Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

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Zwölftes Kapitel.

Eine Anzahl von Verhören folgte. Brockmann, der sich seinem Ziel nähergerückt, die Verfolgung des Verbrechens endlich auf richtigem Wege glaubte, entwickelte eine fieberhafte Tätigkeit. Aber trotz aller Bemühungen blieb der Fall auf dem Fleck, auf dem er bei der Verhaftung Ilefelds gestanden hatte. Ja sogar begann sich zu verwirren, was zu Anfang klar erschien. Ilefeld bekannte nicht. Sein Diener Friedrich blieb dabei, daß der zerrissene Mantel acht Tage nach dem Morde noch heil gewesen sei; in den Aussagen der Ankläger dagegen sprangen kleine Widersprüche auf, die den gewissenhaften Beamten nervös machten.

Da war Frau Martens in Kolbe, bei der Hete Meier am Mordabend eine Bluse geschneidert haben wollte. Ja, gab die behäbige Bäuerin zu, geschneidert hätten sie miteinander, und kurz vor fünf wäre die Hete nach Haus gegangen. Hete widersprach. Glock sechse sei es gewesen, eher nach sechs. Nein, beteuerte die Bäuerin, es hätte noch nicht fünf geschlagen gehabt. Sie sei direkt in den Kuhstall gegangen, um zu melken. Auf ihrem Hof begänne das Melken immer um fünf. Wilm Meier, den die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Eides verwirrte, konnte sich nicht genau besinnen, ob 289 am dritten November seine Tochter um sieben oder, wie sie behauptete, erst gegen acht Uhr nach Haus gekommen war. Als Brockmann in ihn drang, wurde er zornig. Wie die Hofuhren gingen, dafür könne er keine Bürgschaft übernehmen. Er könne auch nicht den ganzen Tag lang seinen Kindern aufpassen; die wären zu Treu und Redlichkeit angehalten ihr Lebtag. Drum, wie seine Tochter aussage, so werde es wohl sein. Die genaue Feststellung der Zeit war aber entscheidend; denn wenn Hete Meier wirklich, wie die Bäuerin behauptete, schon kurz vor fünf von Kolbe weggegangen war, so hätte sie selbst bei gemächlichem Schreiten um sieben zu Haus sein müssen. War sie aber um sieben in ihrem Elternhaus, dann konnte sie den Zug nicht gesehen haben, der um sieben Uhr fünfzehn Minuten von Scharndorf nach Altenhagen abfuhr, und nichts von dem, was in diesem Zuge vorging. Sie hätte auch nicht in den Brombeerbüschen den abgerissenen Mantelzipfel von einem finden können, der flüchtend aus diesem Zuge gesprungen war.

Es gab noch ein zweites. Der Ravenhorster Kutscher wollte ebenso wie der Diener beschwören, daß sie ihren Herrn um acht Uhr zehn Minuten vom Bahnhof in Föhrde abgeholt hätten. Nun war es nicht ganz unmöglich, in der Zeit zwischen sieben Uhr fünfundzwanzig und acht Uhr zehn Minuten von der Brombeerhecke im Horster Gehölz zur Bahnstation in Föhrde zu gelangen; aber die Voraussetzung war ein Dauerlauf von ungewöhnlicher Schnelligkeit quer durch den Wald über Hecken, Gräben und Zäune. Und der Kutscher beteuerte, sein Herr sei weder rot im Gesicht noch außer Atem noch erhitzt gewesen, als er in 290 den Wagen stieg. Es war auch ganz unwahrscheinlich, daß ein Mann von dem wuchtigen Körperbau Ilefelds fast eine Stunde in rasender Geschwindigkeit hätte laufen können, ohne irgendeiner Person aufzufallen. Hatte Ilefeld aber bis Föhrde ruhig im Zug gesessen, so konnte er wohl Heesemann ermordet und auf die Schienen geworfen, aber nimmermehr den Zipfel seines Mantels an den Dornen der Horster Brombeeren zerrissen haben. So brachte dieser gefundene Mantelfetzen, der zuerst der fehlende Schlußstein für das Gewölbe der Anklage schien, nach und nach den ganzen Bau ins Wanken.

Olten grübelte inzwischen Tag und Nacht über einen neuen Versuch, der Wahrheit beizukommen. Und als der Staatsanwalt, der danach strebte, seine Untersuchung rechtzeitig für das Schwurgericht fertigzustellen, eines Tages mürbe und wütend von seinen vergeblichen Mühen in seiner Stube auf und ab rannte, nutzte Olten den Augenblick für seinen Vorschlag.

»Wenn wir auf die übliche Art nicht vom Fleck kommen, Staatsanwalt, so müssen wir es auf eine ungewöhnliche versuchen. Ich rate zu einer nochmaligen eingehenden und umständlichen Besichtigung des Tatortes.«

Brockmann blieb entrüstet stehen. »Aber, lieber Olten, zu was soll denn das führen, daß wir uns den leeren Bahndamm zum zehnten Male ansehen?«

»Nicht wir wollen uns den Bahndamm ansehen. Das sollen andere. Wir wollen uns dabei die anderen ansehen, unsere Untersuchungsgefangenen zunächst, Ilefeld und den Schmied, auch den Kumpan des Schmiedes, Ede Lüders; Fräulein Hete Meier samt Familie als 291 Hauptzeugin, das Braker und Ravenhorster Gesinde, soweit es nötig scheint, die Witwe des Ermordeten und dessen schwachsinnigen Neffen selbstverständlich. Dazu Chemiker, Arzt, Sachverständige. Ich möchte überdies all die Personen dabei haben, gegen die noch kein bestimmter Verdacht sich erhoben hat und die trotzdem nicht ausgeschlossen sind: den Baron Krastel, den kleinen Tielen, der von Afrika her einen Grimm auf Heesemann nährte, vielleicht sogar Moritz Mandelbaum.« . . .

»Das würde ein ungeheures Aufsehen erregen, Olten, Menschen, gegen die gar nichts vorliegt« –

»Es kommt auf die Form an. Die müßte geschickt gewählt werden, das versteht sich. Ich denke, die Herrschaften einzuladen und, damit die Einladung jeden unangenehmen Beigeschmack verliert, zusammen mit anderen, die über jedem Verdacht stehen: die Seekamps, Vater und Sohn, den famosen Pastor Roßmüller, den Zeitungsberichterstatter meinetwegen. Und wenn wir all diese Personen auf der Stätte des Verbrechens beisammen haben, dann werden Sie und ich und ein paar tüchtige Beamte, die ich beordern will, aufmerken, wie jeder einzelne sich benimmt.«

»Olten, Olten! Sie bringen mit diesem Versuch die ganze Provinz in Aufregung und zuletzt wahrscheinlich ohne Resultat.«

»Wenn Sie ein aussichtsvolleres Mittel wissen, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, steh' ich mit meinem Vorschlag gern zurück.«

»Ich weiß nichts – gar nichts weiß ich! Das Hirn ist mir lahm vom Denken.«

»Also weshalb sollen wir den Versuch nicht 292 wagen? Wenn er mißlingt, sind wir um nichts übler dran als zuvor.«

Also ergingen die höflichen Aufforderungen zur Besichtigung der Mordstätte, die Vorladung der Zeugen, die Beorderung der Untersuchungsgefangenen.

Es war der zweite Dezember; blasser Himmel, blasser Sonnenschein, blaß die nordische Landschaft in ihrem kahlen Winterkleid. Mit den vergilbten Gräsern und verdorrten Kräutern des Sommers auf dem Bahndamm spielte der Wind. Schwarz und knorrig sahen über gelbe Wiesen die Stämme des Horster Waldes.

Da kamen sie alle zusammen an der Stelle, wo Herr von Heesemann gefunden worden war. Gendarmen hielten die Neugierigen fern. Die ersten am Platze waren Karlchen Tielen, Botho von Seekamp und der alte Baron von Krastel. Sie kamen zu Fuß von der Station. Karlchen hatte seinen Paß für Afrika schon in der Tasche. Sein neues Unternehmen – eine Farm – würde eine Kompagniesache werden. Ein schmales Kapital hatte der alte Herr von Tielen für sein Sorgenkind flüssig gemacht, und Karlchen fühlte sich schon auf der Reise. Er schimpfte auf das senile Europa, in dem solch lächerliche Umstände gemacht würden, weil einen Halunken endlich sein längst verdientes Schicksal getroffen hätte.

Am Bahndamm zusammengedrückt stand die Familie Meier mürrisch und verschüchtert, Mutter Meier im Kirchenkleid, die schöne Hete bleich und mit dunklen Ringen um die blauen Flackeraugen. Die Leute aus Brake, die fast vollzählig am Platze waren, mieden sie. Sie flüsterten mit dem Ravenhorster Gesinde. Ilefelds alter Diener führte da das Wort. Der 293 Wind spielte mit seinen weißen Haaren, und seine matt gewordenen Augen funkelten in Entrüstung über die Verhaftung seines Herrn.

Auf allen Wegen zogen Menschen heran, zeigten den Gendarmen ihre Vorladungen und traten in den weit gemessenen Kreis um die Stelle, wo der Ermordete gelegen hatte. Eine neben den Schienen in den Lehm des Bahndamms gestoßene Stange bezeichnete sie, sonst hätte kein Menschenauge sie in dem Einerlei der Schwellen und Schienen unterschieden.

Inzwischen folgte Wagen auf Wagen, lud seine Fahrgäste aus und fuhr wartend auf die Wiesen am Waldrand. Eine ganze Wagenburg türmte sich da. Olten, der Amtsrichter, ein paar Polizeibeamte in Zivil, der Kreisphysikus, der Gerichtschemiker waren zur Stelle. Das Hohorster Gespann brachte den alten Herrn von Seekamp und Pastor Roßmüller.

Jetzt ging eine Bewegung durch die Reihen. Alle Köpfe wandten sich der Waldecke zu. Die Braker stiegen aus – die Witwe des Ermordeten im langen Kreppschleier, hinter ihr ihr junger Neffe. Der alte Herr von Seekamp eilte ritterlich Frau Anna entgegen, bot ihr den Arm, führte sie in den Kreis. Tobi ging hinter den beiden. Er war nicht zu bewegen gewesen, seinen Hund zu Hause zu lassen. Im Gehen spielte er mit ihm, warf sein Taschentuch weit in die Wiesen und lachte stolz, wenn Don es apportierte.

»Das ist unwürdig,« flüsterte Brockmann Olten zu. »Man muß es dem jungen Mann untersagen.«

Olten faßte abmahnend seinen Arm. »Gewähren lassen, Staatsanwalt, all und jeden hier gewähren lassen.«

294 Im selben Augenblick steckte Tobi plötzlich aus eigenem Antrieb sein Taschentuch ein und ging mit langen Schritten mitten durch die Menschenschar hindurch auf Hete Meier zu.

Ganz dicht neben sie stellte er sich und sah sie verstohlen von unten heraus aus dem Augenwinkel an. Ab und zu kehrte er sich weg und lachte töricht ins Leere. Aber gleich wieder starrte er heimlich mit glühenden Blicken auf die Dirne. Einmal streifte er sie auch wie unabsichtlich.

Sie achtete nicht auf ihn.

Zwei Wagen hatten sich geöffnet, die verschlossen wartend standen. Je von zwei Gendarmen begleitet, stiegen die des Mordes Verdächtigen aus: Wolf Ilefeld und Konrad Sedlinski.

Und plötzlich ging ein glückseliges Leuchten wie Sonnenschein über Hetes Gesicht. Sie hatte Konrad erblickt, und Konrad sah zu ihr herüber, nickte ihr zu. Da riß sie ihr weißes Taschentuch aus dem Mieder, winkte, sich auf den Zehen reckend, mit hocherhobenem Arm über die Menge weg ihm zu.

Außer sich, packte Tobi ihr Handgelenk, schüttelte sie.

»W–Was g–geht der Kerl, der Sch–Schmied dich an?«

Die Lippen hatten sich von seinen weißglänzenden Zähnen zurückgezogen, in den hellen Augen mit den zu kleinen Pupillen war ein Ausdruck, wie er in den Augen gereizter Paviane aufsprüht. Tierisch erschien in seiner Verzerrung das blonde, weiße, in der Ruhe fast kameenartig wirkende Gesicht.

»W–Was geht er d–dich an?«

Schon stand Olten, der mit brennendem Interesse 295 den Auftritt beobachtet hatte, neben dem Paar, faßte kräftig die Hand des jungen Menschen und zwang sie, von dem Mädchen abzulassen.

»Lieber Herr von Heesemann, der Schmied Sedlinski ist der Bräutigam des Fräuleins.«

»Der Br–Bräu–ti–gam? Bräutigam?«

»Der richtig verlobte Bräutigam. Nicht wahr, Fräulein Meier, sobald der Sedlinski freikommt, wollen Sie ihn heiraten?«

Tobi bewegte die Lippen, aber kein Laut kam darüber.

»Schon als das Fräulein noch auf Brake wohnte,« fuhr Olten sehr freundlich fort, »waren die beiden einig. Ist's nicht so, Fräulein Meier? Antworten Sie doch.«

Hetes Blick glitt unsicher von dem freundlichen Polizeileutnant zu Tobi und wieder zurück. Sie mißtraute Olten ebensosehr, wie er ihr mißtraute, und sie kränkte ungern den netten, jungen Herrn Tobi. Einen Baron zum Courmacher hatte eines Tagelöhners Tochter nicht alle Tage. Aber Konrad verleugnen, war unmöglich. »Der Sedlinski is ein', der es wenigstens ehrlich meint,« gab sie mit gesenkten Wimpern zu.

»Ich denn nicht? – Ich nicht ehrlich? – Ich nicht?!«

Tobi, der mit weit aufgerissenen Augen, atemlos vor Angst, Hete angestarrt hatte, drehte sich auf dem Absatz um, begann zu lachen, lustig, töricht, krampfhaft. Und während er sich so um sich selbst wirbelte, stieß er an Don, der, erschrocken über seines Herrn Gebaren, an ihm aufsprang.

Da fuhr er mit der linken Hand über den glatten 296 Kopf des Hundes, mit der Rechten griff er an seine Stirn.

»Such, Don, such! Verloren! Da!« Und während der Hund über die Wiesen hinstürmte, schnuppernd, suchend, brach Tobi wieder in sein nervöses Lachen aus. »Verloren! Haha!«

Inzwischen hatten noch zwei andere Augenpaare aufleuchtend über die Menschenmenge weg einander gegrüßt.

Stolz schaute Anna von Heesemann auf den Geliebten ihrer Jugend. Allen Anwesenden fiel es auf, daß aus den dunklen Trauerstoffen hervor das Gesicht der Witwe in froher Lebenshoffnung strahlte. Als aber das mißtönende Lachen des halbirren Knaben über die Mordstätte hallte, trat sie mitleidig zu ihm, nahm seine Hand.

»Ruhig sein, Tobi, ganz still – still wie in der Kirche. Komm, komm, mein Jung'. Wir suchen hier den bösen Menschen, der Onkel Max totgeschlagen hat.«

Er verstummte. Von unten herauf sahen seine hellen Augen sie an.

»Wir suchen hier den b–bösen Menschen, der gute Onkel Max tot–totgeschlagen hat.« Noch einmal lachte er kurz auf; dann stand er still neben ihr, während Don, die Nase am Boden, die Wiesen durchstöberte, die Tümpel, die Brombeerhecken, in wildem Eifer suchend nach dem Gegenstand, den sein Herr verloren haben wollte, und der nicht zu finden war.

Tobi hatte den Hund vergessen. Sein weißes Gesicht schien wie zu einer Maske erstarrt. Nur zuweilen noch zuckte ein Anflug des Lachens, das ihn 297 geschüttelt hatte, um seine Mundwinkel und gab ihm einen Ausdruck höhnischer, altkluger Überlegenheit.

Ein Kriminalbeamter führte unterdessen die Schar der Geladenen, der Zeugen, der Verdächtigen, erklärte die für den Mord wichtigen Stellen.

»Auf diesem Fleck ist Herr von Heesemann gefunden worden, auf dem Gesicht liegend, ohne Hut, die von den Rädern des Zuges zermalmten Unterschenkel auf dem Gleise – der Körper war von seinem weiten Mantel verhüllt.«

»Stimmt!« brummte der Schmied frech. »Genau so hab' ich ihn liegen sehen.«

Dann zog die Schar weiter hinter dem Beamten her. Diesen Weg waren die plumpen Fußtapfen gelaufen. Auf dieser Stelle hatte Heesemanns leeres Portemonnaie gelegen. Und Brockmann stand und biß sich die Unterlippe, nervös, in der Überzeugung, daß der mächtige Apparat ganz nutzlos in Bewegung gesetzt worden war. Er ließ den Blick nicht von Ilefeld, der mit seiner Grandseigneurmiene gleichmütig den Weg ging, den seine Begleiter ihm wiesen, und die Dinge ansah, die ihm gezeigt wurden, würdig, wie es dem Ernst der Stunde entsprach, aber ohne Aufregung, ja, zweifellos ein ganz klein wenig Langeweile markierend.

Eben war man zu der Stelle gekommen, an der Heesemanns Hut gefunden worden war, der Stelle, bis zu welcher sein Mörder wahrscheinlich im fahrenden Zuge gesessen hatte, als aus der Wildnis der Brombeerhecken Don auftauchte, den Kopf im Nacken, einen schweren Gegenstand zwischen den Zähnen tragend, dessen Enden dick und dunkel zu beiden Seiten über 298 seine Lefzen wegragten. Stolz setzte er die Füße im Bewußtsein seiner Bravheit und, den Rücken einziehend und mit dem Schweif wedelnd, durchbrach er die erstaunt Raum gebende Schar auf dem gradesten Wege zu seinem Herrn. Dem apportierte er freudig seinen Fund.

Tobi machte eine jähe Bewegung – eine Bewegung des Entsetzens.

»W–Weg!«

Aber schon starrten hundert Augen verwundert auf den Gegenstand, den Don im Schreck über seines Herrn Zorn hatte fallen lassen. Es war ein kurzer Eisenstab mit einer Kugel an jedem Ende, eine Hantel, wie sie zu Turnübungen verwandt werden.

Olten bückte sich, sie aufzunehmen, doch wütend verteidigte Don seinen Fund. Der Polizeileutnant zog seinen Revolver; aber Ilefeld wehrte:

»Schade um das prächtige Tier. Wenn Sie gestatten, Olten, halt' ich ihn.«

An der Nackenhaut hob er den zappelnden Hund hoch in die Luft. Unterdessen nahm Olten die Hantel auf. Tobi stand regungslos.

»Ohne Zweifel Ihr Eigentum, Herr von Heesemann – wie?«

»Weiß nicht,« sagte Tobi trotzig.

»Ihr Hund war nicht im Zweifel. Finden Sie es nicht sehr merkwürdig, daß ein Turngerät, das Sie zwei Wegstunden von hier in Ihrem Zimmer auf Brake zu benutzen pflegen, im Dornengestrüpp gefunden wird, kaum achthundert Schritt von der Stelle, an der Ihr Oheim erschlagen worden ist?«

Tobi antwortete nicht. Die Augen des Mannes, 299 den er seit seiner Begegnung mit ihm im Horster Walde haßte, waren ihm unangenehm. Langsam wich er hinter Frau von Heesemann zurück. Die sah mit leuchtenden Augen, atemlos vor beglückender Hoffnung, auf Olten, der vorsichtig und sorgfältig die Hantel betrachtete.

»Herr Kreisphysikus, bitte!«

Er brauchte nicht zu warten. Der Arzt, der Chemiker, Brockmann standen schon neben ihm. Hinter ihnen scharten sich Kopf an Kopf die Geladenen. Ungeheuer war die Aufregung der dichtgedrängten Menge.

»Herr Kreisphysikus, haben Sie nicht zu Protokoll gegeben, daß der tödliche Schlag mit einem stumpfen, schweren Gegenstand mit abgerundeter Schlagfläche geführt worden sei? Würde diese Hantel wohl dem von Ihnen angenommenen Instrument entsprechen?«

»Durchaus,« versicherte der Arzt, »durchaus. Der Form nach sowohl wie nach der Wucht des geführten Schlages.«

Und er blickte erstaunt und benommen auf Tobi, der mit ausdruckslosem, verstocktem Gesicht hinter Frau von Heesemann stand. Der Schwachsinnige der Mörder? – Ja, wer kann jemals wissen, was für Vorstellungs- und Willensprozesse in kranken Gehirnen sich abspinnen! – Aber die Veranlassung zu solcher Tat – die Veranlassung selbst für einen geistig Gestörten?

Olten betrachtete noch immer die Hantel.

»Die Hantel muß an einem verhältnismäßig trockenen Ort gelegen haben. Das Eisen hat nur wenig Rost angesetzt. Und hier – Herr Sachverständiger, sagen Sie doch, ist was hier klebt, eine Pflanzenfaser, oder sind es Menschenhaare? Und ist der 300 Klebstoff, der es am Eisen festhält, Rost oder geronnenes Blut?«

Der Chemiker hielt die bezeichnete Eisenkugel der Hantel dicht vor seine Augen. Und während unter den Zuhörern eine Stille herrschte, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören, sprach er langsam:

»Das Faserige sind zweifellos Haare, kurze Haare eines Menschen – soweit sich mit bloßem Auge unterscheiden läßt, in Struktur und Farbe sehr ähnlich den Haaren des Ermordeten. Was die rotbraune Materie anlangt, in der diese Haare festkleben, und die fast ein Drittel der Kugel bedeckt, so kann ich ohne mikroskopische Untersuchung mit Bestimmtheit ihre Art nicht angeben. Dem Augenschein nach möchte ich sie allerdings für Blut halten.«

Jetzt erhob sich ein solch Murmeln und Brausen in der Menge, daß Olten, zur Ruhe mahnend, die Hand heben mußte.

»Herr Tobias von Heesemann, treten Sie doch einmal hinter Ihrer Frau Tante hervor und beantworten Sie mir eine Frage.«

»Ich w–weiß von nichts,« sagte Tobi dreist. Anna war zurückgetreten, so stand er gerade vor dem Polizeileutnant. Der reckte sich zu seiner vollen Größe, im Hochgefühl seines endlich errungenen Sieges.

»Sie wissen von nichts, Herr von Heesemann? So will ich Ihnen etwas erzählen. Sie haben einen Haß gegen Ihren Onkel gefaßt, weil er Fräulein Hete Meier plötzlich von Brake und aus ihrer Nähe fortgebracht hatte. Das geschah am 28. Oktober. Am dritten November, als Herr Max von Heesemann um dreiviertel auf acht zurückerwartet wurde, sind Sie, die 301 Hantel in der Hand, heimlich von Brake weggelaufen, dem Zug entgegen. In Scharndorf – nein, das würde mit der Zeit nicht stimmen – während seines minutenlangen Haltens vor dem Horster Wald sind Sie auf den Zug gesprungen, haben, auf dem Trittbrett entlang gehend, das Abteil aufgerissen, in dem Ihr Oheim saß, haben dem von Ihnen abgewandt Sitzenden mit der Hantel den Schädel eingeschlagen, die Leiche aus dem Wagen geworfen und sind dann von dem in der Kurve vor der Brücke langsam fahrenden Zug wieder abgesprungen und durch den Horster Wald nach Brake gelaufen, dem der fahrende Zug Sie schon wieder ein gutes Ende näher gebracht hatte. So konnten Sie das Haus erreichen, bevor Ihre Abwesenheit auffiel. Auf dem Wege haben Sie das Mordinstrument in das Brombeergestrüpp geworfen. – Nun, was haben Sie zu antworten?«

Tobi sah gleichgültig geradeaus. »B–Bin zu Haus gewesen. Hab' am Fenster gesessen. V–Valentin hat mich gesehen. A–Alle in Brake haben mich gesehen, den ganzen Abend lang.«

»Richtig. Sie waren doppelt an dem Abend. Sie sind mit solcher Überlegung zu Werke gegangen, daß Sie während Ihrer Abwesenheit einen Stellvertreter für sich zurückließen.«

Tobis weißes Gesicht wurde rot, und in seinen hellen Augen tauchte derselbe Ausdruck tierischer Wut auf, der es entstellt hatte, als er von Hetes Verlobung hörte.

»T–Tante Anna – ich will nach Haus.«

»Nach Brake sollen Sie, Herr von Heesemann, aber nicht im Wagen Ihrer Frau Tante, sondern in dem meinen.«

302 Er winkte. Sogleich fuhr ein Wagen vor. Zwei Gendarmen standen am Schlag.

»Wenn ich bitten darf!« – –

Tobi sah auf seine Tante, die kaum ihren Jubel über Ilefelds Rettung verbergen konnte, und über sie weg auf Hete, die sich dem Schmied zugewandt hatte, mit Augen, die von Glück strahlten – von Glück über Tobis Unglück. Er suchte nach einem Wort, aber Grimm und Schmerz würgten ihn dergestalt, daß seine schwere Zunge keinen Laut fand. Er war immer treu behütet worden. Jeden Kummer, jede Not hatte Max Heesemann von seinem geliebten Neffen abgewehrt. Nun sah er keinen Freund unter all den Menschen. Verlassenheit kroch wie ein Frieren ihm durch die Adern. Plötzlich fühlte er etwas Warmes, Weiches – Don, der mit dem Blick grenzenloser Treue ihm die Hand leckte, die Belohnung erwartend für seinen Gehorsam, seine Klugheit. Da schlug die Wut wie eine Flamme in Tobis Hirn. Der Hund – auch sein Hund hatte ihn verraten!

Er hob die Faust. Blitzschnell, mit gewaltiger Wucht, hieb er sie auf die Stirn des Tieres, das, sich um sich selbst drehend, ohne einen Laut zusammenbrach.

Ausrufe der Entrüstung wurden laut. Schon hoben die Gendarmen Tobi mit festem Griff in den Wagen.

Der streckte die Zunge heraus. »Ich sp–spucke euch allen ins Gesicht!« . . .

Brockmann trat zu dem Polizeileutnant. »Ich gratuliere Ihnen, Olten – ich gratuliere Ihnen von Herzen. Sie haben recht behalten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß wir in dem jungen Schwachsinnigen den wirklichen 303 Mörder gefaßt halten. Ich würde vollständig überzeugt sein, wenn nur der Mantelzipfel nicht wäre.«

»Wir werden dem mysteriösen Mantelzipfel weiter nachforschen. Wenn mich nicht alles trügt, gäbe die schöne Hete in diesem Augenblick schon viel darum, wenn sie es lieber unterlassen hätte, ihn in den Brombeeren zu finden.«

»Trauen Sie dem Mädchen eine mit Wissen gemachte falsche Aussage zu?«

»Ja. Jede Nichtsnutzigkeit, die ihr oder ihrem Konrad Vorteil zu bringen verspricht, und jede Lüge, die ein hysterisches Frauenzimmer ersinnen kann.« . . .

In Brake ließ Olten sich sofort in Tobis Zimmer führen und begann die Turngeräte zu untersuchen. Er entdeckte bald in einer Ecke eine einsame Hantel, genau wie die, die Don seinem Herrn aus den Brombeeren apportiert hatte, zu der aber in Tobis Räumen auf Brake keine Gefährtin zu finden war. Er legte Beschlag auf die Hantel.

Mittlerweile kam auch die Dienerschaft nach Brake zurück. Valentin war in großer Aufregung.

»Herr Kommissar, wahr und wahrhaftig, ich hab' den jungen Herrn am Fenster sitzen sehen und Kutscher Friedrich auch.«

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«

»Das kann man von 'n Hofe aus man slecht. Er guckte auch mehr ins Zimmer hinein.«

»Hat er eine Bewegung gemacht, solange Sie ihn ansahen?«

»Das kann ich nich sagen. Aber sitzen tat er vor das Fenster. Das kann ich beswören.«

»Was für einen Hut trug der junge Herr?«

304 »So 'n graugrünen Filz wie er im Herbst immer trägt.«

»Zeigen Sie mir den Hut.«

Valentin nahm ihn aus dem Schrank.

»Gut. Was für einen Anzug trug der junge Herr?«

»Ich mein', das war sein graues Jackett.«

»Ja,« sagte Kutscher Friedrich, »das graue Jackett hat er angehabt.«

»Gut. Gehen Sie jetzt hinunter und um das Haus herum und sehen Sie beim Zurückkommen nach dem Fenster hier herauf. Es liegt mir daran, festzustellen, wie genau ein Mensch vom Hofe aus gesehen werden kann.«

Die beiden gingen.

Olten nahm ein Kissen aus dem Bett, knöpfte das Jackett darum, stülpte auf einen überstehenden Zipfel den Hut, stopfte mit Zeitungen die Ärmel aus und setzte die Puppe auf den Lehnstuhl vor dem Fenster.

Nach einer Weile kamen Kutscher und Diener zurück. Olten ging ihnen entgegen auf den Flur.

»Was haben Sie gesehen?«

»Der junge Herr saß wieder am Fenster.«

»Saß er genau so wie am Abend des dritten November?«

»Da saß er wohl noch etwas weiter in die Stube herein.«

»Tja,« bestätigte Friedrich, »so um einen halben Meter tiefer saß er drin.«

»Aber daß der junge Herr da saß, haben Sie deutlich gesehen?«

»Jawoll!«

305 »Wann haben Sie ihn deutlicher gesehen, heut oder damals?«

Der Diener überlegte. »Ich mein', das wär' woll heut gewesen, weil daß das nu nich so dunkel is wie auf 'n Abend.«

»Damals war der junge Herr vom Licht der Lampe beschienen,« fügte der Kutscher hinzu, »un das Lampenlicht kam von der andern Seite, so daß sein Gesicht mehr wie 'n Schatten aussah, während heut das Tageslicht ja hell auf ihm fiel.«

»Aber daß es der junge Herr von Heesemann war, der am Fenster saß, am dritten November und heut – das haben Sie so deutlich gesehen, daß Sie es beschwören können?«

»Jawoll!«

»Sie auch, Kutscher Friedrich?«

»Jawoll, Herr Kommissar.«

»Bitte, kommen Sie herein. Sagen Sie, was ist das, was hier sitzt?«

Die Leute sahen die Puppe und zwischen den Gendarmen Tobi im Hintergrund der Stube und standen stumm und erschrocken.

»Wollen Sie noch immer beschwören, daß es der junge Herr Tobias von Heesemann gewesen sein muß, den Sie am Abend des Mordes hier am Fenster sahen?«

»Herr Kommissar,« sagte Valentin zitternd, »auf so 'n Einfall kann doch der Herr Tobi nun und nimmer gekommen sein.« Und fast mit Grauen sah er auf den jungen Menschen.

Der stand stumm und verstockt, sein törichtes Lächeln um die Lippen und in den Augen etwas wie 306 Triumph, daß er so viel klüger war als die, die ihn für dumm hielten.

»Wann sind Sie zuerst auf den Einfall gekommen, während Ihrer Abwesenheit von Haus eine Puppe als Stellvertreterin ans Fenster zu setzen, Herr von Heesemann?« fragte Olten. Tobi antwortete nicht.

»Am Mordabend war es nicht zum ersten Male; denn die Leute im Hause haben Sie schon öfters mit dem Hut auf dem Kopfe am Fenster sitzen sehen. Ich vermute, die Idee kam Ihnen, als Meiers nach Horste zogen. Sie wollten dadurch Ihre Besuche bei Hete Meier verbergen.«

Als Olten Hetes Namen aussprach, verzerrten sich Tobis Züge. Ein unartikulierter Laut kam über seine Lippen, und seine Hände rissen an ihren Fesseln. Dann begannen die Tränen ihm über die Wangen zu laufen. Er setzte sich auf einen Stuhl und begann zu schluchzen.

Olten suchte Frau von Heesemann auf.

»Bitte, veranlassen Sie, daß die notwendigste Wäsche für Ihren Neffen zusammengepackt wird. Er muß noch heute zur Beobachtung in die Abteilung für Geisteskranke im Kieler Krankenhaus übergeführt werden. Es ist nicht abzusehen, was für Unheil sein krankes Hirn sonst noch ausbrütet.«

»Ach, Herr von Olten, ich bin noch ganz fassungslos. Seit drei Jahren lebe ich neben ihm hin. Niemals hätte ich hinter dem scheinbar gutmütigen Jungen diese unbarmherzige Rachsucht, diese raffinierte Verschlagenheit gesucht. Und daß gerade er, der einzige, den mein unglücklicher Mann uneigennützig lieb hatte, sein Mörder werden mußte, das durchschüttelt mich 307 wie eine Tragödie. Trotzdem – bin ich sehr schlecht, weil ich über alles Entsetzen mich glücklich fühle, glücklich zum Jubeln? – Und all dies Glück verdanke ich Ihnen. Zeitlebens bleibe ich Ihre Schuldnerin.«

»Wir sind noch nicht am Ziel, gnädige Frau. Ich selbst zwar bin überzeugt, daß Tobias von Heesemann den Mord begangen hat. Es gilt aber noch Umstände richtigzustellen, die auf einen andern zu deuten scheinen. Das muß meine nächste Aufgabe sein.«

Er lehnte die Einladung zum Essen ab. »Ich fahre mit dem nächsten Zug. Heut muß noch viel geschehen.«

In Kiel suchte er sofort Ilefeld auf, der in das Untersuchungsgefängnis zurückgebracht worden war.

Mit ausgestreckten Händen kam Wolf ihm entgegen.

»Ich danke Ihnen, Olten, für mich und für eine andere. Ich danke Ihnen mehr, als ich für mich allein jemals einem Menschen hätte danken können.«

»Mir liegt daran, die Sache mit dem Mantelfetzen aufzuklären. Können Sie mir darüber einen Fingerzeig geben?«

»Nein. Ich hab' mir den Kopf zerbrochen. Ich hab' keine Ahnung – auf mein Ehrenwort! Nicht die leiseste Vermutung, wie der Lappen in die Brombeeren gekommen sein kann.«

»Sind Sie zu keiner Zeit den Weg am Waldsaum dort gegangen?«

»Was hätte ich im Horster Forst suchen sollen? Zur Jagd bin ich von Herrn von Quast seit meiner Heimkehr noch nicht geladen gewesen, also seit drei Jahren nicht.«

308 Olten zog sein Notizbuch hervor. »Ihr alter Friedrich behauptet, sogar acht Tage nach dem Morde sei der Mantel noch heil gewesen. Wenn Sie den Zipfel also nicht von dem Mantel verloren haben, während Sie ihn trugen, so müßte er abgerissen worden sein, während Sie ihn nicht trugen. Sagen Sie, haben Sie ihn jemals zum Ausbessern oder aus einer anderen Ursache fortgegeben, etwa verliehen?«

»Nein. Meines Wissens hat er unberührt in meinem Kleiderschrank gehangen, seit ich ihn zum letzten Mal nach Heesemanns Tod auf einer Reise nach Kiel getragen hatte.«

»Im Kleiderschrank, sagen Sie? Und der Kleiderschrank steht in Ihrem Schlafzimmer?«

»Ja.«

»Ist Ihnen denn in Ihrem Schlafzimmer, seit Sie den Mantel zum letztenmal trugen, etwas Ungewöhnliches aufgefallen – etwas, das Sie nicht recht begriffen, das Sie fremd anmutete?«

»In meinem Schlafzimmer?«

»Etwa daß ein Gegenstand anders stand, als Sie oder Ihr Friedrich ihn zu stellen pflegen, ein Stuhl von seinem Platz gerückt, eine Decke verschoben war, der Schrankschlüssel sich nicht drehte wie gewöhnlich?«

»Nein.«

»Es kann auch nur ein Geräusch gewesen sein, nur die unbewußte Empfindung: hier ist jemand gewesen.«

»Das ja – allerdings – kurz vor meiner Verhaftung. Aber mit dem Mantel hatte das nichts zu schaffen. Es war überhaupt nichts Irdisches.«

»Erzählen Sie immerhin.«

309 »Es war lediglich ein seelischer Vorgang.«

»Die rein seelischen und die ganz weltlichen Vorgänge sind eng miteinander verknüpft. Bitte, erzählen Sie mir Ihr Erlebnis.«

Da erzählte Ilefeld den Vorfall in jener Dämmerstunde.

»Ich hatte sofort die feste Gewißheit von einem Unglück, das sich mir ansagte, und zugleich auch, ja – das unbestimmte Gefühl von der Gegenwart einer anderen Person in der Stube. So deutlich war diese Empfindung, daß ich Licht anzündete, den Schrank öffnete, ja, sogar aus einem der offenen Fenster in den Park sah. Der Mond schien hell, aber da war niemand weit und breit.«

»Wann war das? Entsinnen Sie sich des Datums?«

»Es war drei Tage vor meiner Verhaftung, und ich war nach diesem Erlebnis so gewiß, daß sie erfolgen würde, daß ich noch denselben Abend Frau von Heesemanns Brief verbrannte.«

»Drei Tage vor Ihrer Verhaftung? Hm! Das Kammerfenster stand offen, als Sie eintraten?«

»Beide Fenster.«

»Hatten Sie sie geöffnet?«

»Wohl Friedrich.«

»Pflegten sie beide offen zu stehen?«

»Ja.«

»Der Mond schien hell, sagen Sie?«

»Tageshell.«

»Aber soviel ich mich entsinne, treten die Büsche des Parks dicht an die Fenster heran. Die Kammer liegt zu ebener Erde und sehr niedrig. Ein geschmeidiger 310 Mensch, auch ein Mädchen, würde im Bruchteil einer Minute aus dem Fenster springen und im Schatten der Büsche sich verbergen können.«

»Ich merke jetzt, wo Sie hinaus wollen. Aber, Olten, erwägen Sie das Öffnen und Schließen der Schranktür. Ich saß nebenan.«

»Fanden Sie die Schranktür geschlossen?«

»Angelehnt, glaub' ich.«

»Aha!«

»Bedenken Sie doch, sie hätte im Mondlicht den Mantel heraussuchen müssen. Und wie sollte sie wissen, welchen ich gerade am Abend des Mordes getragen hatte?«

»Sie hat Sie ja im Wald von Seebergen gesehen, samt Ihrem Mantel, zwei Stunden vor dem Mord. Das Öffnen und Schließen der Schranktür, das Schleichen durch die Stube allerdings – – – Hatten Sie einen Hund bei sich?«

»Einen Hund? Nein! Bruno, der Setter, war im Zwinger, und Waldmann meine ich draußen kläffen gehört zu haben. In der Stube war er nicht.«

»Sehen Sie wohl! Und Sie selbst waren in Gedanken vertieft.«

»Aber ich habe das Mädchen nie gekränkt. Und ich bin eher gewohnt, daß die Menschen mir etwas zuliebe tun als zuleide. Wie sollte sie dazu kommen, sich diese raffinierte Infamie auszudenken, um mich zugrunde zu richten?«

»Um den Verdacht von ihrem Geliebten abzulenken. An Sie hat sie überhaupt gar nicht gedacht.«

»Danke.«

»Also das ist alles, was Sie mir über den mysteriösen Mantelfetzen sagen können? Es ist immerhin 311 etwas. Ich fahre nach Ravenhorst, um Ihre Angaben zu ergänzen. Der Fall hat für mich nun Form angenommen. Es ist wunderbar, wie leicht und natürlich nach solchem Prozeß die noch fehlenden Glieder sich zu ergänzen pflegen. Ich bin überzeugt, ich fasse bald das letzte Glied der Kette.« . . .

Als die Dämmerung hereinbrach, war Olten in Ravenhorst.

Er rief die Dienerschaft zusammen.

»Besinnen Sie sich, wer ist am Abend des vorletzten Freitag hier auf dem Hof gewesen?«

»Der Herr hat in diesen Wochen überhaupt keinen Besuch bekommen,« versicherte Friedrich.

»Es handelt sich auch nicht um Besuch für Herrn von Ilefeld, sondern um jede Person, die an dem Abend hier verkehrt hat, öffentlich oder insgeheim.«

Die Leute besannen sich. Ein Stallknecht hatte Besuch von seinem Bruder bekommen, der in Eckernförde diente; sonst erinnerte sich niemand, einen Fremden gesehen zu haben, eine fremde weibliche Person schon gar nicht, nicht auf dem Hof, nicht im Haus, nicht im Garten.

Als Olten anfing, ungeduldig zu werden, kam pfeifend, mit roten Backen Frettchen, Ilefelds kleiner Groom, von der Landstraße. Er hatte die Fahrgelegenheit verschmäht. Breitspurig stampfte er daher, stolz darauf, daß sein Herr wieder frei werden sollte.

»Der Bengel hat Augen und Ohren wie ein Luchs,« sagte Friedrich, »und spürt den ganzen Tag auf dem Hof herum. Den wollen wir fragen.« Und er rief ihn an: »He, Fred! Hast woll ein' sleichen sehen am letzten Freitag abend?«

312 Fred machte sein dümmstes Gesicht. »Vorletzten Freitag? – Was für 'n Abend war denn das?«

»Das war, als wir Vollmond hatten, weißt, und Bruno in der Nacht das Heulen kriegte, so daß wir ihn ins Haus nehmen mußten.«

»So – an den Abend.«

»Hast ein' gesehn?«

»Bei mich is kein' gewesen.«

»Dummer Taps, bei dich braucht er auch nich gewesen zu sein.«

»Vielleicht haben Sie jemand in der Nähe des Hofes gesehen,« mischte sich Olten ein, »jemand, der nicht nach Ravenhorst gehört, der es eilig hatte, von niemand erkannt sein wollte, einen Mann oder ein Mädchen?«

»Nee!«

Fred steckte die Hände in die Taschen seiner Beinkleider und sah geradeaus.

»Für Ihren Herrn, Fred, kommt viel darauf an, daß Sie sich besinnen.«

»I wo! Mein Herr kommt sowieso los.«

»Das ist nicht sicher, falls wir nicht den oder die finden, die heimlich seinen Kleiderschrank aufgemacht und ihm den Fetzen vom Mantel gerissen hat, der in den Brombeeren von Horste gefunden sein soll.«

Der Junge drehte sich um, riß die Augen auf. »Das Stück vom Mantel heimlich abgerissen un denn hingegangen un – nee, Himmelsakrament noch mal! Die kann den Kuß wiederkriegen, den sie mir gegeben hat. Zu so 'n Gemeinheit sweig' ich nich still.«

»Also Fred, Sie haben jemand gesehen?«

»Jawoll! Die Tochter vom Insten Meier aus 313 Horste kam mit eins aus 'nem Busch, als ich Waldmann hinter der großen Scheune dressierte.«

Olten unterbrach: »Hete Meier war Freitag vor vierzehn Tagen auf Ravenhorst? Können Sie das beschwören?«

»Ich kenn' die Deern doch! In Eckernförde wär' sie gewesen, bei 'n Kaufmann, sagt' sie.«

»Und käme den Weg über Ravenhorst zurück? Haben Sie ihr das geglaubt?«

»Nee. Ich sagt', sie hätt' woll unsern Vogt ein büschen besucht. Da lacht' sie und meint', ich möcht' man kein' Spektakel machen un kein' was sagen. Denn wollt' sie mir auch 'nen Kuß geben. So 'n Karnickel!«

»Ich danke Ihnen, Fred. Sie haben durch Ihre Aussage Herrn von Ilefeld einen großen Dienst geleistet, nun ist der letzte Zweifel gehoben.« . . .

Olten behielt recht. Die einzelnen Hergänge des Mordes rollten sich leicht und lückenlos auf, sobald er, wie er sich ausdrückte, den Fall am richtigen Zipfel erwischt hatte. Tobi selbst erzählte schließlich, mit zynischem Stolz auf seine Schlauheit, die Einzelheiten seiner Tat.

Als er von seinem Jahrmarktsausflug mit Valentin zurückkehrte und das Meiersche Haus leer fand, war eine große Umwälzung in seinem Gemüt vorgegangen. Er verbarg seinen Schmerz und seine Enttäuschung nach der versteckten Art der Geisteskranken; aber er faßte einen wilden Haß gegen seinen Oheim. Der zählte ihm die Groschen zu, wo doch halb Brake ihm gehörte, der wollte ihn hindern Hete zu heiraten, der war sein Feind. Auf langen Streifzügen, während deren er sich in Brake durch eine Puppe am Fenster vertreten ließ, 314 erkundete er den neuen Aufenthaltsort der Familie. Er entdeckte auch, daß Max Heesemann Hete besuchte. Da stieg seine Eifersucht zur Mordgier. Am dritten November hatte er sich abends kurz vor sechs in der Küche gezeigt, dann rasch die Puppe ans Fenster gesetzt, sich in das Kellergeschoß geschlichen, die Hoftür geöffnet, die das Hausmädchen schon verschlossen hatte, mit der dann der Wind spielte und sie zuwarf, zum Schrecken der Mamsell und der Leute. Tobi aber war, seine eiserne Hantel in der Hand, durch Wald und Felder gerast bis zur Haltestelle des Zuges, die er von seinen heimlichen Gängen nach Horste genau kannte. Fast zugleich mit der Lokomotive erreichte er den Ort, schwang sich auf, versteckte sich im leeren Packwagen, und sobald der Zug sich wieder in Bewegung setzte, schlich er auf dem Trittbrett zu dem ersten Wagen vorn. Es war Nacht, Sturm und Regen. Niemand sah ihn. Er lugte durchs Fenster. Da saß Max Heesemann auf der anderen Seite des Abteils, den Kopf abgewandt. Tobi riß die Coupétür auf. Im Sprung schon holte er zum Hieb aus. Dem Überfallenen blieb nicht Zeit, sich umzuwenden, so rasch fiel der Schlag. Ohne Laut war er gegen die Tür gesunken. Tobi öffnete – Max Heesemann stürzte auf die Schienen. Nach einer Minute sah der junge Mörder den Hut seines Opfers auf dem Teppich liegen. Er warf ihn aus dem Fenster. Und dann, da der Zug vor der Holzbrücke die Fahrt verlangsamte, spähte er vorsichtig hinaus, schlüpfte auf das Trittbrett, schloß die Tür hinter sich, sprang mit Turnergewandtheit ab und lief über die Wiesen in den Horster Wald. Die Hantel warf er in das Brombeergesträuch und rannte in weiten 315 Sätzen, vorsichtig und flüchtig wie ein Raubtier, mit der Zeit um die Wette, Brake zu. Er erreichte ungesehen das Haus, vermochte, am Stamm eines der Bäume emporkletternd, die es beschatteten, ein offenes Fenster im ersten Stockwerk zu erreichen und seinen beschmutzten Anzug zu wechseln, bevor der Gong im Flur zum Abendessen rief. Ruhig und gesittet war er in den Saal getreten, hatte mit der Frau, die er zur Witwe gemacht hatte, zu Abend gegessen, hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, den Wagen von der Station leer zurückkommen sehen, ohne eine auffällige Erregung zu verraten, vor seinem Opfer gestanden, einzig den Gedanken des Triumphs im verkrüppelten Hirn: »Mein Feind ist tot – jetzt heirate ich Hete!« Und wenn sein Hund – sein eigener Hund – ihn nicht verraten hätte, sagte er, dann hätte er Hete auch geheiratet, und kein Mensch hätte etwas erfahren.

* * *

Tobi Heesemann ist als unheilbar und gemeingefährlich irrsinnig für Lebenszeit einer Anstalt übergeben worden. Ein Gewehr vertraut man ihm dort nicht an. Er schießt nach Spatzen mit Kinderbüchsen. Einen Hund will er nicht wieder um sich haben.

Hete Meier ist besser davongekommen, als der Polizeileutnant es ihr gönnte. Als er ihr den heimlichen Besuch auf Ravenhorst und den Raub des Mantelfetzens auf den Kopf zusagte, bekam sie einen so wilden Krampfanfall, daß der Arzt geholt werden mußte, der sie sofort ins Krankenhaus bringen ließ. Dort fiel sie aus einer Nervenkrise in die andere, in den Zwischenpausen immer wieder schreiend, die Herren vom Gericht hätten sie verrückt gemacht durch die Angst, 316 die sie um ihren Bräutigam habe ausstehen müssen. Sie wisse nicht, was sie in ihrer Verzweiflung gesagt und begangen habe. Sie wisse nichts, sie besinne sich auf nichts. Man möge ihr nur gleich den Kopf abschlagen. Dann wäre es zu Ende.

Da die sämtlichen beobachtenden Ärzte ihr Guthaben abgaben, daß schwere Hysterie vorliege, wurde Hete für ihren versuchten Betrug nicht ins Gefängnis, sondern in eine Heilanstalt geschickt. Ihr Zustand besserte sich ungefähr zu derselben Zeit, als auch Konrad seine Strafe wegen des gestohlenen Rehs und des Funddiebstahls an dem Toten verbüßt hatte. So heirateten sie. Wo das Geld aus Heesemanns Geldtasche geblieben war, erzählten weder Sedlinski noch Hete. Aber sie wanderten aus nach Ostpreußen, und irgendwie kam Konrad dort bald zu einer eigenen Schmiede. Vater und Mutter Meier bleiben im gekränkten Herzen überzeugt, daß die Herren vom Gericht durch ihre ungerechten Beschuldigungen ihnen ihre Tochter zuschanden gemacht hätten.

Anna von Ramin hat Wolf Ilefeld noch vor Ablauf des Trauerjahres geheiratet. Ihr kleines Vermögen, ihr Witwenerbe und die Summe, die der Fiskus für die durch Ravenhorst führende Kanallinie zahlte, gaben Ilefeld die Möglichkeit, sich auf seinem Grund und Boden zu behaupten, – besonders, da nun kein persönlicher Feind rachsüchtig ihn bedrängte, vielmehr das ganze Land mit Sympathie dem jungen Paare entgegenkam, das durch ungewöhnliche schwere Schicksale den Weg zu seinem Glück gefunden hatte.

 

Ende.

 


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