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5

Die Insel sah nicht viele Besucher, und bevor Joachim in den letzten Junitagen kam, war nur der General einmal dagewesen und ein paarmal sein Enkelkind mit Herrn Bergengrün.

Der General kam um die Abendzeit in einem leichten, schmalen Boot. Er saß am Steuer, einen einfachen Feldmantel um die Schultern gelegt und eine Feldmütze auf dem weißen Haar. Der Riese ruderte. Er trug keine Uniform, und das Wasser vor dem Kiel schäumte unter seinen Händen. Von ferne sah es aus wie der Übergang Blüchers über den Rhein.

Thomas konnte keine Kriegsflagge aufziehen, aber er stand auf dem Brett, das einen Landungssteg darstellte, hielt den Kiel des Bootes fest und half dem Gast beim Aussteigen.

»Mal nachsehen«, sagte der General und sah sich mit drohenden Augen um. »Sehen gut aus … alles gut aus … ordentliche Wirtschaft …« Er trat zu den Stangen, auf denen am Tage die Stellnetze trockneten, und visierte von den ersten die Reihe der übrigen hinunter. Sie waren wie nach der Schnur ausgerichtet. »Gewußt«, sagte der General und blickte, auf seinen Stock gestützt, über die Insel wie über ein Paradefeld. »Gewußt … alter Soldat … zuverlässig … ansehen, Johann!«

Johann trat hinter seinen Herrn, wußte nicht recht, was er ansehen sollte, und stand wie ein Pfahl im Sand. »Beispiel nehmen!« sagte der General drohend. Dann führte Thomas ihn lächelnd zum Hause hinauf.

Er sah sofort das große, breite Fenster und blieb betrachtend stehen. »Gruber mir erzählt«, sagte er, »aber nicht allein bezahlen … Sommer abwarten … mich beteiligen …«

Dann stand er erstarrt auf der Schwelle. Ein paarmal stieß er mit dem Stock vorsichtig auf die Dielen vor seinen Füßen, als wollte er sehen, ob dies alles wirklich sei. Schließlich drehte er sich langsam um und sah Thomas an. »Falschen Namen genannt, Orla?«

»Nein, Herr General.«

Seine Augen gingen durchbohrend über jede Linie in Thomas' Gesicht, dann sah er sich hilflos um. »Alten Mann nicht täuschen, Orla, nicht wahr?« Er sprach nun leise und fast bittend.

»Nein, Herr General«, sagte Thomas ernst. »Einiges ist noch … was ich später sagen will. Möchten Herr General es vorläufig dabei bewenden lassen?«

»Verfolgt?« fragte der Gast.

»Nein, Herr General.«

»Gut … bewenden lassen … alten Mann nicht täuschen.«

Er nickte und trat hinein, sah das Bild mit dem Kreuzer und faltete beide Hände über dem Stock. Dann stand er lange vor dem Globus, der ihm bis zur Brust reichte. Er legte einmal behutsam den Finger auf die blauen Seen, die als winzige Punkte auf der Fläche erschienen, und drehte sie zur Seite. Fast lautlos glitt das Land hinter den Horizont, und neue Länder und Meere stiegen hinter der Krümmung auf. »Merkwürdig«, sagte er, »die ganze Welt …«

Dann stand er vor den Büchern und sah verstohlen auf die Titel, ging auch in den Nebenraum, hielt vor dem Schrank mit den Waffen und Masken wieder an und blieb endlich vor Thomas stehen. »Herr Christoph Nachfolger«, sagte er nachdenklich, »Flasche Wein trinken.«

Johann brachte die Flasche und zwei Gläser, sah mit offenem Mund den veränderten Raum, bekam eine Zigarre und verschwand am Ufer entlang.

Sie saßen auf der Bank vor dem Hause. Der Wein glühte in der untergehenden Sonne, und winzige Harztropfen schimmerten goldfarben auf der grauen Tischplatte. Die Rohrsänger lärmten, und die Schwalben trugen Halme unter das graue Dach.

Der General, den Mantel um die Schultern, saß aufrecht auf seinem Platz, die Hände über dem Stock zusammengelegt, und blickte über das Wasser hin. »Viel verloren, Orla«, sagte er still. »Kaiser und Reich, Frau und zwei Söhne. Aber dies noch geblieben, Sonnenuntergang und eigne Erde. Nicht klagen. Von vorn anfangen. Neues Geschlecht wird aufwachsen …«

»Es wächst schon«, sagte Thomas.

Der andere nickte. »Nicht bitter werden wie so viele. Nur schimpfen und anklagen. Keiner ohne Sünde. Keiner. Aber nicht Kompromisse schließen. Aufrecht bleiben. Beispiel geben … weshalb hergekommen?«

Thomas drehte langsam das Glas mit den Fingern. »Zuerst war es ein Psalm, Herr General, in dem ich las. Nein, nicht zuerst, sondern zuletzt. Da fand ich den Vers, über den wir immer hinlesen. ›Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz.‹ Er traf mich wie ein Hammer, mitten ins Leben. Dann war ich bei unsrem Pfarrer, am gleichen Abend. Er tat, als seien Gott und Christus und Kirche nichts vor ihm. ›Arbeiten!‹ sagte er. ›Schwer und keuchend und schweißbedeckt. Nichts als arbeiten!‹ Das war sein Evangelium, und so hat er mich ausgesandt. Für ein paar Jahre will ich nichts tun als dieses, an nichts anderes denken, nur arbeiten. Vielleicht für mein ganzes Leben. Der Engel hat mich angesehen, und er will nur das Einfache von mir. Das andere habe ich nicht gut gekonnt, das Frühere. Aber dieses werde ich können. Ein fröhliches Herz will ich gewinnen, Herr General.«

Dieser dachte lange nach. »Guter Plan, Orla«, sagte er endlich. »Sich bescheiden: Anfang der Weisheit. Gestürmt und gestürmt, um Kranz zu erwerben, aber das Beste ist Schweiß auf der Stirne … keinen Nachfolger, Söhne tot, Schild wird zerbrochen … nur das Enkelkind gutes Blut, auf sie achten, Orla, hören Sie?«

»Jawohl, Herr General.«

»Oft herschicken. Bergengrün zu fromm. Lamm mit Brille. Aber hier: Globus, Bücher, reine Luft. Schwimmen, schießen, fischen, lernen. Wie ein Geschwätz … gutes Wort … Bin Ihnen dankbar, Orla, hören Sie?«

»Jawohl, Herr General.«

Sie sahen noch zu, wie die Sonne unterging. Der Abendwind bewegte das Schilf, und es wehte kühl zu ihnen herauf. Der General stand auf und hüllte sich fester in seinen Mantel. »Viele in den Tod geschickt, Orla«, sagte er. »Aber aus Pflicht! Verdammte Pflicht und Schuldigkeit … mich nicht geschont … wußte jeder draußen … hatten einen Sänger beim Stab, Windhund erster Klasse, sang ein Lied mit dem Kehrreim ›Sterben ist der schönste Tod!‹ Ist wohl denen, die es genommen hat … Befehl ausgeführt … fertig!«

Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Von den Eichen antwortete Johann.

In der gleichen Woche noch kamen Marianne und ihr Lehrer. Sie setzten erst von der Försterei über, und Bergengrüns Kurs war nicht der geradeste. Es ergab sich, daß der General nichts erzählt hatte, nur Kaffee und Brot hatte er sie mitnehmen lassen und ihnen Urlaub gegeben, solange Orla sie behalten wollte.

Indes Bergengrün wie ein zweiter Robinson die Insel umschritt, die Füße setzend, als ob Thomas eine Brutanstalt für Schlangen eingerichtet hätte, stand dieser auf der Schwelle, nachdem er das Kind hatte eintreten lassen. Es stand regungslos, und die Sonne warf einen Schatten bis über den Herd. »Sei ein guter Geist, Marianne,« sagte Thomas ernst.

Sie wandte den Kopf und sah ihn an. Ihr Haar war ganz mit Sonne erfüllt, und ihr zartes Gesicht stand wie unter einem Goldhelm.

»Ist deine Mutter lange tot?« fragte Thomas leise.

Sie nickte, ohne die Augen von ihm abzuwenden. »Acht Jahre«, antwortete sie. »Sie ist mit dem Pferd gestürzt … ist das alles deins?«

Ja, das sei alles sein eigen, erwiderte Thomas, und sie dürfe so tun, als sei es ihr eigenes Haus, mit allem, was darin sei.

Wie ihr Großvater ging sie leise zu der bunten Erdkugel und legte die Hand darauf. Als die Kugel um die schräge Achse zu gleiten begann, trat sie erschrocken einen Schritt zurück. »So leicht geht es«, flüsterte sie. Dann blickte sie die Bücherreihen entlang, und wieder sah sie Thomas an. Ob er jeden Tag darin lese? Ja, jeden Abend. Aber weshalb er denn Fischer sei, wenn er so viele Bücher habe? Bücher seien sein Abendgebet, erwiderte Thomas. Und wie sie selbst nur beten könne, wenn sie brav gewesen sei, so könne er nur lesen, wenn er tagsüber gearbeitet habe. Man müsse sich das Leben verdienen.

Er bete nicht am Abend? So scheu wie hinter einem Schleier kam die Frage.

Vielleicht nicht mehr so wie sie, erwiderte er verwirrt. Einen seltsamen Blick habe das Kind, dachte er. Als wenn er auf einen verschlossenen Brief blickte.

Dann zeigte er ihr den Nebenraum mit dem kleinen Herd und dem geringen Geschirr, das er brauchte. Ja, er müsse schon selbst kochen, die Seenixen hätten sich noch nicht angeboten dazu. Auch abwaschen, jawohl, das Wasser sei ja sein Lebenselement.

Wieder sah sie sich schweigend um, wie in einem Museum. Zurückgekehrt, blieb sie noch vor seinem Feldbett stehen und zog die Decke gerade, blickte scheu zu dem Bild mit dem Kreuzer hinauf und fragte, ob er da oben gestanden habe. Ja, das habe er wohl.

Sie habe Herrn Bergengrün gefragt, sagte sie leise, wie es mit dem fünften Gebot sei, aber er wisse es nicht.

Nein, das wisse niemand, erwiderte er.

Dann traten sie wieder hinaus, und als er ihr den Vortritt ließ, neigte sie den Kopf wie damals auf der Schloßtreppe. Er war überzeugt, daß sie schon einmal gelebt haben müßte.

»Weshalb sagtest du das von dem guten Geist?« fragte sie, während sie draußen den Korb auspackte.

»Manchmal brauche ich ihn«, sagte er. »Dann wird es gut sein, an dich zu denken. Wo du hinkommst, gehen die Schatten fort … Du bist kaum ein Jahr jünger als Joachim.«

»Wer ist Joachim?«

»Mein Sohn, und in vier Wochen kommt er zu den Ferien.«

»Ist er so wie du?«

»Ich weiß nicht … er ist ein bißchen lauter und fröhlicher.«

»Hast du auch eine Frau?«

»Ja.«

»Und sie kommt nicht?«

»Nein, jetzt noch nicht.«

Wieder bewegte sich die Perlenkette über der jungen Kehle. Dann packten sie zusammen den Korb aus und riefen nach Bergengrün.

Es erwies sich, daß der junge Kandidat ein Sammler war, wenn auch ohne besondere Methode. Seine Rocktaschen waren mit Muscheln gefüllt, seine Hosentaschen mit Steinen, und in beiden Händen trug er die schön gezeichneten Schwämme, die an den Baumstümpfen auf dem Hügel wuchsen. »Der Garten Eden, Herr Orla«, sagte er begeistert, »nicht einmal die Vögel auf den Nestern haben sich gefürchtet.« Seine Brille hatte sich beim Bücken verschoben, sein Haar hing voller Fichtennadeln und Spinngewebe, und er sah aus, als kehre er von einer Expedition nach den Quellen des Amazonenstromes zurück.

»Bis die Wilden Sie erschlagen«, sagte Marianne und säuberte ihm mit dem Taschentuch Gesicht und Anzug.

O nein, hier gebe es keine Wilden, seit Christoph fort sei.

Ob Christoph wild gewesen sei, fragte Thomas lächelnd.

»Ein Spötter, Herr Orla, und ein Ungläubiger! Wenn er nicht im Dienst gestanden hätte, würde er mich gepfählt haben. Spott ist das Böseste auf dieser Erde …«

Vielleicht gebe es noch bösere Dinge, meinte Thomas, aber nun wollten sie Kaffee trinken. Bei einem Hausherrn, der so arm sei, daß sie die Speise mitgebracht hätten.

»Bei einem Wirte wundermild …«, sagte Marianne. »Nachher dürfen Sie ins Haus gehen, Herr Bergengrün, es ist noch wüster als zu Christophs Zeiten.«

Nach dem Kaffee fragte Thomas, ob sie mit ihm schwimmen wolle. Ja, das habe der Großvater ihr besonders aufgetragen. Sie holte ihren Anzug aus dem Boot, Thomas nahm die kleine Büchse und bat Herrn Bergengrün, sich immer nach Belieben umzusehen. Sie gingen hinter den Hügel, wo es keine Schlingpflanzen gebe.

Sie zogen sich hinter den Eichen um und gingen dann zum Ufer hinunter. Das Gras glühte unter den Sohlen ihrer Füße. Am Wasser lehnte Thomas die Büchse in eine niedrige Kiefer. Dann faßten sie einander bei der Hand und traten auf den weichen Sand. Das Wasser war unbewegt und schon nach ein paar Schritten wurde es grünlich, und der Boden versank in schwärzlicher Dämmerung.

Sie brauche sich nicht zu fürchten, sagte Thomas, er bleibe immer an ihrer Seite.

Sie lächelte etwas unsicher, nickte ihm zu und ließ sich mit ausgebreiteten Armen vornüberfallen. Sie hatte keine Badekappe, und ihr Haar zog wie eine fremdartige goldene Blume hinter ihr her.

Sie schwammen ein kleines Stück hinaus. Unter ihnen lagen die Spiegelbilder weißer Wolken, zersplitternd unter dem Schlag ihrer Arme, die obere Wasserschicht war warm, nur aus der Tiefe floß es kühl an ihren Gliedern hinauf, und mitunter war es, als stießen kleine Fische spielend an ihre Füße.

Als sie umkehrten, Thomas immer dicht an ihrer Seite, schien die Insel höher als sonst über dem Wasser zu liegen. Das Ufer sah mit einem Male fremd aus, streng und unbetreten, und ein blauer Vogel schoß blitzend über die Schilfhalme und verschwand mit leisem Rufe hinter den Bäumen.

»Ein Eisvogel«, sagte Thomas. »Ich habe ihn noch nie hier gesehen.« Er sah, wie ihr Atem schneller ging, und fragte, ob er sie stützen solle.

Sie sah geradeaus und schüttelte den Kopf. Das letzte Stück schwamm sie ganz langsam, und bevor sie Grund fanden, fragte sie, ob sie »Thomas« zu ihm sagen dürfe.

Ja, das dürfe sie natürlich, und er werde sich immer dieses schönen Tages erinnern.

»Wir wollen nicht sagen, daß es ein Eisvogel war«, sagte sie nach einer Weile und ließ das Wasser zwischen ihren Fingern hindurchgleiten. »Wir wollen ›der Vogel‹ sagen, ja?«

Auch das wollte Thomas und sah sie nachdenklich an.

Dann stand er im flacheren Wasser, hielt ihren Körper auf seiner Hand und zeigte ihr, was sie noch lernen müsse, um sicherer zu werden und im Wasser wie auf dem Lande zu sein.

Darauf lagen sie in der Sonne, sie wand ihr Haar aus, und er erzählte ihr von anderen Inseln, auf denen er gewesen war, wo Palmen wuchsen, wo die Korallenriffe leuchteten und braune Menschen wie die Kinder lebten. Sie hatte ihr Kinn in beide Hände gestützt und sah ihn an, indes er auf dem Rücken lag, Sand zwischen den Fingern, und zu den Wolken aufsah, die hoch und weiß über sie dahinzogen. Er erzählte langsam und wie im Traum, als spreche er mit sich selbst, aber mitunter wandte er den Kopf zur Seite, in ihren Blick hinein, als wollte er sehen, ob sie noch da sei. »Ja, schön ist die Erde«, schloß er, »wo die Menschen noch ein fröhliches Herz haben …«

Nein, sie wolle heute nicht schießen. Das nächste Mal. Heute habe es dreimal soviel gegeben wie bei Onkel Morgenland, und sie sei müde.

Wer Onkel Morgenland sei?

Das sei Herr Gruber, der Förster, mit der traurigen Frau. Und sie nenne ihn so, weil er aussehe wie einer der Drei Könige aus dem Morgenland. Ob sein Sohn auch auf jenem Schiff gestanden habe?

Nicht auf gerade jenem, aber auf einem ähnlichen, dicht dabei.

Die Frau meine, daß er noch einmal wiederkomme.

Er brauche nicht wiederzukommen, er sei immer da bei ihr.

»Sind die Toten immer da?«

»Nicht immer, aber manchmal, wenn wir sie sehr geliebt haben.«

»Meine Mutter ist niemals da, aber mein Vater kommt manchmal im Traum … er hat einen hohen Schild vor der Brust und einen schwarzen Helm … er nickt mir zu, und dann ist er fort, es ist, als ob er auseinanderfällt.«

Der blaue Vogel funkelt noch einmal an ihnen vorbei. Dann stehen sie auf und ziehen sich an. Die Schatten der jungen Eichenblätter bewegen sich leise auf der Haut des Kindes. »Ich danke dir, Thomas«, sagt es, als sie den Pfad zum Hause hinuntergehen. Er dreht sich um und fährt einmal mit der Hand über ihr Haar. Sie ist im Frühjahr gewachsen und reicht ihm schon bis über die Brust.

Sie fanden Herrn Bergengrün auf der Erde vor den Bücherbrettern. Er lag lang ausgestreckt, die Fäuste gegen die Schläfen gestützt und hatte ein großes Buch mit bunten Tafeln vor sich liegen. Es waren tropische Schmetterlinge. Die Brille hatte er auf die Stirn geschoben, und seine Augen leuchteten, als spiegle sich das Bild der bunten Wunderinsekten in ihnen. »Dies ist alles verzaubert«, sagte er und sah sie von unten herauf an. »Als ob inzwischen ein Engel diese Insel berührt hätte.«

Ja, aber nun müßten sie wieder ins Boot, und vielleicht käme der Engel auch zum Rudern mit, meinte Marianne.

Er stand seufzend auf, stellte das Buch an seinen Platz, ließ die Brille wieder herunter und sah Thomas an. »Wer sind Sie?« fragte er.

»Thomas Orla, Steuermann außer Diensten.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Bergengrün, »das werde ich niemals glauben … wahrscheinlich sind Sie Sindbad der Seefahrer.«

Das Kind sah von einem zum andern und lächelte. Im Licht der untergehenden Sonne sah es aus, als lägen kleine Goldkörner in der grauen Iris seiner Augen.

Sie kamen nun zweimal in der Woche und manchmal öfter. Das Boot für Joachim war da, ein schmales, kleines Kielboot, und in die Vorderbank konnte man einen kleinen Mast mit einem weißen Segel setzen. Bergengrün wurde bald entlassen, er zog immer an der falschen Leine und saß immer auf dem verkehrten Platz. Er gab es ohne Beschönigung zu und lag wieder auf der Erde, die Bücher mit den bunten Bildern vor sich aufgeschlagen.

Das Kind aber wurde braun und bekam glänzende Augen. Es ruderte, segelte und schwamm. Es schoß nach Fichtenzapfen und saß über Seekarten gebeugt. Es ließ die Stellnetze über die Kahnwand gleiten, mit dem Winde, und stand in der kleinen Küche und spülte Geschirr. »Wenn Joachim kommt«, sagte es in der letzten Juniwoche, »dann wirst du das alles nicht mehr mit mir tun …«

»Aber Joachim wird es mit dir tun«, erwiderte Thomas. »Er kann das meiste besser als ich.«

Sie lächelte nachsichtig, beugte sich über den Bootsrand und ließ die Hand durch das Wasser gleiten.

»Er wird dir gut gefallen«, sagte Thomas. »Den meisten gefällt er besser als ich.«

Sie sah einmal auf und blickte dann wieder über das Wasser hin. Eine feine, ihm unbekannte Falte stand zwischen ihren Augenbrauen. »Vielleicht …«, erwiderte sie nachdenklich.

Joachim kam, und sie verbarg nicht, daß er ihr gut gefiel. Er strahlte so viel Freude und Gesundheit aus, daß er sie alle damit überglänzte. Es war, als bringe er ein neues Leben mit, nicht das der Städte etwa, sondern das der Jugend, einer durch nichts gestörten, weder durch Gedanken noch durch ein Gefühl behinderten Jugend.

Selbst Marianne, jünger als er, konnte in den ersten Tagen sagen: »Er ist so jung, Thomas!« – »Ja, Kind«, erwiderte er lächelnd, »wir haben ein bißchen alte Leute gespielt, nicht?«

Er hatte ihn von der Bahn geholt, mit Grubers Einspänner, und es war, als hätten sie sich gestern getrennt. Er fuhr fort, wo der Vater ihn verlassen hatte, gleichsam in demselben Gespräch, das damals ihr letztes gewesen war. Auch waren seine Gedanken fast nur auf das Kommende gerichtet, die Insel, den See und das Tagwerk. Es fiel Thomas auf, daß er kaum nach Menschen fragte, sondern nur nach den Dingen, die ihn erwarteten. Auch schien er zu glauben, daß sein Vater ein König hier sei.

Thomas ließ sich erzählen und fragte wenig. Nur einmal leise nach der Mutter. Oh, es gehe ihr prima, nur huste sie ein bißchen, Schwester Beate sage es wenigstens. Er sehe sie eigentlich nur zum Mittagessen, morgens schlafe sie, und abends sei sie fort. Und Schwester Beate? Ja, sie lasse sehr grüßen. Geweint habe sie natürlich auch, sie sei immer noch wie ein Christlamm.

»Du mußt schon sehr froh sein, daß du sie hast, Joachim«, sagte Thomas ernst. »Es gibt nicht allzuviel Treue heute  …«

»Ja, natürlich, Vater, wir vertragen uns auch prima. Und Englisch spricht sie fabelhaft.« Aber er war doch ein bißchen erstaunt über die Mahnung.

Sie begrüßten sich mit dem Förster wie alte Freunde. Die Frau stand am Gartenzaun und sah ihn mit verstörten Augen an. Ihre Hände glitten hin und her über die Spitzen des Stakets. Joachim mußte ihr die Hand reichen, aber er drängte gleich fort. Ihre kalten Finger hatten die seinigen umspannt, als wollten sie sie niemals mehr loslassen. »Das Wasser«, flüsterte sie, »das Wasser  …«

»Ach so«, sagte Joachim, als Thomas es ihm erzählt hatte. Aber noch im Walde drehte er sich ein paarmal kurz um.

Dann standen sie am Ufer, und er vergaß alles. Er schrie einmal auf, hell wie ein Vogel. Dann stürzte er sich kopfüber in die neue Welt. Thomas merkte es mit einer leisen Unruhe, daß ihn nicht nur Freude erfülle, sondern auch Wachsamkeit. Er hatte immer auf das Kind geachtet, seine Neigungen und Abneigungen, seine Meinungen und Urteile. Aber es hatte Stunden gegeben, sehr viele Stunden, in denen er sich an der hellen und geraden Kraft des jungen Herzens nur gefreut hatte. Nur lief immer eine stille Betrachtung nebenher, als ob er den Gang einer Magnetnadel verfolge, die Hand am Steuer, um den Kurs sofort ändern zu können.

Er beruhigte sich damit, daß sie lange voneinander getrennt gewesen waren und nun erst wieder den gleichen Schritt gewinnen mußten. Doch konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß das Glück Joachims zunächst das Glück des Abenteuers war. Das Tagwerk, nicht leicht mit den vielen Netzen, schien dem andern in seiner Neuheit zunächst ein Spiel, und auch alle Beschränktheit des täglichen Lebens, die Bereitung der Mahlzeiten, das einfache Geschirr, das Spülen der Teller, die Säuberung der beiden Räume: alles erschien wie die Laune eines Sonderlings oder das mit Fröhlichkeit hinzunehmende Mißgeschick zweier Schiffbrüchiger. Der Sinn der neuen Arbeit und des neuen Lebens blieb Joachim anfangs verborgen.

Thomas äußerte zunächst nichts dazu. Er hatte nie mit Lehren erzogen, und er sah ein, daß ein Kind alles mit Kinderaugen sehen mußte statt mit denen jemandes, der versucht hatte, sein Leben aus dem großen Schiffbruch zu retten. War also froh, daß Marianne wie sonst erschien und Joachim sie ohne Widerstreben in seine Welt aufnahm, nachdem er ihre körperliche Brauchbarkeit zu Abenteuerfahrten geprüft hatte, so sorglich übrigens, als handle es sich um ein Haustier.

Sie beluden das kleine Segelboot mit Proviant, das Mädchen hatte seinen Platz einzunehmen, und schließlich stieg Joachim nach einem letzten musternden Blick an Bord, die kleine Büchse über der Schulter, ergriff das Steuer und wies Marianne mit einer Handbewegung an, das Segel hochzuziehen. Die weiße Fläche spannte sich langsam auf, füllte sich mit Wind, flatterte noch ein paarmal hin und her, solange sie im Schatten der Insel waren, und zog sich dann straff. Das Boot neigte sich, eine dünne, weiße Welle erschien vor dem Kiel, noch einmal winkten die beiden Insassen mit der Hand, und dann glitten sie in ihre eigene Welt hinein.

Nachdenklich ging Thomas an seine Arbeit, fuhr zu den Fischplätzen hinaus, zog die Netze ein und hob mitunter den Blick über das Wasser, wo weit hinten das schmale Weiß des Segels leuchtete, von der Sonne bestrahlt und vom Schatten verdunkelt. Ein leises, graues Gefühl des Alters und der Einsamkeit wollte ihn anrühren, doch wies er es mit Entschiedenheit von sich, hielt alle Sinne auf die Arbeit gerichtet und sah später nur ab und zu aus dem Fenster, ob der weiße Fleck nicht wieder vor den blauen Wäldern zu sehen sei.

Kamen sie zurück, so war nicht zu übersehen, daß sie nicht beide die gleiche Frucht vom Baum ihres Abenteuers gepflückt hatten. Was Joachim vorwies oder erraten ließ, war immer etwas Klares und Weiterweisendes, eine neue Erfahrung im Segeln, in der Betrachtung von Wind und Wetter, ein Gewinn an Kenntnis oder auch Erkenntnis, keine Spazierfahrt, sondern eine Expedition.

Zu dem allem pflegte Marianne zu schweigen und mit ihren nachdenklichen Augen den Erzählenden zu betrachten. Auch konnte sie den Blick aufmerksam von ihm zu Thomas wenden, obwohl auch dieser schweigend zuzuhören pflegte, als wolle sie ergründen, ob dieser nun auch wirklich der Vater des hellen Welteroberers sei. Mitunter warf sie ein Wort ein, etwa um einen zu glänzend geratenen Bericht in die stille Tatsächlichkeit zurückzuführen, aber im allgemeinen schien sie mit dem Erzählenden einverstanden und viel mehr mit der Art seines Vortrags beschäftigt als mit den gemeinsamen Erlebnissen.

Doch ereignete es sich nach dem Verlauf der ersten, ganz erfüllten und bewegten Wochen, daß sie sich hier und da weigerte, eine der Joachimschen Fahrten mitzumachen, und statt dessen auf der Insel bleiben wollte. Joachim, ohne mehr zu zeigen als eine leise, kühle Verwunderung, ging ebenso heiter wie sonst auf seine Fahrt, und Marianne, nachdem sie zunächst etwas verloren sich hier und da zu schaffen gemacht hatte, kam bald wieder zum Hause zurück, saß neben Thomas, etwa mit dem Flechten eines kindlichen Graskranzes beschäftigt oder die Seiten eines Buches ohne viel Aufmerksamkeit umblätternd, oder sie ging auch im Hause umher, leise vor sich hinsingend, wobei sie nach ihren Gewohnheiten bald die Weltkugel vorsichtig in Bewegung setzte, bald mit der Hand über die Bücherreihen glitt oder auch vor dem Bild an der Wand stehenblieb, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt und die Augen in einer Art finsterer Andacht zu dem Geschehen emporgehoben, das so wild und gewaltsam dort in immer gleicher Haltung und Erstarrung vor sich ging.

Thomas hütete sich, ihren leisen Wandel zu stören, aber fragte er einmal so nebenher, ob sie vielleicht baden oder nach »dem Vogel« sehen wollten, so sah er das Aufleuchten ihres Gesichtes mit einer tiefen Rührung und war so zart und sorgsam zu ihr, als gehe die Prinzessin aus dem Goldrahmen neben ihm und nicht ein braungebranntes Kind, das in der Gesellschaft von Männern aufgewachsen war.

Einmal dann, als sie nach dem Bad im Ufergras lagen und nur das eintönige Lied der Heuschrecken wie eine gläserne Wand um sie stand, sagte sie, den Blick von ihm fort auf die Wälder richtend: »Es ist gut, wenn es still ist …«

Thomas sah sie von der Seite an, die reine Linie ihres Gesichtes, von ganz zarten Schatten schon so früh verdunkelt, den leisen Schlag der blauen Ader unter ihrem Ohr, das Haar, das vom Wasser getränkt auf ihre schmale Schulter fiel, und Sorge befiel ihn, wie sie ihr Leben aufrichten und bewahren würde in dieser dunklen und von Leidenschaften erfüllten Welt. Er faßte mit der Hand vorsichtig in das Haar über ihrem Nacken, drehte ihren Kopf leise herum, bis ihr Gesicht ihm zugewendet war, und sagte so, wie er immer zu ihr zu sprechen pflegte: »Das Letzte, Kind, was man im Leben gewinnen kann, ist, nichts haben zu wollen.« Und nach einer Weile setzte er hinzu: »Auch in der Liebe …«

Sie saß ganz regungslos, und Thomas glaubte zu sehen, wie das Wort in sie hineinfiel, tiefer und tiefer, wie in einen Brunnen, auf dessen Grund die Dämmerung ist, und ein goldener Schein des Tages hoch oben.

Dann nickte sie gehorsam, und als sie aufstanden, berührte sie mit ihren Fingern ganz leise seine Hand. Es war so flüchtig wie der Flügelschlag eines jungen Vogels.

Beim Abschied versprach Thomas, am nächsten Tage Joachim ins Schloß zu bringen.

Nun fügte es sich bei dieser Gelegenheit, daß Thomas zuerst den Inspektor bitten wollte, die Fische aus den gefüllten Kästen abzuholen und den Händler aufs Schloß zu bestellen, wie es üblich war. Er wies also Joachim an, am Rande des Parks gleich neben dem Hause auf ihn zu warten, es werde nur eine kurze Weile dauern. Doch mußte er zur großen Scheune hinüber, wo der Inspektor mit ein paar Scharwerkerfrauen dabei war, die großen Fächer für die neue Ernte zu räumen.

Indes betrachtete Joachim das große Haus mit dem steilen Dach, die alten Eichen, die dahinter standen, die Bussarde, die über dem Park kreisten, wobei er wie gewöhnlich straff und gerade dastand, wie ein kleiner Admiral auf seiner Brücke, der das neue Land sich vor den Kielen nähern sieht.

Er erschrak also ein wenig, als eine drohende Stimme hinter ihm fragte, wer er sei und was er hier treibe, wobei die Spitze eines Stockes ihn leicht in den Rücken stieß. Als er sich auf dem Absatz umwandte, sah er einen alten Mann vor sich stehen in einem abgetragenen Jagdkleid, die Büchse über der Schulter und einen verwitterten Hut aus der Stirn geschoben. Er erkannte nach den Erzählungen seines Vaters sofort den General in dem Fragenden, den Großvater also seiner Wassergefährtin, schlug infolgedessen die Absätze härter zusammen, nahm die Hände an die Nähte der kurzen Hose und rief ohne Besinnen mit seiner hellen Stimme, daß er Joachim von Orla sei, Sohn des Korvettenkapitäns außer Dienst Thomas von Orla, und daß er hier auf den Vater warte, der wegen einer Bestellung zum Inspektor gegangen sei.

Der alte Mann starrte ihn an, als sei er eine Erscheinung, die in fremden Zungen rede, sah inzwischen sein Enkelkind die Treppe hinuntersteigen und auf ihn zukommen, sagte: »Zuhören, Marianne!« und befahl dann dem Jungen, seine Antwort zu wiederholen.

Dieser, etwas verwirrt von dem Aufheben, das man von ihm machte, und auch in einer leisen Vorahnung, daß sein Vater vielleicht nicht sehr einverstanden mit diesem Bekenntnis sein könnte, zögerte einen Augenblick, gehorchte dann aber in einer Anwandlung von zornigem Trotz und rief das Verlangte ebenso hell und laut wie vorher dem General entgegen.

»Gehört, Marianne?« fragte der General. »Für dich behalten! Weniger redselig sein als dieser junge Mann!« Strich ihm aber doch mit der Hand über den hellen Haarschopf, fragte: »Was werden?«, vernahm die Antwort: »Geschwaderchef!«, nickte nachdenklich und ging dann über den Hof Thomas entgegen, der eben aus der Scheune getreten war.

»Eben gehört, Herr von Orla«, sagte er. »Schnelles Mundwerk, der junge Bursche, aber gute Haltung … was nun tun?«

Thomas war zum erstenmal zornig auf seinen Sohn, doch faßte er sich schnell, bat den General, in keiner Hinsicht eine Änderung dadurch eintreten zu lassen und es auch bei sich zu bewahren. Das Kind sei ihm lange zuvorgekommen.

»Narr gewesen, Orla«, sagte der General. »Augen aufmachen können … dem Kinde Freund bleiben … alten Mann einschließen zuweilen, ja?«

Thomas verbeugte sich. Er müsse nun nach Hause. Der Händler sei schon unterwegs. Der Herr General möge überzeugt sein, daß nichts dahinterstecke, keine »Verkleidung«, wie Christoph angenommen habe.

Die Kinder standen noch auf der Schloßtreppe, doch winkte er ihnen nur zu und ging durch den Park zum Ufer hinunter. Erst als er das Boot losmachte, holte Marianne ihn ein. Sie war gelaufen und atmete schnell. »Er hat es nicht sagen dürfen, er weiß es«, sagte sie, ohne ihn zu begrüßen. »Er hat vielleicht gedacht, daß du mehr bist, wenn wir es wissen …«

»Er hat gedacht«, erwiderte Thomas ernst, »daß er mehr ist, wenn ihr es wißt … er hat sich ein bißchen geschämt, die ganze Zeit.«

Sie nickte, ganz wie ein erwachsener Mensch. »Wird es nun anders  … Thomas?« fragte sie leise.

Er lächelte schon wieder und nahm ihre Hand. »Wir beiden alten Leute bleiben immer dieselben, Marianne, nicht wahr. Auch dann, wenn du die goldene Krone gewinnst, ja?«

Sie drückte seine Hand fest in ihren schmalen Fingern und ging langsam wieder zum Hause hinauf.

Joachim kam erst abends zurück, wie es ausgemacht gewesen war, und Thomas saß auf der Bank vor dem Hause, als er das Segel einholte und festmachte. Er war müde, denn es war eine schwere Arbeit gewesen, die Kästen leer zu machen, doch freute es ihn, wie schnell und sauber Joachim in allen Bewegungen war. Er wollte nicht vergessen, daß das Leben jedes Kindes sich aus zwei Quellen speist, und was wußte er von der zweiten?

Auch setzte Joachim sich sofort neben ihn und sagte: »Es war nicht recht, Vater. Verzeih mir.«

Thomas sah dem Rauch seiner Pfeife nach und nickte. »Es ist zweierlei, Joachim«, sagte er dann ruhig. »Wer einmal befehlen will, muß gehorchen lernen. Und das andre ist, daß nicht der Name den Mann macht, sondern der Mann den Namen. Du hast gedacht, daß hier gespielt wird, aber hier wird nicht gespielt. Es ist sehr ernst hier, verstehst du?«

Joachim nickte, und wieder sah Thomas von der Seite, wie seine Stirn sich faltete, um alles zu verstehen.

»Und Marianne?« fragte Thomas nach einer Weile.

»Ach … sie war so leutselig«, erwiderte Joachim verdrießlich.

Thomas lachte. »Also das Unerwartete, mein Freund.«

Dann wurde nicht mehr darüber gesprochen.

Die Ferien gingen ohne Trübung weiter und zu Ende. Es gab ein paar großartige Höhepunkte, eine Entenjagd, die der General gab und zu der sie beide eingeladen wurden, ein Gartenfest im Schloß, ein Krebsessen bei einem Feuer unter den Eichen, einen nächtlichen Fischfang mit dem großen Zugnetz. Es gab auch ein Abendessen bei dem General und seinem Enkelkind, Joachim zu Ehren, in dem Haus auf der Insel. Und nachher saßen sie an dem offenen Herdfeuer, die Gäste in den tiefen Stühlen, und das Kind wurde blaß vor Glück, als Thomas es wie eine Erwachsene bediente.

Aber dann ging es doch zu Ende. Alltag wie Festtag, Joachim packte gefaßt seinen Koffer, sprach von den Herbstferien, als ob sie vor der grauen Tür schon auf der Schwelle ständen, machte seinen Abschiedsbesuch im Schloß und stand schließlich tapfer auf dem kleinen Bahnsteig neben Thomas, als sei er auf Bahnsteigen aufgewachsen und als gebe es für einen künftigen Geschwaderchef kein Wort unter dem Buchstaben »R«, das Rührung heiße.

Thomas stand noch am Fenster, trug ihm Grüße auf, sehr herzliche Grüße, und erst als die Maschine heulend aufpfiff, sagte er, seine Pfeife an der Wand des Wagens ausklopfend: »Übrigens habe ich gestern abend etwas gelesen, Joachim, in der Bibel, worüber ich lange nachgedacht habe: ›Ein Geduldiger ist besser denn ein Starker.‹ Ein merkwürdiges Wort, und man kann schon ein bißchen darüber nachdenken … nun leb wohl, Joachim, und mach's gut!«

Er ließ das Pferd im Schritt gehen und sah wenig von den Wäldern, durch die er fuhr. Als er von der Försterei zu seinem Boot hinunterging und die Kette losmachte, sah er auf der Ruderbank einen Strauß liegen, wie man ihn im Walde pflücken konnte: Glockenblumen, Pechnelken, Heckenrosen und Zittergras.

Es lag kein Zettel oder Brief dabei.


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