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Nachwinter und Vorfrühling. Es bricht ein Herz in treuer Liebe.
Zunächst aber wehrte sich der Herr Winter noch mit Händen und Füßen gegen den Frühling, und wenn auch die Mittagsstunden hie und da ein Flecklein »aber« machten, also daß die Maulwurfshügel gleich den Beerlein im angeschnittenen Gugelhupfe aus dem Felde guckten und die Katze auf dem Dache in der Nähe des Kammes einen warmen Ziegel fand, so erstarrten doch die Tropfen der Rinne bald wieder zu langen Zapfen, die wir abbrachen und gleich den Zuckerstengelein aufleckten, und abends und morgens knirschte der Schnee unter den Füßen der Wandelnden wie vordem.
Da vertieften wir uns in unserm Häuslein in den Ernst der heiligen Fastenzeit und die Eva wußte uns das Leben und Leiden unseres lieben Heilandes so anschaulich und herzergreifend zu schildern, daß uns alle das Mitleid übermannte und ihr begeisterter Redestrom von unserem Schluchzen und unseren Tränen häufig unterbrochen wurde.
Wir begriffen nun in unserem kindlichen Denken gar nimmer, wie es möglich gewesen, noch vor kurzer Zeit der eiteln weltlichen Lust zu fröhnen, den Faschingsnarren nachzulaufen, den Magen mit Küchlein zu überladen und in tollem Jubel die Fackel zu schwingen, und wir nahmen uns gar ernsthaft vor, unsere Sünden zu bereuen und den lieben Jesus, der als schuldloses und doch so geduldiges Opferlamm die Sünden der Welt auf sich genommen und unendliche Qualen erduldet hatte, durch Gebet und Entsagung zu versöhnen und uns seiner Gnade täglich würdiger zu machen.
Dieweil uns nun unsere Armut höchstens an den höchsten Festtagen des Jahres ein Bröcklein Fleisch oder eine Bratwurst vergönnte, da ferner in der Zeit der Fasten überhaupt bei wenigen Familien vom Fleisch die Rede war, da endlich uns die Mehlspeisen weit besser schmeckten und mehr zusagten, so legten wir unser Scherflein der Abtötung auf andere Weise vor den Thron des Allerhöchsten. Wir nahmen nämlich nach dem Rate der Eva bei jeder Mahlzeit einen Löffel voll weniger aus der Schüssel und widerstanden dem Verlangen unserer Augen, die auch kein Bröselchen zurücklassen wollten, so mannhaft, daß wir beinahe versucht waren, uns selbst zu bewundern.
Es sei dies vollauf genug gefastet, meinte die Eva; denn bei Kindern, die ja wachsen und trühen gedeihen müßten, nehme der liebe Gott allweil den Willen fürs Werk.
Die Eva und die Senza aber hatten außerdem am Aschermittwoch ihre Schnupftabaksdosen zugeklappt und sie bis zum Tage der Auferstehung im Kasten verborgen, und solch ein Opfer sah Gott gewiß auch gnädig an und gedachte, es ihnen dereinst in seiner Liebe reichlich zu vergelten. Vergl. »Aus der Mappe eines Volksfreundes«, 3. Auflage, S 16 ff.
Damals trug ich auch, um den Glauben frei zu bekennen und womöglich ein Märtyrer zu werden, ein großes Messingkreuz an seidenem Bande ob den Kleidern auf der Brust; aber so sehr ich auch einem heiligen Bischöfe gleichen mochte, so wollte mich doch niemand meines Bekenntnisses halber totschlagen. Desto mehr wurde ich allüberall verlacht und das schwächte meinen Glaubensmut dermaßen, daß ich zu weinen anhub und – mein Messingkreuz versteckte!
In jener Zeit erzählte uns die Eva auch, wie die teilte in ihres seligen Großvaters Tagen noch viel frömmer gewesen seien und wie sie im Städtlein zur allgemeinen Auferbauung das Leiden Christi dargestellt hätten, bis infolge einer erschrecklichen Tat die hohe Obrigkeit das fromme Spiel für immer hätte untersagen und gänzlich verbieten müssen.
»Ja,« sagte die Eva, »das Leiden Christi wurde zu meines Großvaters Zeiten so gespielt, daß es als die höchste Ehre galt, so einer mittun durfte.
Man hatte aber kein Theater dazu mit gemalten Häusern und Bergen und Bäumen und allerlei Umhängen, sondern das Städtlein selber war halt Jerusalem und unser Ländlein war halt einmal das heilige Land Palästina. So stellte ein Bühel den Ölberg dar, der Mühlbach den Kidron im Tale Josaphat, das Rathaus den Palast des Königs Herodes, das Haus des Apothekers mit seiner Altane den Palast des Landpflegers Pilatus und der Schloßberg endlich mit der Schießstätte den Kalvarienberg.
So erduldete denn der liebe Heiland auf dem Ölberg die Todesangst, so wurde er dort von dem schändlichen Judas mit heuchlerischem Freundschaftskusse verraten, von den Kriegsknechten an Ketten und Stricken über oder sogar durch den Mühlbach geschleppt, im Städtlein zu den geistlichen und weltlichen Richtern geführt, im Garten des Apothekers gegeißelt und mit Dornen gekrönt, auf der Altane samt dem Barabbas dem Volke gezeigt und endlich auf der Schießstätte ans Kreuz geheftet, und die Zuschauer gingen allweil hinterher und weinten und klagten und verwünschten die bösen Juden und noch mehr jegliche Sünde als die Ursache dieses entsetzlichen Leidens.
Und nun trug es sich einmal zu, daß der Jüngling, der als Christus dulden und sterben sollte, und der, welcher die Aufgabe hatte, als römischer Soldat die Seite des Heilands zu öffnen, ein und dasselbe Mädchen zur Frau haben wollten.
Es war aber der, welcher den Heiland spielte, ein sanfter Jüngling, fromm und tugendhaft, und ihm neigte sich auch das Herz des Mädchens in treuer Liebe zu; der andere jedoch war gar bösartig und jähzornig, und da seine Bewerbungen zurückgewiesen wurden, faßte er einen tiefen, teuflischen Groll und nahm sich in seiner bodenlosen Schlechtigkeit vor, sich bei der nächsten Gelegenheit an dem verhaßten Nebenbuhler zu rächen.
Und dazu war ihm nicht einmal das heilige Spiel, das soviel galt wie ein frommer Gottesdienst, heilig genug!
Der sanfte, fromme Jüngling spielte, nichts Böses ahnend, die Rolle des göttlichen Mittlers so schön und so natürlich und war von seiner heiligen Aufgabe so durchdrungen, daß alle Zuschauer beim Anblicke des totenblassen Dulders aufs tiefste ergriffen und erschüttert wurden, und wie er am Kreuze die sieben Worte sprach und mit lauter Stimme rief: »Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist!« und sein Haupt senkte und nun gleich einem Verstorbenen am Kreuzesstamme hing, da blieb kein Auge trocken von allen, die da auf dem Hügel standen und zu dem zwischen Himmel und Erde schwebenden Manne halb zweifelnd emporschauten.
Selbst über Marias Wangen rieselten die Tränen, obschon sie als Mitspielende sich der Täuschung bewußt war, und Magdalena, die Braut des Jünglings, hielt den Stamm nicht bloß deswegen umklammert, weil es die Handlung vorschrieb, sondern weil sie, beinahe an den Tod des doppelt Geliebten glaubend, einer Stütze bedurfte, um nicht mit schwindenden Sinnen umsinken zu müssen.
Und nun ritt den Berg herauf, auf schwarzem Roß, im silberglänzenden Panzer, mit flimmernder Lanze, finstere Blicke um sich werfend, der römische Krieger.
Er sollte ein unter dem enganliegenden, fleischfarbenen Kleide verborgenes Säcklein ritzen, auf daß Blut und Wasser aus der linken Brust fließe zum Zeichen, daß der Herr bereits verschieden sei.
Doch wie der Bösewicht am Kreuze seinen Nebenbuhler und unter dem Kreuze, mit aufgelöstem Blondhaar, die blasse Magdalena in all ihrer ergreifenden Schönheit und besorgten Liebe erblickte, da überkam ihn die Wut und, von Gott und allen Heiligen verlassen, führte er, scharf anreitend, gegen die Brust des wehrlosen Opfers einen so gewaltigen Stoß, daß die Lanze bis zum Schafte in das Herz des am Marterholze ausgespannten Jünglings drang und der Unglückselige mit einem Mark und Bein durchdringenden Schrei wirklich verschied.
Man nahm einen Leichnam vom Kreuze, der Mörder wurde von der rasenden Menge vom Pferde gerissen und den Gerichten übergeben, Magdalena, die Braut, wurde ohnmächtig von der Stelle getragen und verbrachte den Rest ihres Leidenslebens im Kloster – das war das letzte Passionsspiel in unserem Städtlein!«
So erzählte die Eva und es schwebte nach solchen Worten ein Engel durch die Stube, also daß wir uns kaum zu atmen getrauten und uns ein banges Ahnen überkam, als müßte auch uns bald ein schweres, bitteres Leid treffen!
Und nun schickte der Frühling seinen Boten, den Föhn, auf feurigen Wolken über die Berge.
Der war nicht faul und schwang sich vom fernen, glühheißen Mohrenlande, wo die große Wüste brütet, übers Meer und tobte und sauste durch Welschland und warf sich heulend und brüllend in das Alpengebirge, und nun rauschte er vom Arlberg her durchs Klostertal gegen unser Städtlein.
Vor seinem warmen Hauche verschwanden die Schneemassen binnen wenigen Tagen, als ob sie in ungeheurer Pfanne auf den Gluten der Hölle gesotten würden.
Wo der Schnee knietief in Mulden oder an Windlehnen lag, da wurde er bald so weich, wie Martins Butter in der Julisonne, Vergl. »Alraunwurzeln«, 4. Aufl., S. 219. und braune Bächlein rannen unter ihm weg und suchten die Wagengeleise der Straße oder das Rinnsal der Gasse oder verbreiteten sich zu Tümpeln, in denen zu waten der Jugend Wonne und argen Stockschnupfen verursachte.
Von den Bergen schossen allüberall die Bächlein und Bäche und liefen wie närrisch der Ill zu, also daß sie es kaum ermachen mochte, sie alle aufzunehmen und als Heiratsgut oder Mahlschatz in den Rhein und den gastlichen Bodensee zu geleiten.
Von allen Bäumen troff es, von allen Dächern rieselte es, daß die Rinnen es nicht mehr zu erschlucken vermochten und die Traufen gleich blinkenden Schnürlein allen Häusern entlang zu Boden oder den Weibern auf die Köpfe platschten, die vor den Türen sich sonnten, mit den Händen herumfuchtelten und unermüdlich klatschten und tratschten.
Denn wo die ganze Natur zu plauschen anhub, wo es aus jeder Felsspalte quirlte und sprudelte und in jedem Grüblein murmelte und gluckste und aufquoll, wo die Spatzen auf den Dächern und vor den Wirtshäusern auf den Hafertrögen ihren Frühjahrsreichstag abhielten und für den lieben Sommer kühne Freßpläne schmiedeten, wo die Finken mit ihren hellen Stimmlein die frohe, neue Märe von des Lenzes Ankunft von Baum zu Baum trugen, wo bereits hie und da ein unternehmendes Käferlein oder eine ausgehungerte Schmeißfliege an den Ohren vorbeisurrte, da durften auch die Weiber nicht zurückbleiben.
Darum eben standen sie vor allen Türen und brauchten zu jedem Wege zehnmal so viel Zeit als sonst und ließen sich selbst durch die von den Dächern rutschenden Schneelawinen nicht abhalten, der langentbehrten Lust des Schnatterns und Plapperns mit rührender Hingebung und unsagbarer Wonne zu fröhnen.
Sie sangen aber nicht des Frühlings Lob, sondern sie zogen den liebwerten Nächsten, der nicht gerade mittat, schön säuberlich durch die Hechel und richteten, indem sie die Augen verdrehten, die Hände zusammenschlugen und die Köpfe schüttelten, die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden ihrer Mitmenschen.
Doch in unsere stille Gemeinde drang von all dem übeltönenden Singsang nur ein schwaches Echo, was etwa die kleine, wenig schwatzbare Senza auf ihren Arbeitswegen auffangen und während des Essens oder in den Abendstunden in abgebrochenen und ziemlich unverständlichen Worten mitteilen mochte; denn die Eva hatte, obschon sie sonst einem guten Plausche nicht gerade abhold war, mit ihrer schweren Wollkiste auf dem Kopfe keine Lust, irgendwo stehen zu bleiben, und verschnaufte sie einmal, wo zwei oder drei versammelt waren, so hörte merkwürdigerweise das Ausrichten urplötzlich auf und man zog das Wetter hervor und wälzte es langsam und verlegen im Munde herum, bis sie ihres Weges gegangen war.
Es müsse ein hauptschlechtes, grundverderbtes Weibsbild im Städtlein sein, sagte die Senza, ein männernärrisches und geldgieriges Ding, das sich, so alt es sei und so scheinheilig es sonst tue, nicht schäme, selbst blutjungen Buben nachzulaufen und auf Kosten armer Leute Männergut zu ergattern und Erbschleicherei zu betreiben.
Darob entsetzte sich denn auch die Eva billigerweise und wollte kaum glauben, daß es solche Schlechtigkeit auf Erden geben könne; doch sie gebot der Senza mit barschem Wort und mit einem Blick auf uns Schweigen und stellte der Schwester, nachdem wir uns zu Bett gelegt hatten, eifrig vor, daß man vor Kindern dergleichen Zeug überhaupt nicht reden und deren unschuldiges Herz nicht durch Aufdeckung der Verderbtheit der Welt schon allzufrüh gleichsam vergiften solle.
Also war von dem bösen Weibsbilde, vor dem uns heimlich graute, ferner nicht mehr die Rede, bis eines Tages der alte Lazarus zur Stubentür hereintorkelte.
Der alte Lazarus war Gemeindediener und ihm lag es ob, das gesamte öffentliche Leben des Städtchens mit seinen Trommelschlägen zu begleiten. Er trommelte, wenn jemand einen Hausschlüssel, eine Sackuhr oder eine Milchkuh verloren hatte; er trommelte, wenn es galt, die Mitbürger zum Steuerzahlen oder zu einer Feilbietung anzulocken; er trommelte, wenn sich die Burschen für Gott, Kaiser und Vaterland ins Heer einreihen ließen; er trommelte, wenn ein reicher Verstorbener die Armen bedacht hatte und die Verteilung vorgenommen werden sollte.
Aber er ging auch als Bote der Ortsobrigkeit ohne Trommel durch die Gassen, und so er mit seinem Schriftenbündel unter dem Arme einem Hause zusteuerte, wurde er gewöhnlich mit einem Seufzer empfangen; denn damals galt noch der Aberglaube, ein Amtsdiener, der über den Weg laufe, bedeute selten etwas Gutes.
Dieser bedeutsame Lazarus also torkelte eines Tages zu unserer Stubentüre herein, putzte mit einem brennroten Sacktuche würdevoll langsam seine alte Messingbrille, knüpfte gemächlich sein Papierbündel auf, blätterte bedächtig mit wiederholt benetztem Daumen und mit beängstigendem Blasen das Häuflein durch, zog richtig das unterste Blatt hervor, hielt es weit von sich ab gegen das Licht und buchstabierte und stotterte mit vielem Räuspern heraus, wie daß sich eine gewisse Jungfrau Genoveva Vaplon, ledige Fabriklerin allhier, an dem und dem Tage und zu der und der Stunde (bei ansonstiger Strafvermeidung) unweigerlich in der Amtsstube des Bürgermeisters einzufinden habe.
Wer das Volk kennt, weiß, in welche Aufregung die guten Leute durch solch eine Vorladung – und wäre sie auch im allerschlechtesten Deutsch geschrieben – versetzt werden, ja daß gerade jene, die ihren Verpflichtungen gegen das Gemeinwesen auf das peinlichste nachkommen und darum mit den Gerichten jahraus, jahrein nichts zu tun haben, sich ob einer solchen Vorrufung am meisten ängstigen und ihr Gewissen, eben weil sie nichts finden können, am längsten durchpflügen, was sie etwa möchten angestellt haben, daß man ihnen plötzlich mit eindringlicher Verwarnung und Strafandrohung ins Haus geschneit komme.
Auch die Eva erschrak nicht wenig, als ihr der alte Lazarus den obrigkeitlichen Befehl mit den altgewohnten und doch unheimlichen Förmlichkeiten vorstotterte und schließlich noch gar die Unterschrift der hiermit vorgeladenen und verständigten Person verlangte.
Es bedurfte des eindringlichsten Zuredens von Seite dieses wichtigen Gemeindebeamten, bis sich die Eva, die in ihrer Angst allweil an den Vetter Nüßle aus Brand dachte, der sich im Berger Walde dem Teufel hätte verschreiben sollen, Vergl. »Alraunwurzeln« 4. Aufl., S. 193 ff. dazu verstand, auf das verdächtige Schriftstück ihren Namen zu setzen.
Wie sie aber fragte, was man um Gotteswillen von ihr wolle, und daß sie keine Zeit habe, mitten im schönsten Arbeitsnachmittage den Haspel stehen und Feierabend machen zu lassen, da zuckte der Lazarus die Achseln und meinte, eine Amtsperson müsse im allgemeinen immer zugeknöpft sein, und insbesondere sei ihm eben so übel geworden, daß er beim besten Willen kein Sterbenswörtlein zu reden vermöge.
Auf das hin brachte die Eva ein Gläschen Kirschenwasser aus ihrem Kasten, und wie der Lazarus das mit einem Rucke hinter die Binde gegossen hatte, wischte er sich den Schnauzbart und sprach:
»Ich sag' dir nichts, Eva, als: mach' dich g'faßt, Eva, mach' dich g'faßt!«
Mit diesem guten Rate, der kaum so viel wert war als nasses Pulver, wenn man vor dem Feinde steht, überließ der Lazarus die Eva ihrem Schicksale und torkelte in die Bäckerei, um den Schreiner zur Bezahlung des aus Gemeindewaldungen bezogenen Holzes zu mahnen.
Ob ihm dort abermals übel wurde, kann ich nicht sagen; wohl aber weiß ich, daß der Schreiner allweil ein Schöpplein Schnaps auf dem Wandsims stehen hatte.
Ja – mache dich gefaßt, lieber Freund; es kommt ein wilder Stier auf dich zu, es will die Mauer über deinem Haupte einstürzen, es will dich ein Schurke nur dein Hab und Gut prellen! Solch einen Rat lasse ich mir gefallen; denn nun kann ich hinter den Baum flüchten oder einen Seitensprung tun oder der Schlauheit mit Vorsicht begegnen.
Aber ... mache dich gefaßt auf ein Unheil, dessen Wesen du nicht kennst und von dem du nicht einmal weißt, von welcher Seite es dich überfallen wird!
Die Eva verlor also die Fassung gänzlich und ihre zarte Seele ahnte ein furchtbares Leiden und überließ sich den Folterqualen des Zweifels und der Ratlosigkeit und verkostete das vernichtende Gefühl der Gottverlassenheit dermaßen, daß sie in den wirren Fieberträumen der Nacht den Abgrund der Hölle geöffnet erblickte und Stimmen zu vernehmen wähnte, des Inhaltes, ihrer Sünden wegen sei den Mächten der Finsternis Gewalt gegeben über sie und alle, die in treuer Liebe ihr eigen waren.
»Mache dich gefaßt, Eva!«
So hatte auch der würdige Pfarrer am Sterbebette unseres Vaters gesagt und beigefügt:
»Der Leidenskelch ist noch lange nicht bis zur Hälfte geleert und dich hat der Herr erkoren, ihn zu trinken in Liebe und Entsagung! Doch sei getrost! Dich stärkt jener Glaube, der selbst Berge zu versetzen vermag, dich ermutigt jene Hoffnung, die selbst im Tode das Leben erblickt, dich beseligt die Liebe des Erlösers, der selbst am Kreuzesstamme seine Arme öffnete, um die ganze Schöpfung zu umfangen und an sein Gottesherz zu drücken!«
Die Erinnerung an diese Worte ermutigte die Eva wieder, und als der Tag kam, an dem sie sich vor den Gemeindegewaltigen einfinden sollte, ging sie frisch und munter durchs Städtlein und betrat das Rathaus sonder Zagen mit den im Selbstgespräche hingeworfenen Worten:
»Ah was, sie werden mich nicht fressen!«
In der Gemeindestube saß an einem Tische der Bürgermeister und kaute an einer Kielfeder, an einem andern ein hagerer Schreiber, der mehr schnupfte als schrieb, und zwischen diesen Tischen ging der Vormund des Friedrich mit der finstersten Miene, die er überhaupt aufzusetzen imstande war, auf und ab, auf und ab.
In den Fenstern aber standen etliche aus der Freundschaft des ersten Weibes meines Vaters, denen wir etwas zu lange lebten und die wohl gekommen sein mochten, sich um unser Wohlbefinden und Gedeihen zu erkundigen.
Nun klopfte es, die Eva trat rasch ein, schaute sich mit einem schnellen Blicke ringsum und sagte:
»Guten Tag, ihr Herren beieinander!«
Niemand nahm ihr die Zeit ab ....
Der Bürgermeister tat einen Huster, der gestrenge Schutzvogt auch und die gesamte Freundschaft in den Fenstern gleichfalls; der hagere Schreiber aber reinigte seinen Gesichtserker mit Gedröhne und füllte ihn, gewaltig schnaubend, mit Nießsamen.
Darauf trat der Schutzvogt des Friedrich im Vollbewußtsein seiner geistigen Überlegenheit der Eva unter die Nase und sprach:
»Man hat dich kommen lassen, um dir zu künden!
Das Anwesen des Friedrich hat man am Rathause angeschlagen und wird es nach Ostern versteigern, ihn selber wird man zu einem Vetter, dem hier anwesenden Winkelhofer, in die Kost tun, und also schaut euch um ein Quartierlein um, so lang's Zeit ist, daß es nicht heißt, man hab' euch auf die Gasse gestellt. So billig werdet ihr freilich nimmer hausen, wie bisher; aber – umsonst ist nicht einmal der Tod, hast mich verstanden?«
Allerdings, daß sie samt ihrer Schwester und den Kindern der seligen Katharina mir nichts dir nichts aus dem Schneckenhause sollte geworfen werden, das hatte die Eva schon verstanden; denn der Vormund hatte deutlich genug gesprochen, das mußte ihm sogar der Neid lassen.
Und doch versagte ihr die Stimme, weil sie eine so urplötzliche Hartherzigkeit nicht fassen wollte.
Der gestrenge Vormund aber erblickte in ihrem Schweigen die Überraschung des ertappten Verbrechers; denn er fuhr höhnisch fort:
»Gelt, jetzt bist wie aus den Wolken gefallen, weil man schlauer gewesen ist wie du und weil man deinen Kniffen rechtzeitig einen Riegel vorgeschoben hat, du Erbschleicherin und Jugendverführerin!
Ja, meinst du denn, daß andere Leute blind seien und taub zugleich?!
Natürlich, das Geldlein des kindischen und kränklichen Buben hat dir in die Augen gestochen, und da hast du dich nicht geschämt, ihm solange schön zu tun und den Kopf zu verdrehen, bis er ganz närrisch geworden ist und überall gepredigt hat, er werde dich heiraten und Weibergut machen!
Rede mir nichts ein! Da stehen Zeugen genug, die gesehen haben, wie dir der Friedrich allweil Krämlein gekauft, wie er als aufgelegter Narr vor seinem eigenen Hause im Schnee auf und ab gegangen ist und wie er zu dir hinauf geseufzt hat! Da stehen Zeugen genug, die haben zuschauen müssen, wie ihr einander auf offener Straße geführt habt, gerade als ob ihr zwei die Sache schon in Nichtigkeit gebracht hättet und nichts mehr fehlte als der Pfarrer, daß er euch zusammengebe!
Und nicht zum ansehen ist's, wie der kranke Bub, der's doch nicht nötig hat, Tag für Tag in die Fabrik läuft und dir sein Löhnlein bei Heller und Pfennig in deine habgierigen Hände legt!
Nicht zufrieden, daß ihr bis zum heutigen Tage umsonst in seinem Häuslein sitzt und euch breit macht wie die Kuckucke in fremden Nestern, nutzt ihr ihn noch aus und saugt ihr ihn noch aus, solange ein Tröpflein in ihm ist, und er könnt's doch besser haben und wird's auch besser haben .... dazu ist man eben Vormund!
Also hat man sich's überlegt und hat zu dem Besen einen Stiel gefunden, und also schau dich um einen andern Narren und Weibergutmacher um, du scheinheilige, heuchlerische Betschwester!«
So sprach der gestrenge Vormund und die Freundschaft nickte zu jedem seiner Worte gar sehr und bekräftigte es, daß die Eva die schlechteste Person sei, die der Erdboden je getragen habe, trage und noch tragen werde, und darum eben habe man müssen eine Anstalt machen und den Friedrich ihren Geierklauen entreißen.
Der Eva war es in der Tat zumute, als ob der Erdboden ihrer überdrüssig geworden sei und sich weigere, solch eine Person ferner zu tragen.
So lebhaft sie sonst war und so wehrhaft sie die Schule des Lebens gemacht hatte, vor der Ungeheuern Anschuldigung erstarb ihr das Wort der Abwehr im Munde und das Blut zog sich in das innerste Herz zusammen. So stand sie lange totenbleich und reglos und hatte von allem, was um sie vorging, nur einen unklaren Schein, und die Fenster drangen gleich hellen Flecken mit verschwommenen Grenzen in ihre weit geöffneten, starrenden Augen, und der Boden begann sich langsam zu heben und zu drehen, also daß sie nach einem Halt ausgreifen mußte und den Tisch des Schreibers erwischte, um nicht umfallen zu müssen.
Doch ihre gesunde Natur überwand die Ohnmacht und sie erwachte allmählich aus der Betäubung. Die Lippen färbten sich wieder, über Wangen und Stirne zog, mit Gewalt aus dem Herzen schießend, das flammende Rot eines heiligen Zornes, und plötzlich fuhr ihre rechte Hand in die Höhe und schlug kraftvoll auf den Tisch des Bürgermeisters, daß die Schriftstücke aufhüpften, als wollten sie, so nahe auch die Leidenswoche war, einen Tanz anheben.
»Also ich soll das schlechte Mensch sein, von dem schon lange alle Spatzen auf den Dächern und alle lästermauligen Klatschbasen singen!« schrie sie. »Ja .... habt ihr denn gar keine Religion mehr in euern schwarzen Herzen, daß ihr einem Menschen solch bodenlose Schlechtigkeit zutraut?!«
Da hob der Bürgermeister seine zerkaute Feder und sagte:
»Laß jetzt die Religion aus dem Spiele, du Wildkatze; die gehört nicht hierher!«
»Und gerade in die Gemeindestuben und in die Gerichtsstuben und in die Schreibstuben der Advokaten gehört sie!« schrie die Eva und schlug mit der flachen Hand abermals auf den Tisch, daß die Papiere entsetzt aufflogen.
»So gewiß ein Gott im Himmel ist, so gewiß wär's mir nicht im Traume eingefallen, den langen, magern, kindischen Friedrich zu heiraten, und wenn ihr ihn doppelt und dreifach vergolden tätet, so möcht' ich ihn doch nicht!
Wie er darum letzthin mit dem närrischen Gerede gekommen ist, da hab' ich mir gedacht, er sei irgend einem Hanskasper in die Hände gefallen und der habe ihn angestiftet und geängstigt; jetzt aber weiß ich's: den Gedanken, mich zu heiraten, den hat ihm der Teufel eingegeben oder ..... ihr, und das ist im Grunde genommen gehüpft wie gesprungen, und das ist es!
Daß ich's euch sag': Die kleinen Buben, der Lorenz und der Josef, die Kinder meiner seligen Schwester, sind mir seit ihrem ersten Atemzuge ins Herz gewachsen, als wären sie mein eigen, und so habe ich leicht gehabt, zu versprechen, daß ich ihnen Mutter sein wolle, so lange mir Gott das Leben schenke. Und das wird doch gescheiter und besser sein, eine alte Jungfer nimmt sich armer verlassener Kinder an, als wenn sie sich schäbige Katzen eintut oder räudige Möpse!
Und wie ich gesehen habe, daß der große Bub' trotz seiner Größe auch noch ein Kind ist, schwerfällig im Denken und enggebunden ums Herz, und daß er weder ein noch aus weiß, sobald ihm ein Leid über die Leber kriecht, nun so hat das Mitleid mit dem armen Heiter die Liebe geschaffen und seine treue Anhänglichkeit zu uns hat die Liebe zu ihm, eine heilige Mutterliebe, gemehrt, und die könnt ihr nimmer aus meinem Herzen reißen, und wenn ihr mit glühenden Zangen anpacken tätet!
Und aus seinem Herzen auch nicht! Denn sein Eins und Alles sind wir, seine Brüderlein und seine Basen. Mit uns und für uns lebt er und kennt weiter keinen Wunsch auf Erden, und da wir alle fest zusammenhalten und wacker sparen, so hätt's noch lange Jahre so fort gehen können, wenn er auch schwächlich ist und gerade kein Riese weder an Geist noch am Körper.
Jetzt aber ist alles aus und also tut, was ihr nicht lassen könnt!
Aber das sag' ich euch heilig und klar: Wenn ihr ihn wegreißt aus dem Grunde, in dem er festgewurzelt ist, und wenn ihr uns hinauswerft auf die Gasse, nun, dann bringt ihn das Heimweh um und uns die Not, und dann .. nun, dann habt ihr, was ihr wollt, und könnt das Blutgeld teilen, ihr Judasse übereinander!«
Jetzt fuhr der Bürgermeister von seinem Stuhle auf und schrie:
»Jungfer, wenn du dich nicht mäßigest, so wird man dich einsperren, und die kleinen Buben wird man dir auch nehmen und sie ins Armenhaus tun! Dort sind sie so wie so besser versorgt als bei dir, wo sie nur als lumpige Dreikönige betteln lernen und am Ende faule Betbrüder werden!«
Da wurde die gefolterte Eva wieder blaß vor Schreck und Entsetzen und ein Tränenstrom entquoll ihren treuen Augen.
Sie hob die Hände zur angstvollen Bitte und rief:
»Um Gotteswillen, nur das nicht, nur das tut mir nicht an! Nehmt mir alles, stellt mich barfuß auf die Gasse, aber reißt die armen, unschuldigen Kinder nicht von meinem Herzen! Bin ich auch eine Wildkatze .... auch die Wildkatze liebt ihre Kinder und kratzt ....«
»Schon gut!« sagte der Bürgermeister und lächelte ein wenig auf den Stockzähnen; »wenn du vernünftig bist und ruhig heimgehst, soll's nicht geschehen und die jungen Schnecken sollen dir bleiben!«
Also war die Eva .... vernünftig und wankte hinaus.
Auf dem Gange stand der alte Lazarus. Er hatte als Amtsperson der Verhandlung durchs Schlüsselloch beigewohnt und sagte schnarrend:
»Eva, deine Dummheit ist ohne Grenzen, weil du dich mit den jungen Buben hast schrecken lassen! Die hätten sie dir auf keinen Fall genommen; denn, weißt, so billig wie du kann sie das Armenhaus nicht erhalten!«
Also mußte die Eva noch, während sie tief bekümmert heimwärts schritt, über die ihr unbegreifliche Verdrehtheit und Hinterlist staunen, mit der man sie zum friedlichen Abzuge bewogen hatte.
Am selbigen Abend wurde im Schneckenhause nichts gekocht und es stieg kein anheimelnder Rauch gen Himmel.
Wir aßen dürre Birnen und Gerstenbrot und weinten dazu und die Eva sagte allweil:
»Friedrich, Friedrich, warum hast du müssen den europäischen Frieden fallen lassen?! Jetzt ist auch mein Herz gebrochen und der Glaube an die Menschen ist hinausgeflogen und .... die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist auch hinaus, und .... ob die Liebe bleibt, wer weiß es?!«
Mitten in der Nacht aber weckte sie uns Kinder mit dem Schrei aus dem Schlummer:
»Jesus, Maria und Josef, steht mir bei! Der Teufel ist da, er hat Gewalt über mich, er liegt schwer auf meiner Brust, er grinst mich höhnisch an, er erdrückt mich .... ich muß .... sterben .... und ... ewig .... verloren sein!«
Da fingen wir Kinder wiederum zu weinen an; die kleine Senza aber tappte an der Holzwand des Getäfels bebend nach dem Weihbrunnen und besegnete die Eva, und da ward sie ruhiger und es kam der Schlaf auch über sie, die unglückliche, schuldlos gemarterte, schwergeprüfte, treue Seele.