplatte aufhob und einen besonderen Zunder anzündete, kam weißer, dicker Rauch aus den Schornsteinen. Die Kriegsflagge war gesetzt, und auf der Brücke stand eine winzige blaue Gestalt, die ein kleines Messingfernrohr vor die Augen hielt. Es war ein Kunstwerk, schimmernd und blitzend und doch noch im Spielzeughaften von einem tödlichen Ernst beschattet.

Sie fuhren es vorsichtig auf dem Schlitten hinüber, und Bildermann trug es wie ein eingewickeltes, erstarrtes Kind in das Zimmer des Riesen, wo er Johann hinter der vorgehaltenen Hand mitteilte, es sei eine Erfindung seines Herrn, eine neue Torpedokonstruktion, und wenn er an dem Bindfaden ziehe, so könne er die Teile des Schlosses und seine eigenen zwischen den Sternen zusammenlesen.

»De Welt vergeiht ok so«, meinte Johann mißbilligend. »Immer so'n Schietkram …« Aber dann hob er unter dem Bett eine Diele an und reichte Bildermann eine flache, viereckige Flasche. »Sparkonto!« sagte er milde.

Inzwischen schmückte Marianne in der Halle den großen Baum, und Thomas reichte ihr Lichte und Silberfäden zu. Die Schwester des Generals war angekommen und hatte einen jungen Freiherrn mit einem langen Namen mitgebracht, einen elternlosen Vetter irgendwelchen Grades, der eben mündig geworden war und ein riesiges Vermögen geerbt hatte. Er blickte durch sein Einglas einigermaßen verwundert auf Land und Leute, war aber sonst ernst und bescheiden und ging nur den drohenden Augen des Generals gern aus dem Wege. »Sie sind so östlich hier, chère tante«, sagte er zu der Hofdame, »als möchten sie mich gern mal vor ihre Kanonen binden.« Aber Fräulein Gabriele blies ungeduldig den Rauch ihrer Zigarre über die Patience, die nicht aufgehen wollte, und ersuchte ihn, sich gefälligst so ruhig zu halten wie Daniel in der Löwengrube. Zu Weihnachten, hatte der General am Morgen zu ihr gesagt, gebe es nur Eisblumen in ihrer Landschaft. Der junge Vetter hätte gern mit Marianne den Baum geschmückt, aber sie hatte kühl erwidert, daß die Halle erst zur Bescherung geöffnet werde.

Das große Haus war still wie ein Grab, und Thomas saß am Kamin und sah zu, wie Marianne die silbernen Sterne in die Zweige hängte. Es dämmerte schon, Schnee fiel draußen, und er dachte an sein graues Dach auf der Insel und an die Gräber, die sie in diesen zwei Jahren gegraben hatten. Manchmal wußte er nicht, ob es der Mühe lohnte. Jedes Jahr kam das Kind aus der Krippe wieder, aber die Toten wurden nicht lebendig davon, und keine Träne blieb ungeschehen, die geweint worden war. Ein bißchen leichter hätte es schon eingerichtet werden können auf dieser Erde, und einen hätte die alte Gräfin wohl behalten können, ohne daß die himmlische Ordnung zerstört worden wäre. Und hätte es nicht ebensogut dies Kind ergreifen können, das die Sterne in die Zweige hängte? Wer sagte ihnen, daß die Schere nicht schon geöffnet war, die nach diesen blonden Haaren trachtete? Wo gab es Sicherheit außer der Sekunde, die man besaß? Und während man sie noch besaß, konnte die Sehne schon tönen, ungehört, und der dunkle Pfeil konnte schon rauschen, der die nächste Sekunde zerschnitt. Nur wer nichts liebte, war dem Schmerz enthoben; aber wer nicht liebte, war tot.

Das Kind war fertig mit seiner Arbeit und setzte sich auf die Lehne seines Sessels, die Hände im Schoß gefaltet. Es war schon so dunkel, daß man meinen konnte, hinter den Silberfäden des Baumes beginne der Wald. Vor einem der Insthäuser sang eine hohe Kinderstimme in den Abend hinein, immer leiser werdend, als decke der Schnee sie zu. Die Flamme im Kamin glitt bläulich an einem schweren Birkenscheit entlang.

Thomas hatte die Schläfe an Mariannes Arm gelegt. Es war nun Zeit, aufzustehen und im Hause zu melden, daß alles fertig sei, aber niemals würde dies wiederkommen. Wenn er aufstände, würde er alt sein, uralt, wie der Mann aus dem Märchen, der unter der Erde gewesen war. Dann blieben nur noch die Sterne und die Steine, die Fische und die Blumen. Es gab eine schmale Grenze, wo der Mann sich loslösen mußte von Spiel und Traum, um in das Unbetretene zu gehen, das keine Gesellschaft duldet. Wo die Luft klar und kalt war wie über einem Gletscher und wo das geschaffen wurde, was den Namen des Mannes überdauerte. Einsamkeit war mehr als ein dichterisches Wort. Sie war eine Entscheidung, und sie kam nicht wieder, wenn man sie ausgeschlagen hatte.

»Es ist Zeit«, sagte er und richtete sich auf.

Marianne strich einmal mit der inneren Handfläche über seine Stirn und stand gehorsam auf. Es war zum erstenmal nicht mehr die Gebärde eines Kindes, und er wußte, daß sie nun erwachsen war. Sie würden beide diesen Weihnachtsabend nicht vergessen.

Es war eine lange Bescherung. Die Hofkinder sangen, und der General ging von Tisch zu Tisch, mit drohenden Augen auf die kleinen Hände blickend. »Gehorchen … Pflicht tun … eine Familie sein!« rief er wie auf dem Paradefeld. Die Gespannknechte schlugen fröhlich die Absätze zusammen, und die Mädchen küßten seine Hand.

Der graue Kreuzer lag auf einem blauen Tuch, von zwei Holzstäben gestützt, und Bildermann ließ die Schornsteine qualmen. Der General saß davor, die Hände über dem Stock gefaltet, und bat ab und zu, die Turmgeschütze zu schwenken. Das Kind, in dem langen, bis auf die Füße reichenden Kleid, stand daneben und sah zu, wie die weißen Wolken sich in den Ästen des Baumes zerteilten. Ein Silberfaden schwankte über dem Gefechtsmast langsam hin und her. Gabriele von Platen sah von Zeit zu Zeit aufmerksam in Thomas' Gesicht und fragte schließlich, ob der Mann auf der Brücke er selbst sei. Nein, erwiderte Thomas, das sei der Signalgast Bildermann. Aber die Mützenbänder fehlten? Ja, die habe die Zeit zernagt. Sie sei stärker als flatternde Bänder.

Er habe gar nicht gewußt, sagte der junge Vetter, daß Fräulein Marianne so kriegerisches Spielzeug liebe. Wie er das auch habe wissen sollen, fragte sie, da er zum erstenmal in ihrem Hause sei? Und außerdem sei das für sie alle nichts weniger als ein Spielzeug.

Aber nach dem Weihnachtsessen, an dem das ganze Gesinde teilnahm, zog sie Thomas beiseite und fragte, ob sie den Kohlenbaron nicht auf den See nehmen und ertränken könnten.

Thomas lächelte. »Wir alten Leute wollen nicht blutdürstig sein«, erwiderte er. »Wer nicht mitspielen darf, braucht noch nicht ertränkt zu werden, nicht wahr? Und einmal wird die Zeit kommen, wo du nachspringen würdest, um ihn herauszuholen. Wenn auch nicht gerade diesen.«

Sie sah ihm gerade in die Augen. »Niemals, Thomas!« sagte sie.

Er lächelte noch immer. »Gehen wir nun zu Tante Mieze«, bat er. »Die Tränen sitzen ihr heute unter den Augenlidern, denn ihr Schöner kommt niemals wieder.«

Sie wußten nicht, was es Besonderes um diesen Abend war, aber sie meinten alle, daß die dunklen Wände noch niemals so sicher und unerschütterlich um sie gestanden hätten. Vielleicht war es nur, weil das Kind in einem langen Kleid unter ihnen umherging, und ein neues Geschlecht war also aufgewachsen, mit einem jungen Schild, den es gegen die dunklen Mächte aufhob. Vielleicht war es auch nur, weil Johann die Bärenfellmütze trug, die Marianne ihm geschenkt hatte. Er hatte den Riemen unter dem Kinn festgeschnallt, obwohl kein Wind ging, und er sah nun so groß aus, daß die chère tante meinte, er könne die Schuhe von den oberen Gastzimmern am Morgen einsammeln, ohne die Treppe hinaufzusteigen. Vielleicht war es auch nur, weil Bildermann neben dem Kreuzer saß und das Lied der Ferne sang … rolling home, my boys, to windlass … und der verlassene König aus dem Morgenland summte die andere Stimme mit, statt der Frau, die nun keine dunklen Kleider mehr trug und wohl auch keine Lieder mehr sang.

Aber Thomas glaubte zu wissen, weshalb die Stunde ihnen so hell und sicher schien: weil sie so viele waren, und wenn sie die Hände ausstreckten, konnten sie eine Kette bilden wie bei einem Kinderspiel. Es war nicht anzunehmen, daß eine Stimme aus der Nacht rufen oder der graue Mann vor dem Feuer niedersitzen würde, um zu meditieren. Sie kamen nur zu den Einsamen, Wachenden oder Schläfern. Nur der Einsame war ihnen ausgeliefert, der nur den leeren Raum erreichte, wenn er die Hände ausstreckte. Aber auch nur er vernahm die letzten Fragen, die sie hinrollten vor ihn gleich einer schwarzen Kugel. Sie sangen, wie Kinder im Dunklen singen, und auch wenn das Christkind geboren war, so hätte es nichts dagegen tun können, wenn der Tod die Türe hätte öffnen oder die Halle hätte spalten wollen, um einem von ihnen zu winken. Ein Kind war ein Kind, auch wenn es einen Heiligenschein um die Stirne trug, und oft genug hatte Gott die Kinder beiseite geschoben, um nach dem zu greifen, wonach ihn verlangte. Nicht nur durch die Hand des Herodes im bethlehemitischen Land.

Er sah ihnen zu wie einem wehmütigen Traum. Es war nur ein paar Stunden her, seit er aus demselben Sessel aufgestanden war, in dem er nun saß, und er hatte gewußt, daß er als ein alter Mann aufstehen würde. Über die meisten kam es nach einer schweren Krankheit, nach einem Verlust oder nach einem Sturz aus der Sicherheit in das Bodenlose. Über ihn aber war es in der Dämmerung gekommen, wie der Reif in der Dämmerung kommt, um die Morgenfrühe, wenn die Nebel steigen, und plötzlich sind alle Wälder grau und versilbert, und die rote Sonne scheint auf eine andere Welt.

Er hätte es noch halten können, das andere, die Jugend oder wie man es nennen mochte. Er hätte nur die Hand auszustrecken brauchen. Aber er war schon einmal gewarnt worden. Er wußte, daß das Glück nicht das Letzte im Leben war und daß auf das Letzte verzichtete, wer das Vorletzte ergriff. Wer nach dem Glück griff, wie beim Spiel am Silvesterabend, konnte den Tod greifen, die Wiege oder das Geld. Aber das Ganze konnte er nicht greifen. Das Ganze gewann nur, wer an den verdeckten Tellern vorüberging, und auch dann wußte er nicht, ob er es gewinnen würde. Er wußte nur, daß er das Geländer der Brücke hielt, aber er wußte nicht, ob die Brücke ihn halten würde. Er hatte seine letzten Waffen zu sammeln und vorwärts zu gehen. Er war hinter der Täuschung und hinter dem frommen Trug. Er würde niemandem mehr begegnen als dem letzten Gesicht.

»Dem Vaterland und seinen Zeugen, Orla!« sagte der General und hob das Glas.

»Jawohl, Herr General.«

Er trank den roten Wein, aber er wußte, daß auch sie nicht das Letzte waren. Das Letzte hatte keinen Namen mehr.

Am ersten Feiertag, gegen Abend, saß er schon vor dem Kamin, an dem der graue Mann zu erscheinen pflegte. Er hatte nur seine Schneeschuhe mitgenommen und Bildermann ein paar Zeilen für das Kind gegeben. Wenn alles so ginge, wie er es sich zurechtgelegt hatte, wollte er bis in den Februar hinein bleiben. Er würde seine Zeit einteilen. Er hatte in der Bibliothek die vielbändige vergleichende Religionsgeschichte auf den großen Tisch gestellt, das Lehrbuch der Biologie, einen Leitfaden der Chemie und ein Werk über Entwicklungsgeschichte. Er wußte nicht, ob die Auswahl richtig war, aber es schien ihm, als könnten hier die Wurzeln aller menschlichen Unruhen liegen. Auch war er alt genug, um zu wissen, daß er nicht lesen würde, um Antworten zu bekommen. Er wollte nicht mehr, als eine bestimmte Ordnung in seine Fragen bringen und von verschiedenen Himmelsrichtungen auf sein Ziel zugehen. Bildermann würde wahrscheinlich sagen, daß er »das Ganze anpeilen« wolle.

Allein aus dem Katalog der großen Bücherei hatte er entnehmen können, wie vieles er nicht wußte, ja von wie vielem er nur die Überschrift wußte. Wenn ihm noch zehn oder zwanzig Jahre geschenkt wurden, so würde er einiges nachholen können. Es schien ihm, als habe die Menschheit zu schnell gedacht und der einzelne könne nun immer nur ein Bruchstück des Ganzen erfassen. Einmal, in kommenden Zeiten, würde er nur ein einziges Blatt aus dem großen Buch lesen können, jeder das von ihm ausgewählte. Das große Buch aber würde niemand lesen können. Der Faust der Zukunft würde schon am Anfang verzweifeln.

Das Haus war totenstill, und am Anfang schien es ihm, als habe er kein Recht, hier zu sitzen. Alle Dinge trugen noch den Hauch des Toten, einen Nachhall seiner Stimme, einen Nachglanz seiner Augen. Niemals würde er aus diesem Hause fortgehen. Aber es war sein Wille gewesen. Er hatte gewußt, daß Thomas auf seinem Wege weitergehen würde, auf dem Wege der Arbeit als der einzigen Erlösung des Menschen, und er hatte ihm den Weg nur leichter oder größer oder auch nur bunter machen wollen. Das Haus war ebenso still wie die Insel, noch stiller wahrscheinlich, das hatte der Tote gewußt, und wer ein fröhliches Herz gewinnen wollte, konnte es auch in einer Zisterne gewinnen.

Thomas hatte gesagt, er brauche nichts mehr, und den Diener entlassen. Er war also allein wie der General, der sein Glas auf die »Zeugen des Vaterlandes« hob. Auch zu ihm kamen die stillen Leute, aber der Engel führte sie nicht an der Hand. Sie lebten in seiner Erinnerung, und wenn die Erinnerung erlosch, erloschen auch die stillen Leute. Sie lebten dann noch in anderen Erinnerungen, in denen Joachims oder Bildermanns oder Mariannes, und wenn diese erloschen, wurden sie noch heimatloser. Sie lebten wie auf einem auseinanderbrechenden Floß. Schließlich war nur noch ein Brett übrig, und auch das versank im Ozean.

Das Pendel der Pendule auf dem Kamin ging eilig durch die Stille des Hauses, und alle Viertelstunde schlug der kleine Hammer auf die Glocke. Es gab einen hellen, silbernen Ton, der ohne Echo in das Schweigen fiel. Friedrich hatte einen kleinen Baum auf den Tisch zwischen den Fenstern gestellt und ihn mit Silberfäden und Kerzen geschmückt. Er stand da wie eine Totengabe, nur daß er eben da wäre, wenn der Graf oder der graue Mann wieder am Kamin säßen. Nur eine Frau könnte dieses Haus entzaubern, dachte Thomas. Eine Frau und Kinder, die über den Teppich liefen, und der helle Klang eines Lachens, der über die Masken im grauen Flur schwang. Aber die Perneins hatten ungern geheiratet. Das Dach des Hauses war immer querer geworden, und das Denken hatte ihnen kein frohes Herz gemacht. Sie hatten nicht gearbeitet und sich nicht der Liebe hingegeben. Sie hatten keine Frucht getragen, und so war ihnen auch am Ende des Lebens nichts erschienen als der graue Mann, der meditierte und verschwand. Wie eine Flüssigkeit auf dem Estrich.

Er stand auf und ging noch einmal durch alle Räume. Apparate und Retorten schimmerten, die Mikroskope waren bedeckt, aber die gewaltigen Bücherreihen standen wach und wartend da. Nein, auch er würde sich nicht der Liebe, aber doch der Arbeit hingeben, und auch in der Arbeit war Liebe. Die Liebe zu dem Geheimnis, das vor dem klaren Wege stand, und die größere zu dem klaren Weg, der nur für die Füße des Mannes bestimmt war. Mochte die Tat ihm verschlossen sein, das Große und Einmalige, das Menschen und Völker aufhorchen ließ in ihrer Dumpfheit. Aber die Schau war ihm nicht verschlossen, der Blick aus der Wirrnis der Zeiten, die Nadel, die zitternd nach den ewigen Polen wies.

Er verspann sich mehr als zwei Monate, länger, als er gewollt hatte. Es ließ ihn nicht los, und das Geschaute, unter den Linsen des Mikroskops etwa, war noch größer als das Gedachte. Am Vormittag stand er nun über den Experimentiertischen, und am Nachmittag und Abend las er. Vor der Dämmerung fuhr er eine Stunde durch die Wälder und über die großen Ebenen. Er schrieb keine Briefe und träumte nicht, höchstens, daß er in den klaren Nächten das Fernrohr auf die Sterne richtete.

Langsam, von der Peripherie aus, begann er das Wunder der Schöpfung zu erkennen. Er nannte es mit diesem Namen, und der Name gewann einen immer höheren Klang für ihn. Aber er vermischte ihn nicht mit den Namen, die der Mensch dem Wunder gegeben hatte. Keine Dämonen und keine Götter drangen in den hellen Kreis, über dem die Linse stand. Er deutete das Unbegreifliche nicht, er benannte es nicht einmal, er verehrte es nur. Er lernte langsam, was ihm das Größte schien: die Natur, ja den Makrokosmos als etwas Zweckloses zu betrachten. Zwecke trübten das Licht und verwirrten die Linien. Auch so stand hinter allem noch immer das letzte Gesicht, aber es trug weder menschliche noch göttliche Züge. Es besaß weder Raum noch Zeit noch gar eine sittliche Verklärung. Es war anders als der Erdgeist, und es ließ sich auch nicht beschwören. Das Beschworene würde wahrscheinlich mit Vernichtung strafen.

Ein tiefes und ganz ruhiges Glück begann ihn langsam zu erfüllen. Wenn er gesund blieb, brauchte er nur Zeit. Unendlich war der Kreis gespannt, unendlicher noch als die Ekliptik, und von Punkt zu Punkt gab es Mühe und Arbeit. Auch besaß er nicht die Gabe der Intuition, die die Punkte übersprang. Er hatte nur Fleiß, Geduld und Ehrfurcht. Er wußte schon, daß er das Ganze nie erblicken würde, aber vielleicht würde er es ahnen. Und in der Ahnung würde er werden wie die Steine auf dem Grund. Wenn er das Gesetz erkannt hätte, würde er sich bescheiden. Er würde niemals bitten, daß man seine Uhr noch einmal aufziehe, im Jenseits etwa. Er wußte, daß auch die Sternbahnen nicht noch einmal aufgezogen wurden. Er wollte sich unterordnen und gehorsam sein. Er wollte sich nicht empören, und der Glaube war die Empörung. Es sollte nicht aus sein, und Gott war dazu da, daß es nicht aus wäre. Die Vernunft schrie nach ihm, weil sie nicht lernen wollte, sich zu beugen.

Aber er wollte es lernen. Er wußte schon einiges, an dem er es beweisen konnte.

Ein paarmal kam das Kind mit Frau von Sperber zu ihm. Er sah, daß es Sorge um ihn trug und daß es zuerst mit einem leisen Grauen auf die Masken- und die Götterbilder blickte. Aber dann führte er es vor das Mikroskop und in das Laboratorium und sprach ein wenig von seiner Arbeit. Nein, der graue Mann würde ihm nicht erscheinen, sagte er vor dem Kamin. Dazu seien die Orlas nicht alt genug, und sie hätten auch zuviel gearbeitet in ihrem Leben.

»Vergiß nur nicht ganz, daß auch wir noch leben, Thomas«, sagte das Kind zum Schluß.

Nein, das wollte er nicht vergessen, und mit den ersten Frühlingsstürmen würde er wieder auftauchen wie Faust um die Osterzeit und sich seiner Hände wieder erinnern und daß die Menschen Brot brauchten.

Aber die Osterglocken, sagte das Kind leise, die werde er wohl nicht hören.

Er werde sie schon hören, erwiderte er, wenn auch nicht wie Faust. Aber dafür werde er auch nicht nach der dunklen Phiole greifen. Es sei schon für einen Ausgleich in jedem Menschenleben gesorgt.

In den ersten Märztagen brach das Eis auf, und Thomas kehrte wieder auf der Insel ein. Zuerst wußte er nicht genau, ob er nun im Urlaub oder wieder auf dem Ozean war, aber schon am ersten Abend, als sie die Boote überholt und ein Stück Gartenland umgegraben hatten, als ihm Arme und Rücken vor dem Feuer schmerzten, wußte er, daß er zu Hause war und die Waagschalen sich langsam zu rühren begannen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Das Schulschiff war auf der Heimreise, und Joachim meldete sich zu Ostern an, fragte aber, ob er einen Freund mitbringen und deshalb im Schloß wohnen dürfe. Tagsüber würden sie natürlich auf der Insel sein.

»Das Zeitalter der Rohrhütten ist vorbei, Bildermann«, sagte Thomas, »nun kommt das Zeitalter der Paläste.«

»Erst vor dem Mast, dann auf der Brücke, Kapitän«, erwiderte Bildermann. »Das ist nun mal so. Nur die Veteranen nehmen die Sonne, wo sie sie kriegen.«

Es war ihm nicht sehr recht, den General zu fragen, aber Marianne meinte, daß der Großvater sich immer über junge Soldaten freue, und gar über solche, die schon dicht vor dem Geschwaderchef standen.

»Junge Leute haben nicht viel Glück bei dir«, sagte er lächelnd.

Sie habe zu alte Maßstäbe, erwiderte sie ebenso.

Es war richtig, daß der General sich freute. Nachdem der Vetter abgereist war, sah er solchen Besuchen ohne Sorge entgegen.

»Den jungen Leuten helfen …«, sagte er zu Thomas. »Nur unter ihresgleichen … alte Häuser sehen … Rangliste kein Evangelium.«

Aber Thomas wußte, daß die »jungen Leute« einander in alten Häusern manchmal von der Seite ansahen und daß sie ihr Evangelium nicht immer gern nur von weißhaarigen Generalen bezogen. Und auch nicht gern von Kapitänen, die Fischschuppen im Haar trugen. Man mußte sich solcher Besuche freuen und sich nicht zuviel Rührendes davon erwarten. Es würde schon schwierig sein, wenn sie auf sein zweites Buch zu sprechen kämen, weil sie wohl dasselbe verneinten, aber aus anderen Gründen.

Es war vor Weihnachten erschienen, und während diesmal die Seeleute es »sehr beachtlich« nannten, hatten die Theologen nun viel, fast alles an ihm auszusetzen, so daß es fast schien, als sei er in eine andere Fakultät hinübergewechselt, aber keine wolle ihn recht haben. Er antwortete diesmal auf keine Briefe, weder auf Lob noch auf Tadel. In den Wintermonaten, über Mikroskopen und Retorten, hatte er gelernt, daß es gleichgültig war, zu wissen, wer eine Dahlienblüte gemacht hatte. In der Schöpfung herrschte die Namenlosigkeit des Schöpfers. Wer für die Gegenwart schrieb, mochte seinen gegenwärtigen Namen dazusetzen. Aber wer sich eingeordnet hatte, sah sich selbst nicht anders als eine Welle im Strom. Auch die alten Dichter hatten ihre Namen nicht auf die Pergamente gesetzt. Sie wußten, daß das Werk bleiben würde, nicht aber die Schreiber. Im Kosmos gab es keine Eitelkeit.

Als das Eis geschmolzen war, hatte sich eines Tages ein Mann in einem Boot eingefunden. Er komme von einer Zeitung mit Weltruf, hatte er gesagt, und es liege in weiten Kreisen ein Bedürfnis vor, etwas mehr von dem Manne zu wissen, der zwei immerhin beachtliche Bücher geschrieben habe und der daneben ein so merkwürdiges Handwerk betreibe.

Es war ein jüngerer Mann mit schnellen Bewegungen und neugierigen Augen, und er trug einen seltsamen Apparat in den Händen, den er wie ein kleines Maschinengewehr vor das Gesicht hob. Aber Thomas bat ihn, das zu lassen. Er habe sich diese Insel so verdient wie Robinson die seinige, und wenn er Bücher schreibe, so gewinne damit kein Mensch ein Recht, zu erfahren, wie er oder sein Haus aussähen. Sonst würden sie ebenso berechtigt sein, seine Handschrift, sein Horoskop, seine Träume und das Bild seiner Iris zu erfahren. Er möge sich also bei der Rückkehr der schönen Landschaft freuen und diese Reise nicht als einen Mißerfolg betrachten.

Der Mann von der Zeitung hörte aufmerksam zu (viel zu aufmerksam, schien es Bildermann), ließ aber seine flinken Wieselaugen unaufhörlich über die Insel gehen. Ob er nicht einen Blick in das Haus tun dürfe? Nein, das dürfe er nicht. Für einfache Leute sei das Haus immer noch ein Heiligtum, und wo jemand gestorben sei, pflege man nicht den Vorhang aufzuheben.

Oh, sagte der Mann von der Zeitung, gestorben sei jemand? Das tue ihm natürlich leid, aber auch die Presse verstehe menschliche Gefühle zu achten. Sie sei besser als ihr Ruf.

Bildermann hatte die kleine Büchse über der Schulter und begleitete ihn zum Ufer hinunter. »Wenn Sie knipsen, junger Mann«, sagte er leise, aber eindringlich und klopfte an den hellen Kolben, »dann gehen Sie über Bord! Kapiert? Hurry up!«

Der Mann lachte etwas unbehaglich, aber er nahm die Hände nicht von den Rudern, soweit Bildermann ihn sehen konnte.

Nach einigen Tagen schickte der Verlag ein Stück der »Zeitung von Weltruf«. In dem Bilderteil sahen sie eine Aufnahme mit Wasser und Wolken und ganz im Hintergrund einen grauen Schemen, der eine Insel oder eine Seemine oder ein brennender Fesselballon sein konnte. »Besuch auf Thule« stand darüber. »Der Mann, der die Bücher schrieb … Geheimnisvolle Tote unter dem Rohrdach … wilder Verächter der Graphologie … Freitag mit der Kugelbüchse … die Heiligen der letzten Tage …«

»Junge, Junge …«, sagte Bildermann. »Wenn du doch noch einmal kämest …«

Über die »zweifelhafte Haltung Gottes bei Seegefechten« wurde im Schloß viel, aber ohne eigentliches Ergebnis gesprochen. Die merkwürdigste Ansicht äußerte Tante Mieze. »Wenn ich ein Stieglitz in einem Bauer wäre, Herr von Orla«, sagte sie eines Abends, »und ich würde in der Halle hängen, wenn sie hier Weihnachten feiern, glauben Sie nicht, daß ich auch ein Buch schreiben könnte, ein Stieglitzbuch natürlich, über ›die zweifelhafte Haltung des Menschen bei Abendveranstaltungen‹?«

»Und Sie meinen«, fragte Thomas nach einer Weile, »es würde auch nicht viel mehr dabei herauskommen als bei meinem Buch?«

»Nicht sehr viel mehr«, meinte Tante Mieze bescheiden.

Thomas erwartete seinen Besuch auf der Insel. Der Wagen vom Schloß war auf der Bahn gewesen, und der Fähnrich zur See Siegfried von Marschall hatte mit einiger Verblüffung den Riesen mit der Bärenfellmütze nach seinem Koffer greifen sehen. »Zackige Angelegenheit!« hatte er geäußert. Sie liebten nach ihrer Auslandsreise eine kurze, dem Bürger schwerverständliche Ausdrucksweise.

Der General stand mit seinem Enkelkind auf der Treppe. »Junge Generation …«, sagte er drohend. »Viel gutzumachen … erfreut, die jungen Kameraden zu sehen …«

Sie standen bescheiden vor seinen weißen Haaren, indes Marianne sie beide aufmerksam betrachtete. Joachim war etwas verlegen, da er sich ihrer letzten Unterredung erinnerte. »Wir sind so gut wie einig«, sagte er oben etwas nachlässig, »und ich bitte, mir nicht vor den Kiel zu kommen.« Und da seine Meinung wie auf der Schule noch immer unantastbar war für seine Anhänger, so verbeugte Marschall sich etwas enttäuscht und versicherte, daß unlautere Gedanken ihm gänzlich fern lägen. » Fair play, Orla«, sagte er freundlich und schloß einen silbernen Toilettenkasten auf.

Joachims Segelboot lag am Ufer, und Marianne fuhr mit ihnen hinüber. Noch bevor sie die Insel erreichten, wußte sie eine Menge von den Westindischen Inseln, und sie hatte auch erfahren, daß die jungen Leute zuweilen anderer Meinung waren als der Kommandant. Die Sonne schien, die Drosseln sangen von allen Ufern, und sie blickte nach der Försterei hinüber, wo die grauen Boote im Wasser lagen und einer von den hohen Fichtenwipfeln derjenige sein mußte, der nun schon zweimal seine braunen Zapfen auf die beiden Gräber hatte fallen lassen. Sie bedachte, ob Thomas sich freuen würde, und sie sah sein Gesicht vor sich, wie es in dem Hause des toten Grafen gewesen war: gesammelt und von der leisen Traurigkeit derer erfüllt, die den Schleier über allen Geheimnissen aufheben. Ja, sie mußten wohl in Wahrheit »alte Leute« sein.

Es war zu sehen, daß Thomas sich freute. Sie hatten ein Frühstück auf dem Tisch vor dem Hause aufgetragen, und der junge Marschall versicherte glaubwürdig, daß er alles »fabelhaft« fände. Doch blieb das Gespräch in der Hauptsache bei Westindien und dem »etwas veralteten« Dienst auf dem Schiff und daß es nun Zeit werde, mit den Leuten etwas aufzuräumen, die das deutsche Volk regierten. Thomas hörte aufmerksam zu, und erst am Schluß sagte er nachdenklich, daß man mit solcher Arbeit erst beginnen dürfe, wenn man seiner Kraft ganz gewiß sei. Auch sei wohl mit diesem Aufräumen noch nicht alles geschehen, weil ein leeres Haus wieder gefüllt werden müsse, ehe man darin neu und sauber wohnen wolle. Man müsse langsam lernen, und zwar im ganzen Volk lernen, daß die Menschenhand nicht das geringste Werk der Schöpfung sei, auch wenn sie nur Schwielen erwerbe, statt Verse zu schreiben. Und daß niemand geringzuachten sei, der aus einem sogenannten gebildeten Leben zu dem Sand eines Ufers herabsteige, um dort seine Netze zu trocknen und Kartoffeln zu graben. Denn so schlimm es mit einem Volke ohne Verse stehe, so schlimm stehe es auch mit ihm, wenn niemand mehr Kartoffeln graben wolle.

Aber sie meinten, daß er sich darüber keine Sorgen machen solle.

Sie gingen einmal um die Insel, und Marianne schob ihre Hand unter Thomas' Arm. »Wir müssen nun bescheiden sein«, sagte er leise. Sie nickte nur, aber nach einer Weile sagte sie doch: »Ach, Thomas, wie schrecklich alt wir beide sind …«

»Deshalb müssen wir unsere Hände vom Ruder lassen, Marianne. Junge Segel sind vielleicht besser als alte.«

Sie kamen an der Rohrhütte vorbei und blieben an der geschwärzten Feuerstelle stehen. »Komische Einfälle«, sagte Joachim und erzählte Marschall von jenem letzten Sommer. »Ich dachte, daß wir einmal scheitern würden, und dann hätte ich dem Alten gezeigt, wie man so etwas macht.«

Die anderen standen still dabei und hörten zu.

Ja, sie wollten also gern ein paar Stunden segeln, und wie es mit dem Programm werden sollte? Am besten sei, erwiderte Thomas, daß sie ihn gegen Abend im Schloß erwarteten. Sie hätten noch eine Menge Netze in Ordnung zu bringen, und der General würde sich sicherlich freuen, ihnen den Besitz zu zeigen.

»Aber hast du nicht das ganze Haus drüben, Vater?« fragte Joachim. »Hast du das denn immer noch nötig hier?«

»Nötiger als jemals, Joachim.«

Sie verbargen ihre Enttäuschung nicht, als Marianne erklärte, daß sie auf der Insel bleiben und helfen wolle. Doch ging sie mit zu den Booten hinunter, und während Marschall einstieg, sagte sie leise zu Joachim: »Der Kirchhof ist dicht neben der Försterei.«

»Natürlich«, erwiderte er errötend. »Das war doch selbstverständlich.«

Es zeigte sich, daß sie nicht den ganzen Tag auf der Insel waren, wie Joachim angekündigt hatte. Sie kamen täglich für eine Weile herüber, schossen nach der Scheibe und blätterten ein bißchen in den Büchern. Thomas zeigte keine Enttäuschung. Sie gaben wohl nicht allzuviel auf die Ansichten »alter Krieger«, und die Insel war kein Messeraum, wo junge Kameraden auf die Meinungen der älteren Herren zu lauschen hatten.

Nach acht Tagen aber fragte Marschall bescheiden bei Joachim an, ob in seiner Navigation mit der jungen Dame alles in Ordnung sei oder ob sich nicht ein kleiner Fehler im Besteck eingeschlichen habe. Sie scheine ihm jedenfalls reichlich kühl und zuzeiten sogar hochmütig.

Es stehe ihm frei, sein Heil selbst zu versuchen, erwiderte Joachim, doch bezweifle er, daß die Prinzessin ihn »ganz groß« finden werde.

Nein, sie fand ihn wohl wirklich nicht so, und bei ihren täglichen Ritten auf die Felder, wenn sie mit dem Inspektor und den Gespannknechten sprach, ruhig, bescheiden und immer verständig, hielten sie schweigend neben ihr und fühlten von ihrer Sicherheit mitunter einiges zerbröckeln, wenn sie auch nachher der Meinung waren, daß man diese Leute doch etwas schärfer an die Kandare nehmen müßte.

Aber die junge Reiterin erwiderte lächelnd, daß die Leute vom festen Lande im allgemeinen vom Gebrauch der Kandare mehr verstünden als die vom Meer. Auch hätte einer der Gespannknechte sie noch auf den Knien gehalten, und er hätte damals keine Kandare dazu gebraucht, sondern nur seine große, braune und verarbeitete Hand, unter deren Nägeln immer etwas von ihrer Ackererde haftengeblieben sei.

Bevor sie abfuhren, mußte also auch Marschall trotz erheblichen Selbstbewußtseins zugeben, daß in seiner Navigation ebenfalls nicht alles stimmte; doch würde im Laufe der nächsten Jahre Zeit sein, die Panzertürme ins Gefecht zu führen, und so lange mußte man eben diesem etwas hochmütigen Burschen Orla manches nachsehen, damit die Verbindung nicht abreiße.

Erst am letzten Abend fragte Thomas nebenbei, ob Joachim sich vielleicht noch jenes Wortes aus dem Prediger Salomo erinnere, das er ihm damals auf dem Bahnsteig genannt habe. Aber Joachim hatte es leider vergessen. »Du weißt ja, Vater«, sagte er, »daß wir eine Menge zu schuften haben, und wenn ich dort in der Bibel lesen wollte, so würden sie mich doch komisch ansehen. Außerdem bist du ja, wie mir nach deinem zweiten Buch scheint, über die Bibel auch längst hinweg.«

Das würde ihm sehr traurig an einem Menschen vorkommen, erwiderte Thomas, wenn er über die Bibel hinwegkäme. Ebenso traurig, wie wenn jemand über seine Mutter hinwegkäme.

»Du mußt nicht denken, lieber Joachim«, setzte er hinzu, »daß ich inzwischen in eine Sekte eingetreten bin oder daß ich denke, jeder Vater müsse seinem Sohn einen Koffer voll guter Lehren mitgeben. Aber, siehst du, wir leben hier sehr still und haben viel Zeit, uns Gedanken zu machen. Und wenn nun so junges und frisches Blut wieder einmal bei uns ist, dann hören wir gut zu. Wir bedenken noch einmal, was wir falsch gemacht haben, und möchten gern, daß ihr weniger falsch macht als wir. Du weißt selbst, daß du vieles hast, was ich niemals gehabt habe, was ich nur in meinen Gedanken, aber nicht in meinem Blut gehabt habe, und nun möchte ich wahrscheinlich, daß du mit deinem Besitz so wirtschaftest, als ob du fünfzig Jahre alt wärest. Das ist natürlich töricht, und du mußt schon darüber hinwegsehen …«

»Lieber Vater«, sagte Joachim, »du bist so … anständig zu mir …«

Thomas lächelte. »Wie sollte ich wohl anders?« fragte er. »Aber das, woran ich dich erinnern wollte, hieß: ›Ein Geduldiger ist besser denn ein Starker.‹ Vielleicht könnt auch ihr einmal daran denken.«

»Ich erinnere mich, Vater. Aber mit der Geduld ist es auf See so eine Sache. Bis zum Skagerrak waren sie sehr geduldig bei uns.«

»Es gibt eine andere Geduld, Joachim, aber wir wollen es nun lassen. Es gäbe wenig Hoffnung, wenn ihr ebenso wäret wie wir.«

»Frischer Wind, Orla«, sagte der General, als sie dem Wagen nachsahen. »Hart wie Glas, aber wahrscheinlich nötig heute, damit die Fahne wieder weht.«

»Nun schwimmen sie doch auf dem Ozean, Kind«, sagte Tante Mieze nachdenklich, »und könnten doch Salz genug haben …«

Aber Marianne widersprach ihr. Auf dem Ozean seien nur die beiden, Thomas und Bildermann. Die anderen seien »auf See«.

Bald nach der Abreise der jungen Seeleute verbreitete sich die Nachricht, daß der hundertjährige Fischer heimgegangen sei. Von den einfachen Leuten, die an den Seen wohnten, gebrauchte keiner einen anderen Ausdruck als diesen. Keiner sagte, daß er gestorben oder ertrunken sei, obwohl man sein Boot und seine Mütze eines Morgens auf den Wellen treibend gefunden hatte. Man war eben der Meinung, daß er auf eine sanfte und ganz und gar nicht gewaltsame Weise zu der Kreatur eingegangen sei, von deren Wegen und Sein er so viel gewußt hatte. Ja, viele behaupteten bald nachher, daß man an stillen Abenden das dunkle Wasser um die Stelle seines Heimganges von einer Unzahl alter Fische erfüllt sehen könne, die dicht unter der Oberfläche ruhig stünden, die grünen Rücken leise abwärts gewendet, mit kaum sich rührenden Schwanzflossen, als blickten sie in die Tiefe und als könnten sie dort den Heimgegangenen sehen, aufrecht in den Schlingpflanzenwäldern sitzend, mit dem weißen, schlichten Haar und den Bernsteinringen, und in seinen verkrümmten braunen Händen könnte man zuzeiten die goldene Krone erblicken, von der er auf Erden manchmal gesprochen hatte.

Man suchte lange nach ihm, und auch die Behörden ließen es an Mühe nicht fehlen, aber das Wasser gab ihn nicht heraus. Er wurde niemals gefunden.


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