Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

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Sechstes Kapitel.

Am Dienstag wurde Max von Heesemann auf Brake bestattet. Fast das ganze Land kam, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Plötzlichkeit, mit der er aus der Höhe des Lebens gerissen worden war, weckte dem Toten das Mitleid auch derer, die dem Lebendigen gegrollt hatten. Und uneingeschränkte Teilnahme fand die Witwe, die Tochter aus dem seit Jahrhunderten im Lande ansässigen Geschlecht. Von zehn Uhr vormittags ab begann die Auffahrt der Equipagen, der Aufmarsch der Gutsangehörigen, der Mitglieder der Vereine, die Heesemann gegründet hatte, der Angestellten der Stiftungen, die er ins Leben gerufen hatte. Die alten und die jungen Seekamps waren gekommen. Pastor Roßmüller, Frau von Seekamps Freund, der noch immer auf Hohorst verweilte, hatte in den letzten Tagen vollauf Gelegenheit gefunden, Frau von Heesemann mit den Worten des Trostes zu erbauen, die ihm damals bei der Jagd Grete Seekamp abgeschnitten hatte. Sämtliche Tielens waren anwesend, Quasts, der alte Herr von Krastel, Olten, Brockmann, der Landrat, Parteigenossen, Offiziere der Marine und des Schleswigschen Husarenregiments.

Während hinter den dunkelverhangenen Fenstern 141 des großen Saales oben der Geistliche von Altenhagen zwischen Blumen und Kränzen vor den vornehmen Gästen die Leichenrede hielt, füllte den weiten Hof ein schwarzes Volksgewimmel. Geduldig und würdig harrten die Landleute im Novembernebel. Alle wußten von der Ergreifung des mutmaßlichen Mörders, und in all den harten Blondköpfen war ein Gefühl hochmütiger Befriedigung. Gott sei Dank – keiner von den Ihrigen! Ein hergelaufener Ausländer, ein Halbpolacke! Die Weiber deuteten leise zischelnd auf die Familie Meier, die Baron Quast von Horste hergeschickt hatte, damit auch sie ihrem vorigen Gutsherrn die letzte Ehre erwies. Wie käsig weiß die Hete in dem schwarzen Konfirmationskleid aussah, und wie wild ihr die Augen im Kopf flackerten! Ganz wie unsinnig sollte sie sich gebärdet haben, als ihr die Festnahme des Schmieds kund wurde; hatte ja wohl eine Bändelei gehabt mit dem unheimlichen Kerl. Die flachsköpfigen Knechte von Brake högten sich. Geschah der Dirne recht! Warum hatte sie dem Polacken den Vorzug gegeben vor ihnen!

Und durch das leise flüsternde Gewimmel strich, das Notizbuch in der Hand, fröstelnd in seinem Sommerüberzieher, Eduard Meserich, Berichterstatter eines Kieler Blattes. Schiffbrüchig in einem halben Dutzend von Erwerbszweigen, hatte er sich auf die Journalistik geworfen in der Hoffnung, durch besonders glänzende Leistungen sich eine Stellung zu schaffen. Wenn er doch über diesen sensationellen Mord in der Eisenbahn, der die ganze Provinz in Aufregung brachte, einen Artikel bringen könnte – Einzelheiten, von denen niemand sonst wußte, eine Kombination, die 142 durch ihren Scharfsinn Staatsanwalt und Polizei übertrumpfte!

Endlich wurde der blumengeschmückte Sarg auf den von acht Rappen gezogenen Leichenwagen gehoben. Der Zug ordnete sich; hinter dem Toten kränzetragende Jugend, die Schulkinder mit dem Lehrer, danach die Wagen; hinter ihnen, je zwei und zwei, die lange Reihe der Fußgänger.

So zogen sie durch das feine Nebelgeriesel dem hochgelegenen Kirchhof von Altenhagen entgegen. Weit offen standen beide Flügel der Eingangstür. Hier hielten die Wagen. Die Witwe stieg aus. Im schleppenden Trauerkleid, vom Kreppschleier bis zu den Füßen umwallt, schritt sie als erste hinter dem Sarg. Der alte Herr von Seekamp hatte ihr väterlich den Arm gereicht. Der nächste war der junge Tobias von Heesemann. Seltsam stand der schwarzumflorte Zylinderhut dem unfertigen Knabengesicht. Tobi hielt die Wimpern niedergeschlagen. Linkisch ging er, wie gepeinigt von den Blicken der vielen Menschen um ihn her. Die Freunde des Toten schlossen sich an, ein langer Zug, dessen Schwarz hie und da die leuchtenden Husarenuniformen freundlich unterbrachen.

Die Schulkinder scharten sich um die offene Gruft, die Vereine mit ihren in der feuchten Luft schlaff niederhängenden Fahnen. Durch den Novembermorgen mit seinem weißen Dunst und seinen von den Bäumen sinkenden gelben Blättern, durch das große Sterben der Natur klang ergreifend das Lied von der sanften Ruhe der Toten. Der Nebel tropfte dazu in melancholischem Fall von den Zweigen der Sträucher, die Georginen und Astern, die, vom ersten Frost des 143 Jahres getroffen, die schwarz gewordenen Blumenköpfe senkten, predigten die Vergänglichkeit des Irdischen. Dann hob der alte Geistliche segnend die Hände über den Schläfer im Sarg. Die Köpfe ringsum neigten sich zum Gebet. Die Stricke knarrten, die Last senkte sich in die offene Gruft. Der Mann, der mit kraftvoller Hand eingegriffen hatte in die Geschicke seiner Mitmenschen, war weggeschwunden aus dem Leben, das ohne ihn, über ihn seinen Gang weiterging.

Der Geistliche reichte der Witwe die Schaufel, damit sie als erste drei Hände voll Erde dem Toten nachwerfe als letzten Abschiedsgruß. Groß und schwarz stand sie vor der offenen Gruft, keiner Stütze bedürftig, und vollzog mit ruhiger Würde den frommen Brauch. Ihr verschlossenes Gesicht zeigte keinen Schmerz, nur den strengen Ernst, der dem Augenblick entsprach.

»Doch ein prachtvolles Weib!« sagte Olten bewundernd zu Brockmann.

Der Staatsanwalt ließ seine Augen langsam über das Trauergefolge gleiten. »Der Ravenhorster fehlt,« sagte er mit schwerer Betonung.

Eine Bewegung löste jetzt die starren Menschenmassen. Anna von Heesemann hatte ihr Gebet beendet, wandte sich von der Gruft, und ehrfurchtsvoll öffnete die Menge ihr eine Gasse zum Wagen. Da stürzte aus der dichtesten Schar Hete Meier. Mit in Wahnsinn flammenden Augen, mit drohend erhobenen Fäusten, Schaum auf den Lippen, sperrte sie der Witwe den Weg – nur den Bruchteil einer Sekunde. Zehn Fäuste zugleich griffen zu, rissen sie zurück in die Reihen, gewaltsam ihren Aufschrei erstickend. Sie, der dieser wilde Angriff galt, hatte ihn nicht bemerkt. 144 Den Kopf erhoben, schritt sie vorüber, in den Augen ein Leuchten, das wie in neuer Hoffnung das Leben zu grüßen schien.

Aber von dem Trauergefolge hatten viele den Vorgang beobachtet. Wie ein Habicht schoß Meserich mit seinem Notizbuch auf den sich rasch um das Mädchen zusammenballenden Knäuel los. Pastor Roßmüller verließ seine alte Freundin Frau von Seekamp und faßte den Braker Hofvogt am Rockknopf.

»Sagen Sie, lieber Mann, kennen Sie die junge Person? Was mag der Grund ihres auffallenden Benehmens sein?«

Der Vogt gab Bescheid. Das war Hete Meier, das Mädchen des verhafteten Schmiedegesellen. Gäbe es die nicht, wer weiß, ob der Braker Gutsherr nicht noch am Leben wäre! Allein um die paar Goldfüchse hatte der Sedlinski den wohl nicht erschlagen. Die Leute in Brake munkelten allerlei von dem Herrn von Heesemann und der Hete. Jetzt tat die Dirne ja wie unbesinnlich, hätte in ihrer Verrücktheit sich um ein Haar gar noch an Frau von Heesemann vergriffen, vor der sie sich doch in ein Mauseloch verkriechen sollte. Nun, das war glücklich verhütet worden.

In großer Aufregung kehrte Roßmüller zu seiner Gönnerin zurück. Er fühlte den Ruf Gottes in seiner Seele brennen. Da war eine große Sünderin, eine weitab Verirrte, und zählte doch erst siebzehn Jahre, und brauchte Trost, und hatte eine Seele, die gewiß dem Himmel noch zu retten war.

Die praktische Frau von Seekamp hätte ihren Freund gern verhindert, sich einzumischen. Aber Roßmüller hatte den großartigen Eigensinn aller derer, die 145 sich in der Welt durchsetzen. Wo er gar sich von Gott gerufen glaubte, vermochte kein Mensch ihn zurückzuhalten. Er erbat sich einen Platz im Wagen eines Nachbarn bis Scharndorf. Dann wanderte er eilig den Weg von der Station zu der Kate Wilm Meiers.

Die Instleute waren gerade vom Begräbnis heimgekehrt. Wilm Meier, noch im Kirchenrock, Mutter Meier, den Hut auf dem Kopf, schalten auf die in Trotz verstockte Hete ein, die übrigen Sprößlinge lauschten mit runden Augen und wonnigem Gruseln. Seit Polizeileutnant von Olten die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, waren zwischen Eltern und Tochter mehr bittere und böse Worte hin und her geflogen, als in achtzehn Jahren vorher. Und Wilm Meier, der nach norddeutscher Art seine eigenen Angelegenheiten am liebsten mit sich und den Seinigen allein abmachte, begrüßte nicht eben freundlich den Besucher, der sich ihm vorstellte als einer von denen, an die, wie einst an Petrus, das Wort ergangen sei: »Künftig wirst du Menschen fangen«, und um eine Unterredung mit Fräulein Hedwig Meier ersuchte. Aber die Frau stieß ihn mahnend in die Seite. Ein Pastor war immerhin ein Pastor. So wurde Roßmüller die Tür zur guten Stube geöffnet und Hete nachgeschoben, während der Rest der Familie in der Küche blieb.

Der geistliche Herr drückte Hete sanft auf einen Stuhl nieder, der am Tisch vor dem hochlehnigen Sofa stand, und setzte sich ihr gegenüber. Er sprach davon, daß mehr Freude im Himmel sei über einen Sünder, der Buße tue, als über 99 Gerechte, und daß Christus nicht in die Welt gekommen sei, daß er das zerstoßene Rohr zerbreche und das glimmende 146 Licht auslösche, sondern damit die Sünder gerettet würden.

Hete saß zuerst mit verstockt gesenkten Lidern und trotzig aufgeworfenen Lippen, hartnäckig schweigend. Aber seine Stimme war weich und mild. Nach Vater Meiers rauhen Wutlauten klang sie wie Musik. Unter den gesenkten Wimpern hervor begann Hete neugierig den Mann anzuschielen, dessen ungewöhnlich glänzende Augen in schönere Welten als diese zu blicken schienen. Und plötzlich faßte sie Mut, warf den Kopf in den Nacken und fragte bitterböse:

»Ja, was hab' ich denn begangen?«

Roßmüller machte eine Bewegung des Schreckens. »Was Sie begangen haben, Kind? – Durch Ihre sträfliche Leichtfertigkeit liegt ein Mann erschlagen in der Blüte seiner Jahre, und ein armer heißblütiger Bursch ist zum Mörder geworden, verloren für diese und jene Welt. Sie aber, in der Verstocktheit Ihrer Sünde, wagen es, die Frau beleidigen zu wollen, vor der in der Majestät ihres Schmerzes der roheste Knecht in Ehrfurcht zur Seite wich!«

»Och die!« brauste Hete auf. »Ehrfurcht – vor der?!«

»Auf den Knien, die Stirn im Staub, müßten Sie vor Frau von Heesemann liegen, um Vergebung bettelnd.«

»Ja woll, Herr Pastor, ich bin ein armes Mädchen, und der Konrad ist man ein Handwerksbursch. Da muß er ein Mörder sein und ich eine schlechte Person. Das aber sage ich Ihnen, wenn Sie denen ins Gewissen reden wollen, die den Braker Herrn umgebracht haben, dann müssen Sie schon ein 147 büschen weiter gehen – zu viel Vornehmeren, als wir sind.«

»Was heißt das?«

Hete verfiel in ein wildes Schluchzen. »Es hilft ja nichts! Sie glauben mir nicht! Niemand glaubt mir!«

Das Schluchzen wurde ein Schreien, und das Schreien ein Krampf: Hete Meier warf sich auf den Boden. Zuckend schlug sie mit Händen und Füßen um sich. Ihr Vater riß erschrocken die Tür auf. Aber Roßmüller schob ihn von der Schwelle zurück. Er kannte diese Krisen, die häufig den Bekenntnissen großer Sünder vorangehen. Mit sanfter Gewalt hob er die Weinende vom Boden auf, ließ sie neben sich auf dem Sofa sitzen, sprach ihr leise zu mit der weichen Stimme, deren Macht er kannte. Reden sollte sie zu ihm von dem, was sie quälte, ihrer Schuld oder Unschuld, ehrlich wie vor Gott. Er würde ihr helfen, den Frieden der Seele zu finden und auch wieder festen Fuß zu fassen in dieser Welt.

Hetes Schluchzen wurde allmählich sanfter. Sie wischte sich mit der Schürze die Augen, sah nachdenklich zu dem Tröstenden auf.

»Ja, Herr Pastor, ich will Sie alles sagen, alles. Wenn Sie mir bloß glauben möchten! Ich hab' mir wahrhaftig nichts zuschulden kommen lassen. Nein! Mein' Konrad hab' ich lieb gehabt. Das is doch nix Slechtes, nicht wahr, wenn ein Mädchen einen Burschen lieb hat?«

Roßmüller lächelte mild. »Ihren künftigen Ehemann darf eine christliche Jungfrau in Zucht und Ehren lieb haben, gewiß. Indessen« –

Hete unterbrach. »Wir wollten doch heiraten, der 148 Konrad und ich! Und was den Herrn von Heesemann angeht, wenn der kam, das war in allen Ehren. Ich bitt' Sie, Herr Pastor! Ein verheirateter Mann und hätt' mein Vater sein können! Auf den brauchte der Konrad nicht eifersüchtig zu sein – und war's auch nicht. Dem Konrad war der Herr von Heesemann nicht im Weg, Herr Pastor, dem nicht!«

»Wollen Sie sagen, daß Herr von Heesemann einem anderen im Weg gewesen sei, daß ein anderer ihn ermordet habe? – Wer sollte denn das gewesen sein?«

»Der es mit seiner Frau hielt! Der Frau von Heesemann heiraten wollte, dem war Herr von Heesemann im Weg! Und der hat ihn umgebracht!«

»Kind! Kind! Um Gottes willen! Die Angst um den Mann, den Sie lieben, verwirrt Sie. Wie dürfen Sie solch furchtbare und haltlose Beschuldigung aussprechen!«

Hete fing wieder an zu schluchzen. »Ja, nun glauben Sie mir nicht, Herr Pastor – gerade wie der Vater. Und ich sage doch nur, was ich weiß.«

»Also sprechen Sie zu Ende, Kind. Sagen Sie mir alles, was Sie zu wissen meinen. Ich will's prüfen sonder Ansehen der Person. Und bietet es tatsächlich einen Grund für solch grauenvolle Anklage, so will ich selbst Ihnen helfen, sie zu erheben. Sie sind nicht ohne Schützer. Fassen Sie Mut!«

Hete schluckte ein paarmal und begann: »Schon als wir noch auf Brake wohnten, hab' ich die Leute sagen hören, daß die Frau von Heesemann es als Mädchen mit einem anderen gehalten hat. Den Herrn von Heesemann hat sie auch nicht ein büschen gern 149 gehabt. Nich einmal ihren kleinen Jungen mochte sie leiden, weil es seiner war.«

»Das ist bösartiger Klatsch!« unterbrach Roßmüller ungeduldig. »Wenn Sie nicht Tatsachen zu berichten haben, so schweigen Sie!«

»Warten Sie man, Herr Pastor, warten Sie! Die Tatsachen kommen. Am Freitag vor acht Tagen war doch die Treibjagd bei den Hohorster Herrschaften. Das Frühstück sollte beim Bauer Martens in Kolbe gegessen werden, und was Frau Martens ist, die hatte mich gebeten, daß ich ihr ein büschen bei'n Aufwarten helfen sollt'. Wie die Herren nu beim Frühstück sitzen, mit eins fliegt die Tür auf, und herein kommen die junge Frau von Seekamp, dem Seekamp von Annenhof seine Frau, und Frau von Heesemann. Und wie die Frau von Heesemann den Herrn von Ilefeld zu Gesicht kriegt, der mit den anderen aufgesprungen war, wird sie denn so weiß wie Frau Martens ihr Tischlaken, und der Herr von Ilefeld kriegt einen Kopf wie ein kalkuttscher Hahn, und beide stehen wie ein Paar Salzsäulen« –

»Herr von Ilefeld, sagen Sie? Herr von Ilefeld auf Ravenhorst?«

»Warten Sie man, Herr Pastor, warten Sie. Das kommt besser! Also, das Treiben geht wieder los. Ich mußt' das ja abwarten, weil die Schützen all auf dem Weg nach Brake zu standen. Da konnt' kein' durch. Aber wie das mit das Schießen still wird, mach' ich mich auf. Es war slecht Wetter, ein Nebel, daß ein nich zwanzig Schritt weit sehen konnt', un das tropft' man immer so von den Bäumen dal. Ich geh' an 'n Koppelrand lang, um abzusneiden. Da kommt aus so 'ne tropfnasse Buchenschonung Frau von 150 Heesemann gelaufen – und sieht mich nich und sieht gar nix, was vor ihr ist. Bloß hinter sich glupscht sie, als ob sie bange wär, daß ihr da was nachkommen könnt'. Und am Knick da bleibt sie stehen und hält sich an so 'n lütjen Stamm, weil sie ganz außer Puste war. Bei kleinem kommt sie sich aber wieder, fängt an und rückt ihren Hut gerade, der ihr ganz schief auf 'm Kopf saß, und zupft sich das Kleid zurecht, und denn geht sie, die Nase in der Luft, ganz langsam nach Kolbe zurück. Ich bin aber noch kein fünfzig Schritt weiter, da treff' ich auf die Herrn. Die standen all auf einem Hümpel und uzten den Herrn von Ilefeld, weil er auch nich einen einzigsten Hasen geschossen hätte. Bloß Herr von Heesemann sagt' nich ein Wort und macht' ein Gesicht, als ob er einen umbringen möchte« –

»Mein Kind, all das, was Sie da erzählen, gilt vor dem Ohr des Richters so viel wie ein Traum. Sie haben eine sehr lebhafte, ich möchte sagen, eine krankhafte Einbildungskraft« –

»Warten Sie, Herr Pastor! Warten Sie, ob ich mir was einbild'! Also vorigen Sonnabend, als Herr von Heesemann zu mein' Mutter kam, da war ich nich gleich zu Haus. Ich hatte bei Frau Martens mein Tuch liegen lassen, und weil es doch so 'n kalten, windigen und nassen Tag war, lief ich nach Kolbe und wollte es holen. Auf dem Neudorfer Weg seh' ich Kutscher Friedrich mit dem Wagen von Brake ganz langsam immerlos im Regen auf und ab fahren, und wie ich an die Stelle komme, wo es nach dem Strand hinunter geht, da seh' ich 'ne Mannsperson durch die Büsche streichen. Ich erkannte gleich dem 151 Herrn von Ilefeld seinen breiten Rücken. Da«  – Sie stockte.

»Da mischten Sie sich in Dinge, die Sie nichts angingen, suchten zu erlauschen, was nicht für Sie bestimmt war? Wie?«

»Herr Pastor, unsereins is auch ein Mensch! Herr von Heesemann hat zum Baron Quast gesagt, er müßt' das aus Rücksicht für sein' Frau tun, daß er uns von Brake wegschickte. Sein' Frau, hat er gesagt, stieße sich da an, wie ich mich herausputzte, und daß die Diener und die jungen Bursche auf Brake mir zu Gefallen liefen. Und wenn denn nachher so eine, ein' verheiratete Frau« –

»Also – was haben Sie nun gesehen und gehört? Kommen Sie endlich zur Sache!«

»Ich bin dem Herrn von Ilefeld nachgeschlichen. Nah konnt' ich nich ran, denn er hat Augen und Ohren wie ein Luchs. Ich dacht' mir aber schon den Ort, wo er hinwollte, weil das Holz da am dicksten ist. Da machte ich, daß ich die erste war, und in der dichten Tannenschonung hab' ich gelauert und traute mich kaum zu schnaufen. Das dauerte denn auch man eine kurze Zeit, da kam er, und denn kam sie, und mitten auf dem Weg da sind sie sich begegnet, und da sind sie wohl eine halbe Stunde lang miteinander auf und ab gegangen und haben geredet und sich die Hände gedrückt, so recht verliebt. Verstehen konnt' ich bloß ab und zu mal ein Wort, das die Frau sagte. Seine Stimme, die brummelte nur in dem dicken Nebel, und ich durft' mich ja nicht rühren. Und denn haben sie sich geküßt, und endlich, schon beim Abschiednehmen, kamen Sie gerade vor die Tannen 152 zu stehen, hinter die ich mich geduckt hatte. Sehen konnte ich sie nun nicht mehr. Aber es schien, als wenn der Herr von Ilefeld um was bettelte, und sie wollte nicht. Mit eins hör' ich sie ganz deutlich sagen: »Nein. Ich will frei sein. Ich muß frei sein!« Er brummelt was dazu. »Nein, nein,« sagt sie wieder, »wenn ich frei bin, dann! Sobald ich frei bin!« Und er antwortet: »Gut!« Das eine Wort hab' ich von ihm gehört. Ganz langsam und mit so ein' besonderen Ton sagt' er: »Gut!« Denn wurd's still; bloß seine Schritte nach der einen Seite un ihre nach der anderen. »Ich will frei sein!« sagte sie, und »Gut!« sagte er, und drei Stunden darauf liegt ihr Mann erschlagen. Meinen der Herr Pastor noch, daß ich mir was einbilde?«

Triumphierend sah sie den Geistlichen an. Vater Meiers geradliniger Verstand hielt sich an die gefundene Mordwaffe, das blutbefleckte Hemd, die Überzeugung der gesetzlichen Behörde. Er schäumte, daß sein Fleisch und Blut als Braut eines Mordbuben ins Gerede kam, und er beantwortete Hetes wilde Behauptungen weniger mit Worten als mit seiner Hand, die schwer war. Aber in Pastor Roßmüllers kindlich entsetzten Zügen las Hete Glauben und Verständnis.

»Wenn das sich wirklich so verhält, Kind – wenn Sie sich nicht verhört haben – wenn die Worte gefallen sind – so gefallen, wie Sie es schildern, und wenn Sie sich nicht in den Personen geirrt haben – hm« –

»Herr Pastor, jedes Wort, das ich gesprochen habe, will ich beim lieben Gott und meiner Seele Seligkeit beschwören.«

153 »Hm. Haben Sie Ihrem Vater von diesen Dingen Mitteilung gemacht?«

»Ach, Herr Pastor, er glaubt mir ja nicht! Kein Mensch glaubt einem armen Ding, wie ich es bin. Sie werden meinem Konrad den Kopf abslagen, und ich muß es ansehen und kann ihm nicht helfen!« Wieder begann sie zu schluchzen.

Roßmüller legte tröstend den Arm um ihre Schulter. »Seien Sie ruhig, mein Kind. Ich will an Ihrer Statt, was Sie mir berichtet haben, zur Kenntnis der menschlichen Richter bringen. Den Ausgang müssen wir Gottes Ratschluß überlassen. Erheben Sie Ihr Herz und Ihre Hoffnung zu ihm, ohne dessen Willen kein Blatt vom Baum sich löst, und der ein Schutz der Schwachen und ein Schirm jeder gerechten Sache ist. Sie sollen von mir hören.«

Überwältigt von Dankbarkeit küßte Hete ihm die Hände.

Roßmüller aber trat hinaus zu Wilm Meier. »Gehen Sie schonend mit Ihrer Tochter um, guter Mann,« sprach er ernst. »Zeigen Sie ihr in dieser schweren Zeit die Liebe eines echten Vaters. Sie verdient sie.«

Hastig brach er auf. Hetes Schilderung hatte einen viel größeren Eindruck auf ihn gemacht, als er zeigen wollte. Aus seinem Christentum heraus war er sehr geneigt, die Partei der Armen und Geringen zu nehmen gegen hochmütige Bedrücker. Wohnte nicht schon zu des Heilands Zeit die Gerechtigkeit bei den von der Welt Mißachteten, den Zöllnern und Sündern – und in den vornehmen Kasten der Pharisäer und Leviten die Ungerechtigkeit? Übertünchte Gräber, von 154 außen lieblich anzuschauen und im Innern voller Moder und Staub, so hatte Christus die Spitzen seines Volkes gescholten. Sein Wort paßte wohl auf die Vornehmen aller Zeiten und aller Völker. Und Ilefeld? – Roßmüller hatte von dem jungen Husarenoffizier bei seinen häufigen Besuchen im Lande gehört. Sein Ruf war nicht gut. Ein Spieler, Zecher, Verschwender. Junge Weltleute bewunderten an ihm eine gewisse Ritterlichkeit, ein hochfahrendes Herrentum. Frau von Seekamp hatte kummervoll von seinen blutigen Ehrenhändeln, seinen wilden Liebesabenteuern und Spielaffären gesprochen. Rücksichtslos gegen Sitte, Gesetz und Menschen, so sah das Auge des Geistlichen sein Bild. Und dieser Mann hegte eine Leidenschaft für die Frau eines anderen – keine unerwiderte. Roßmüller rief sich das Bild der Witwe am Grab ihres Mannes zurück. Das war kein Weib, das Abschied nimmt von der Freude und Hoffnung des Lebens. Über Grab und Tod hinweg schienen ihre Augen in eine ferne Herrlichkeit zu schauen. Der Gutsherr von Ravenhorst aber fehlte bei der Bestattung, von all den Gutsnachbarn in weitem Kreise er allein! Je länger Roßmüller nachdachte, desto gewaltiger wuchs seine Empörung. Wie ein schwerer Wein kreiste sie ihm im Blut, stieg ihm ins Hirn. Eine Bluttat, die zum Himmel schrie, und dazu die herausfordernde Frechheit der üppigen Verbrecher, die mit dreister Stirn Achtung und Teilnahme ihrer Mitmenschen als schuldigen Tribut einheimsten, während ein armer Bursch statt ihrer der rächenden Gerechtigkeit verfiel und ein schuldloses Kind verzweifelte!

Ehe Roßmüller sich besann, stand er auf dem 155 Scharndorfer Bahnhof, bebend an allen Gliedern vom Fieber seiner Entrüstung.

In einer der entblätterten Lauben vor dem Stationsgebäude saß Eduard Meserich, trank ein Glas Bier und mißhandelte ein Zeitungsblatt im Ingrimm seiner Enttäuschung. Denn die Bestattung des Braker Gutsherrn war gewesen wie alle vornehmen Bestattungen. Nichts Sensationelles, nichts Pikantes hatte er ergattert, nichts, was nicht schon zehn Zeitungen gebracht hatten, nichts auf dem Friedhof, nichts auf dem Scharndorfer Bahnhof. Der Artikel, der seiner Zukunft Grundlage bilden sollte, mußte ungeschrieben bleiben.

Da bog mit wiegendem Schritt Pastor Roßmüller auf den Bahnhof, faßte den Stationsvorsteher am Rockknopf, atemlos, rot im Gesicht und mit funkelnden Augen.

»Der nächste Zug, lieber Vorsteher! Der nächste Zug nach Kiel – wann geht der? – Und wollen Sie, bitte, wenn die Seekamper Herrschaften hier durchfahren, sie benachrichtigen, daß ich die Nacht über in Kiel bleibe – in Geschäften, in unaufschiebbaren Geschäften. Ich würde morgen alles aufklären. Danke. Und das Polizeigebäude in Kiel – nicht wahr, das liegt doch am Markt?«

Ja, das Polizeigebäude lag noch immer am Markt. Aber der nächste Zug nach Kiel, der ging leider erst in einer Stunde.

Roßmüller schrie auf. »Eine Stunde!« Eine ganze Stunde warten – wenn jede Fiber brennt, ihre Spannung durch Handeln zu entladen. »Lieber Mann, denken Sie nach! Geht kein Güterzug, kein Viehzug, 156 der mich mitnehmen könnte? Sie tun ein gutes Werk. Es handelt sich nicht um Geringes. Um Tod oder Leben eines wahrscheinlich Unschuldigen handelt es sich!«

Der Stationsvorsteher schüttelte den Kopf. Der Güterzug, der vor dem Personenzug durch Scharndorf kam, langte doch erst nach ihm in Kiel an. Der Herr Pastor mußte sich gedulden.

Eduard Meserich aber reckte lauschend den mageren Hals. Tod oder Leben eines wahrscheinlich Unschuldigen? – Hei, wußte dieser Pastor gar etwas Besonderes über die Mordsache? Er stellte ihn.

»Darf ich Ihnen einen Platz an meinem Tisch anbieten, verehrtester Herr Pastor? Es ist die am besten vor dem Wind geschützte Ecke. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle: Meserich, Eduard Meserich. Den Herrn Pastor kenne ich selbstverständlich sehr gut. Ich habe keine der Predigten des Herrn Pastors versäumt, und ich darf wohl sagen, daß sie mir das Christentum gewissermaßen neu erschlossen haben. Ich bin glücklich, endlich einmal Gelegenheit zu haben, Ihnen persönlich meine Bewunderung auszusprechen – mit Druckerschwärze habe ich es ja oft genug getan – meine Bewunderung für Ihre Person und für Ihr unvergleichlich gesegnetes Wirken an den Seelen der Suchenden und Irrenden.«

»Ach, lieber Freund,« seufzte Roßmüller, noch ganz verloren in die Gedanken, die ihn den Weg über nicht losgelassen hatten, »was vermögen wir Menschen? Eine tiefe Entmutigung drückt mich nieder, wenn ich sehen muß, wie groß die Macht der Finsternis in den Seelen noch immer ist.«

»Das ist wohl so, Herr Pastor. Das Reich 157 Gottes auf Erden ist noch fern. Das beweist wieder der neueste Mord.«

»Ja, dieser Mord! Dieser grauenvolle, ungeheuerliche Mord! Wie das Irrlicht aus dem Sumpf ist er aufgestiegen aus der Fäulnis der im Wohlleben entarteten oberen Gesellschaftsschichten. Ein Wahrzeichen dieser Fäulnis steht er da, eine furchtbare Mahnung, die Gewissen der Menschen aufzurütteln.«

»Der Herr Pastor weiß sicher Genaues über den Hergang. Kein Wunder, bei dem großen Vertrauen, das dem Herrn Pastor von allen im Lande entgegengebracht wird.«

»Ja, ich weiß Einzelheiten – durch das Bekenntnis einer geängstigten Seele. Nun gibt es Bekenntnisse, die der Seelsorger im tiefsten Herzenskämmerlein verschließen soll. Aber dieses schreit danach, bekanntgegeben zu werden. Ich bin auf dem Wege, es den Behörden zu unterbreiten.«

»Was Sie sagen! Am Ende ist der verhaftete Schmiedegeselle gar nicht der Mörder?«

»Es ist eine seltsame Wiederkehr und Wiedererneuerung in allen Dingen und Geschehnissen. Das Weib bot im Paradiese Adam den verbotenen Apfel und verführte ihn, davon zu essen. Seitdem geht die Verführung durch das Weib durch alles irdische Geschehen.« Roßmüller hatte vergessen, zu wem er sprach. Er hing seinen Betrachtungen nach wie auf der Kanzel in der Impulsivität, die seine Stärke war und seine Schwäche. Das Herz war ihm voll, es quoll über.

Meserich ließ einen Versuchsballon aufsteigen. »Das Weib? Herr Pastor meinen die hübsche, kleine Person, die den Auftritt auf dem Friedhof verursachte?«

»Das unbesonnene Kind aus dem Volke? Nein. 158 Eine stolze Jesabel hat sich erhoben. Es gelüstete sie nach einem Weinberg, der ihr nicht gehörte, und rotes Blut mußte fließen, damit der Weg dazu für sie frei wurde. Fragen Sie mich um nichts, lieber Mann. Ich darf Ihnen die Namen nicht nennen, nicht die Umstände Ihnen verraten. All das Material, das durch des Himmels Fügung sich in meiner Hand gesammelt hat, ich muß es weitergeben einzig in die Hände der von Gott gesetzten Richter.«

»Ich frage nach keinen Namen, Herr Pastor. Es ist mir nur eine unaussprechliche Freude, ja, eine wirkliche Erbauung, den Herrn Pastor sich aussprechen zu hören über diese Bluttat, die uns alle hier erschüttert.«

»Ja, auch diese zeigt die alte, ich möchte sagen die topische Entwicklung aller furchtbarsten Verbrechen, die auf der Welt begangen worden sind. Mit der bösen Lust beginnt's, und in einer Kainstat endet's. Der hochmütige Trotz, der über der Menschen Meinung sich wegsetzt, überspringt schließlich auch die Schranken göttlicher Gebote. Der Verächter der Sitte wird zum Gesetzesbrecher. Gott läßt sich nicht spotten. Die Menschen erfüllen seinen Willen, indem sie ihm zu trotzen meinen.«

Er sprach eingehend über diesen Zusammenhang, der ihn mit Bewunderung erfüllte. Er liebte es, im Besonderen das Allgemeine zu erkennen, im scheinbar Willkürlichen das unverrückbare Gesetz. Meserich lauschte, ohne zu unterbrechen. Er kannte die Gesellschaft des Landes, in dem er geboren war, genau. Er kannte auch ihren Klatsch, den von vorgestern und den von heute. Unnötig, ihm Namen zu nennen. Er übersetzte sich ohne Mühe die biblische Jesabel in ein 159 modernes Weib, das als Mädchen die Königin der Bälle gewesen war und auch nach ihrer Verheiratung als schweigsame und müde Frau kraft ihrer eigenartigen Persönlichkeit im Mittelpunkt des Interesses geblieben war, Stoff für alle müßigen Phantasien und alle losen Zungen. Und auch den Mann zu erkennen, war nicht schwer, der von einem Verächter der öffentlichen Meinung zu einem Gesetzesbrecher geworden sein sollte, der Frau zulieb. Meserich sah ihn in seiner Erinnerung deutlich vor sich, wie er, Viere lang, durch die nachtstillen Ortschaften jagte, daß die Köter aus allen Gehöften wild kläffend aufstoben und die aufgeschreckten Schläfer an die Fenster liefen, weil sie fürchteten, es brenne im Ort. Er wußte auch, daß an einem Winterabend dieser Mann alle Veilchen, die es in der guten Stadt Schleswig gab, angekauft hatte, um sie der Frau zu Füßen zu legen, die damals noch einen Mädchennamen trug, und von der jeder glaubte, sie würde seine Frau werden. Während der Pastor redete, baute Meserich Stein um Stein den Artikel auf, der die Grundlage seiner journalistischen Zukunft werden sollte.

Dann kam der Zug. Im gleichen Fieber stiegen beide ein. Nur traf der Pastor auf dem Polizeibureau niemand von den mit dem Fall betrauten Beamten, und der Staatsanwalt, den er aufsuchte, war gar verreist. Er mußte sich also bis zum nächsten Morgen gedulden. Meserich dagegen fand das Bureau seiner Zeitung weit offen für sich und das eifrigste Entgegenkommen für die Nachrichten, die er brachte. Am Redaktionstisch schrieb er seinen Artikel, und noch in der Nacht wurde er gesetzt und gedruckt. 160



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