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Bei Meiers ging es an diesem Sonntag hoch her. Für gewöhnlich hauste die Familie in Küche und Kammer. Aber heut hatte die Hausmutter ein paar Holzscheite in den blitzblank geputzten Ofen der guten Stube geschoben, der Stube, wo an der Wand das schwarz überzogene Sofa stand, das von ihren Ersparnissen aus der Mädchenzeit gekauft war, wo über dem Tisch die Hängelampe hing, die ihre Dienstherrschaft ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Ihre Älteste sollte nach all dem Kummer, den sie gehabt hatte, auch Ehre haben an ihrem Ehrentag.
Am Morgen war der Schmiedegeselle aus Brake beim alten Meier gewesen und hatte ganz verständig mit ihm über Verspruch und Hochzeit geredet. Er mochte die Dern, die Hete, leiden, und die Dern mochte ihn. Daß er sein Handwerk verstand, konnte Schmied Carstens ihm bezeugen. Daß er kein Mörder sei, hatten die Herren vom Gericht, wenn auch ungern, ihm bescheinigen müssen. Ein Vatersbruder, fern in Ostpreußen, ein kinderloser, wohlhabender Mann, hatte sich erboten, ihm, sobald er heiraten und sich seßhaft machen wollte, das Geld zu einer eigenen Schmiede zu geben. Aus welchem vernünftigen Grund wollte Meier 248 ihn denn nun nicht zum Schwiegersohn? Es liefen ihm doch außer Hete noch genug Töchter im Haus herum, die er sattmachen mußte.
Frau Meier redete zu. Und Hete drohte einen jener Schreikrämpfe zu bekommen, die sie seit Heesemanns Ermordung oftmals befielen. Da sagte Meier ja. Zwar begriff er noch immer nicht, was seine hübsche Tochter an dem schwarzhaarigen, scheelen Gesellen reizte, aber er war mürbe geworden. Und auch das war ihm recht, daß die beiden bald heiraten wollten. So wurde die Verlobungsfeier auf vier Uhr nachmittags angesetzt.
Während die Mutter den Festkaffee braute, lief Hete aus dem Hause ihrem Schatz entgegen. Hinter der großen Scheune auf dem Hofe, der leer lag in der sinkenden Winterdämmerung, lauerte sie ihm auf. Und sobald er um die Waldecke bog, flog sie ihm an die Brust.
»Bist da, Starker, du?«
Während er sie an sich drückte, murmelte er in plötzlicher Sorge: »Was ist's? Sollt' ich vielleicht nicht kommen?«
»Du sollst kommen, freilich. Aber wenn sie alle dabei sind, kannst mich ja kaum ordentlich küssen.«
Er hob sie in seinen Armen auf, wirbelte sie wie der Wind ein Blatt, und da die Tür zur Scheune neben ihnen war, stieß er sie auf und zog die Dirne mit sich hinein.
»Magst's, wenn ich dich küsse? Hast mich wirklich lieb?«
»Ja, du! Sonst würd' ich gnädige Frau – Frau 249 Tobi von Heesemann, weißt du. Ich brauchte nur so mit dem Finger zu tun.«
Seine Hand fuhr nach ihrem Hals. »Nimm dich in acht!«
»Ich mag ihn ja nicht, den Buckligen!« schrie sie. »Ich mag nur dich. Hu, laß die Hand von mein' Kehle! Nich so wild, du!«
»Laß doch – will's dir ja nur umlegen. Hab' dir was mitgebracht, was Feines. Sollst's immer tragen als Zeichen, daß du mein bist.«
»Wie Don sein Halsband!«
»Bist ja doch auch mein klein Hündchen, mein Spielzeug.«
»Aber so laß doch sehen! Was ist's denn – gar was Feines? Hei, das glänzt ja!«
Sie löste das feine Kettchen vom Halse, drängte zur Türspalte, durch die ein letzter Lichtstrahl fiel, und schrie auf vor Freude.
»Ein Schmuck – ein goldener Schmuck! Oh, Konrad!«
Sie fiel ihm um den Hals. Er wiegte sie auf den Knien und küßte sie, daß ihr der Atem verging.
»Nachher geb' ich's dir vor den andern. Zeigen wollt' ich's dir hier. Bist zufrieden?«
Sie lag, selig lachend, an seinem Herzen, und während er sie liebkoste, kam ihm ein Gedanke.
»Deern, die von 'n Gericht sind komische Leute. Sie haben mich ja aus dem Kittchen herauslassen müssen. Aber kann ein' wissen, was sie mit nächstem in 'n Kopf kommt? Das Geld für die Schmiede, von dem ich dein Vater gesagt hab' – das Geld von mein Onkel, weißt?« . . .
250 »Ja.«
»Nämlich – aber das braucht kein zu wissen – das Geld – hab' ich schon.«
»Du – hast das Geld?«
»Ja!«
»Von dein Onkel?«
»Gleichviel, von wem! Das Geld für die Schmiede.«
»Oh, Konrad!«
»Halt deine Gosche! Blut klebt nich dran. Im übrigen muß, wer nich mit 'nem silbernen Löffel im Maul geboren is, sehen, wie er durch die Welt kommt. Willst mein' Frau werden oder nicht?«
»Ja – ja doch!«
»So heb' mir das Geld auf – für alle Fälle!«
Sie zögerte einen Augenblick. Dann nahm sie mit fliegender Hand das Päckchen, das er ihr im Dämmerlicht zusteckte. Es war dick von Papier, schwer von Münzen, und, hastig auf das Heu kletternd, reckte sie sich, schob das kleine Viereck zwischen Dachbalken und Verschalung.
»Da – da sucht's keiner!«
Er nickte befriedigt. »Das is so: die Eva is immer findiger als der Adam.«
»O du! Was tu ich dir zulieb – was machst aus mir!«
»Ist's dir gar leid?«
»Nie und gar nix. Bloß – bleib' du mir! Laß mich nich stecken!«
»Snuteken, dummes!«
Sie kamen dann endlich zum Kaffee. Frau Meiers Gesicht war schon unfroh geworden. Sie könne wirklich nichts dafür, versicherte sie, wenn ihr Kaffee ihr 251 heut nicht zum Ruhm gereiche. Gewärmter Kaffee sei eben kein frischer.
Als der braune Trank in den Tassen dampfte, wurde es aber doch gemütlich. Die Kinder schwelgten in großen Stücken Topfkuchen, den Mutter Meier noch eilig gebacken hatte, und Konrad zeigte seinen Schmuck – von seinem rückständigen Lohn gekauft, selbstverständlich. Mit Andacht wurde er betrachtet, wanderte von Hand zu Hand unter dem blassen Licht der Hängelampe, die die Eigentümlichkeit hatte, zu rußen, wenn sie leuchten sollte. Das war auch der Grund, weshalb Mutter Meiers Dienstherrschaft sie als Hochzeitsgeschenk verwandt hatte. Meiers brauchten sie ja nicht anzustecken, und bei Tage dekorierte sie gut.
Meier erzählte von früheren Zeiten. In Brake war er von Heesemann ungerecht behandelt worden. Er konnte das nicht verwinden, und es bildete ein Band zwischen ihm und seinem Schwiegersohn. Der hatte auch Unrecht erlitten durch die Heesemannsche Sippe, gerade wie er und sein Kind. Er ging schließlich in den Keller und holte eine Flasche Stachelbeerwein herauf. Damit stießen sie an auf das Brautpaar und dessen Glück. Hete bekam ganz flimmrige Augen. Der dreizehnjährige Guschi, der eine schöne Stimme hatte, begann zu singen: »So leben wir! So leben wir! So leben wir alle Tage!«
Alle Geschwister sangen es mit, Hete, die Konrad im Arm hielt, sogar Vater und Mutter Meier, und Mutter Meier weinte dabei vor Rührung, weil sie an ihre eigene Verlobung dachte. Die Wände des Häuschens dröhnten, und die Eulen des Waldes flüchteten erschrocken.
252 Ein lautes Pochen an der Haus- und Küchentür unterbrach den rauhen Jubelgesang. Als Vater Meier erschrocken öffnete, standen zwei Gendarmen im Türrahmen.
»Im Namen des Gesetzes, Konrad Sedlinski, Sie sind verhaftet!«
»Aber – aber,« stammelte Meier und wurde blaß wie die Küchenwand, »er ist ja man eben losgekommen.«
Sedlinski machte sich von Hete frei, höhnischen Trotz im Gesicht.
»Geht das all wieder los? Was soll ich denn nu verbrochen haben?«
»Das werden Sie selbst wohl am besten wissen,« meinte der erste Gendarm und zog die Handschellen hervor, um sie dem Schmiedegesellen umzulegen.
Hete stieß einen wilden Schrei aus.
»Sei ruhig, Schnuteken. Den Heesemann sein Tod können sie mir nich anhängen, so gern sie möchten. Aber was nich geht, geht nich, sagte der Ochse – da wollte die Viehmagd ihn melken. Na, denn also mit Gott für König und Vaterland, Herr Wachtmeister. Das muß wahr sein: ein Vermögen spar' ich an Futter un Logis auf Staatskosten. Ei, so hab' dich doch nich, Mauseken. Die Armbänder da werden sie mir bald wieder abnehmen müssen.«
»Was tragen Sie für einen Anhänger?« fragte der Gendarm Hete. »Ist das ein Geschenk des Sedlinski? Das muß ich konfiszieren. Hartmann, nehmen Sie dem Fräulein mal den Anhänger ab.«
Der Beamte ergriff das Kettchen. Dann setzten die beiden sich mit dem Gefangenen in Bewegung.
253 Hete stand erst wie ein Steinbild, dann rannte sie zur Tür, schrie wie rasend den fortschreitenden Männern nach:
»Ihr sollt ihn nich wegführen! Warum ihn? Warum mein Konrad? Weil ich eine arme Deern bin un er ein armer Bursch? Holt doch der Frau Baronin ihren Schatz weg! Holt den vornehmen Herrn – wenn Ihr Richter sein wollt und nicht Leuteschinder!«
»Hete! Hete!« Die Mutter klammerte sich an sie. Was ihr Kind sagte, das waren ja Beamtenbeleidigungen, war Auflehnung gegen das Gesetz, das streng ist mit armen Leuten. Am Ende schleppten sie ihr auch noch ihre Hete fort wie den Schwiegersohn. Mit Gewalt hielt sie der Dirne den Mund zu. »Um Himmels willen, sweig still – sweig doch man bloß still!«
Da stieß Hete ein paar kurze, schrille Schreie aus; ihre Augen verdrehten sich, so daß fast nur das Weiße zu sehen blieb. Rückwärts warf sie sich auf den Stubenboden und schrie und schrie und lachte dazwischen, daß es weit durch die Nacht gellte, bis zum Herrenhaus von Horste, bis in das Arbeitszimmer des Gutsherrn . . . .
Am nächsten Morgen stand der Schmied wieder vor dem Staatsanwalt.
»Konrad Sedlinski, leugnen Sie noch immer, an dem Mord des Herrn von Heesemann beteiligt gewesen zu sein?«
Konrad stand herausfordernd mit dem Kopf im Nacken, ein dreistes Lächeln lag auf seinen Lippen. »Jawoll, Herr Staatsanwalt, das leugne ich.«
»Kennen Sie dieses Zehnmarkstück?«
254 Der Schmied warf einen Blick auf die Münze. »Nee!«
»Aber diesen Anhänger kennen Sie?«
»Jawoll! Den hab ich mein' Braut zur Verlobung gekauft.«
»Mit diesem Goldstück haben Sie ihn bezahlt.«
»Dazu kann ich nich nein un nich ja sagen. Ein Zehnmarkstück sieht aus wie das andere.«
»Dieses nicht. Das ist überhaupt nicht gültig. Es hat einen Prägefehler. Das Ohr unter dem Haar fehlt.«
Der Schmied runzelte die Stirn und biß sich die Lippe. Die Tatsache schien ihm unangenehm.
»Wenn Goldschmied Becker das sah, dann hätte er es mir man sagen können. Ich hab' da jedenfalls nix von gewußt.«
»Ja, das glaub' ich Ihnen. Nun erzählen Sie mir, wie Sie zu dem Goldstück gekommen sind.«
»Tja, das wird mir wohl mein Meister als Lohn gezahlt haben! Wie sollt ich sonst an einen Fuchs kommen? Es müßt' denn sein, daß Ede Lüders ihn mir für das Reh gegeben hätte.«
»Ich will Ihnen sagen, wo das Goldstück herstammt: in Herrn von Heesemanns Portemonnaie hat es gesteckt am Abend des Mordes – in dem Lederportemonnaie, das leer am Bahndamm gefunden worden ist.«
Der Schmied schwieg.
»Was sagen Sie dazu, Sedlinski? Wollen Sie nun der Wahrheit die Ehre geben, Ihre Beteiligung an der Bluttat eingestehen?«
Da hob Sedlinski wieder den Kopf. Das 255 trotzige Lächeln kehrte auf seine bleichgewordenen Züge zurück.
»Den Gefallen kann ich Ihnen beim besten Willen nicht tun, Herr Staatsanwalt.«
»Benehmen Sie sich gebührlich!« brauste Brockmann auf. »Mir tun Sie mit Ihrer Aussage keinen Gefallen, sie mag wie immer lauten. Jetzt erklären Sie mir, wie Sie an das Geldstück kommen. Und in Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen: geben Sie das Lügen auf.«
Sedlinski sah stumm auf seine Hände. Er überlegte. Es dauerte eine Weile. Dann stieß er hervor:
»Also schön – ich hab's gefunden!«
»Wo?«
»Auf dem Bahndamm.«
»Am Abend des dritten November?«
»Ja.«
»Wie kamen Sie denn auf den Bahndamm? Das widerspricht ja allem, was Sie vordem gesagt haben.«
»Als ich von Ede Lüders in Scharndorf nach Brake zurückging, da bin ich ein Ende auf dem Bahndamm gegangen.«
»Zwischen den Schienen oder neben den Schienen?«
»Meist wohl zwischen den Schienen.«
»So – dann sind das die Tapfen Ihrer Schuhe, die dort gefunden wurden. Um wieviel Uhr soll denn das gewesen sein? Als Sie mit Lüders aus der Wirtschaft kamen? Oder wann?«
»Genau so, Herr Staatsanwalt. Das mag wohl nah an Glock zehn gewesen sein.«
»Glock zehn? Da Herr von Heesemann erst um 256 elf Uhr gefunden wurde, hätten Sie die Leiche neben den Schienen liegen sehen müssen.«
»Das stimmt.«
»Wie, Sie sahen Herrn von Heesemann und sind nicht gelaufen, um Hilfe zu holen?«
»Dem Mann konnt' kein' mehr helfen – mit solch 'nem Loch im Kopf.«
»Das Loch hatten Sie ihm mit Ihrem Hammer geschlagen.«
»Aber kein Schimmer, Herr Staatsanwalt. Wie ich herzukam, war der Heesemann schon kalt.«
»Kannten Sie den auf dem Boden Liegenden denn? Die Leiche lag doch auf dem Gesicht, und es war dunkle Nacht.«
»Ich hab' ein Schwefelsticken angestrichen und ihm ins Gesicht geleucht't. Da sah ich, daß es unser Herr war, und auch, daß kein' mehr was bei machen konnt'.«
»Es ist sehr merkwürdig, daß Sie keine Anzeige erstatteten.«
»Unsereiner hat nicht gern mit dem Gericht was zu schaffen. Das wußt' ich ja, daß sie den Herrn bald finden müßten.«
»Es ist auch merkwürdig, daß Sie gerade auf dem Bahndamm gingen. Das ist kein bequemer Weg und ein verbotener dazu. Wußten Sie vielleicht, daß Sie die Leiche dort finden würden?«
»Wieso hätt' ich das denn wissen sollen?«
»Nun, ein Kamerad von Ihnen hätte Herrn von Heesemann aus dem Zuge werfen können, und Sie kamen dann hinzu, um ihn vollends zu töten und zu berauben.«
Der Schmied lachte. »Nee, Herr Staatsanwalt, 257 der dem Herrn von Heesemann den Schädel eingeschlagen und ihn aus dem Zug geworfen hat, das ist kein Kamerad von mir. Dazu hält der sich viel zu gut.«
»Sie sprechen ja, als ob Sie den Mörder kennten.«
»Den kennt jedes Kind im Land, bloß die Herren vom Gericht können ihn noch immer nicht finden.«
»Ich rate Ihnen nochmals, Ihre Zunge zu hüten. – Als Sie nun Herrn von Heesemann auf den Schienen fanden – unerwartet, wie Sie sagen, und tot, wie Sie behaupten – da durchsuchten Sie also seine Taschen.«
»Ich hab' sein' Taschens nich angerührt.«
»Wie kamen Sie denn zu dem Portemonnaie?«
»Das lag neben ihm, zwei Schritte von ihm. Er mag es in der Hand gehalten haben, oder es is ihm beim Stürzen aus der Tasche gefallen, ich weiß nich – aber zwei Schritte von ihm lag's un war aufgesprungen.«
»Und da nahmen Sie es?«
»Herr Staatsanwalt, es war 'ne große Versuchung für mich. Unsereins sieht so viel Geld nicht leicht beisammen, un dies war sozusagen herrenlos. – Ja, es war 'ne Versuchung.«
»Da erlagen Sie ihr und nahmen das Geld. Wo haben Sie es gelassen?«
»Das Geld? – Herr Staatsanwalt, das hab' ich doch nich.«
»Sie haben es nicht – wenn Sie es doch mitnahmen?«
»Man bloß ein' fünfhundert Schritt. Wie ich schon sagte, es war eine Versuchung. Aber man is doch ein ehrlicher Kerl, un aus sein' Haut kann ein' 258 nich. Das Portemonnaie brannte mir man so in mein' Hand. Da hab' ich's weggeschmissen.«
»Weggeworfen wollen Sie es haben?«
»Ja, Herr Staatsanwalt, weit weg von mich, damit daß es mich nich mehr in Versuchung führte.«
»Wie kommt es dann aber, daß Sie den Goldschmied Becker in Eckernförde mit einem Goldstück bezahlten, das nachweislich aus Heesemanns Geldbeutel stammt?«
»Das Zehnmarkstück, ja, das is wahr, das einzigste Stück, das hab' ich genommen. Da war ich swach. Ich wollt' doch meiner Braut den Smuck kaufen. Es war unrecht. Ich hätt' das nich dürfen, Herr Staatsanwalt – nee.«
»Sie behaupten, Sie hätten nur das eine Goldstück genommen und dann das Portemonnaie weggeworfen?«
»Jawoll!«
»Das Portemonnaie ist allerdings nicht weit von der Mordstelle gefunden worden.«
»Sehen Sie, Herr Staatsanwalt!«
»Das wollte der Dieb auch wohl nicht behalten; aber es war leer, ganz leer. Wo ist die Summe geblieben, die drin steckte?«
»Herr Staatsanwalt, ich kann nur sagen, ich hab' das Geld vom Herrn Heesemann nich. Sie können nachsuchen.«
»Wo soll es denn geblieben sein? Haben Sie es versteckt?«
»Ich nich!«
»Wie groß war denn die Summe?«
259 »Das konnt' ich in der Dunkelheit un in der Eile nich zählen.«
»Warum hatten Sie denn Eile?«
»Ich wollt' doch bei der Leiche nich gesehen werden.«
»Und Sie bleiben dabei, daß Sie an der Ermordung des Herrn von Heesemann nicht beteiligt sind?«
»Herr Staatsanwalt, Sie haben doch nu aufs Haar festgestellt, wo ich an dem Abend gewesen bin. Von jeder Minute haben Sie's heraus. Da müssen Sie sich doch selbst sagen, daß ich nich außerdem noch nach Scharndorf laufen, mit dem Zug fahren un um halb acht Uhr den Herrn von Heesemann ermorden konnte. Das konnt' ich nich un hatt' auch gar kein' Grund zu. Weil er mein' Braut um den Weg lief – lieber Himmel, kann gern sein, daß ich ihn da um mal mächtig verhauen hätt' – aber umbringen? Nee! Warum denn?«
Brockmann ließ den Schmied ins Gefängnis zurückführen. Sein Verhör hatte, wie der Staatsanwalt von Anfang an vermutete, für die Mordsache nichts von Bedeutung ergeben. Der Wilddieb Sedlinski war zugleich ein Spitzbube – der Mörder war er nicht . . . .
An diesem selben Abend saß Herr von Ilefeld in dem alten Herrenzimmer von Ravenhorst. Das war geblieben, wie es gewesen war. Nur hing über dem breiten, eichenen Schreibtisch das Bild des alten Herrn. Gütig und lebensfroh schaute das feine Gesicht herab auf den Sohn, der in all seinem Leichtsinn und seiner Wildheit Jobst Ilefelds Freude und Stolz geblieben war bis zu seinem letzten Atemzug, sein Freund und Kamerad, der echte Sproß und Nachkomme des alten, fröhlichen Adelsgeschlechts.
260 Aber des Sohnes Augen schauten diesmal nicht zu dem Bild des Vaters auf. Sie hingen festgebannt an einer verblaßten, kleinen Photographie, die Wolf Ilefeld Grete Seekamp aus ihrem Album gestohlen hatte. Sie stellte Anna Ramin dar, im rosengeschmückten Ballkleid – Anna Ramin zu der Zeit, als sie ein lustiges, lebenshungriges Mädchen war.
Er hatte seit Heesemanns Tod nichts mehr von der geliebten Frau gehört, als durch Botho von Seekamp, daß sie es sei, die aus ihrem großelterlichen Vermögen die Kaution für ihn hinterlegt hatte, durch die es ihm vergönnt war, auf freiem Fuß zu bleiben. Ihre letzten Worte zu ihm, die ihm unaufhörlich im Ohr klangen, waren die im Seeberger Holz gewesen: »Wenn ich frei bin – wenn ich erst frei bin!« Seitdem kein Wort, keine Zeile.
Aber nun war sie frei. Nun würde bald die Erfüllung jahrelanger Sehnsucht über ihn kommen wie ein Schauer von Glück. Jedes Alleinsein mit ihr durchlebte er noch einmal, kostete es aus, die flüchtigen Augenblicke aus ihrer Mädchenzeit, jene längere Unterredung in Ramin, in der sie sich fanden; dann jenes Gespräch bei der Hohorster Jagd auf seinem Schützenstand in Nebel und Einsamkeit. Er hörte ihre Stimme, wie sie Heesemann bat, sie heimzubringen, fühlte noch einmal seine eigene Wut bei der Roheit des Ehemannes, sah sich ihm die wohlverdiente Lektion erteilen. Dann kam die Glücksstunde, da ihr Brief ihn überraschte, der Brief, der ihn zu ihr rief. In diesem Zimmer hatte der Postbote ihn auf den Tisch gelegt, auf diesen Schreibtisch hier, mit anderen Briefschaften, und er hatte seinen Augen nicht trauen wollen, da er 261 die Handschrift erkannte, diese langgezogenen Buchstaben, die über das Papier wegliefen wie Anna Ramins stürmisches Wollen über die gemeinen Möglichkeiten der Erde. Und als er ihn las, da hatten die Wände angefangen, um ihn zu tanzen. Vergessen waren alle Not und Sorgen seiner Lage, vergessen Heesemanns heimtückische Rache. Das Bild des alten Herrn oben lachte und nickte seinem Sohn zu. Der Tote freute sich mit ihm, wie es hundertmal der Lebendige getan hatte. In brennender Ungeduld ersehnt, kam die Begegnung unter den windgeschüttelten Eichen von Seebergen, dies selige Beisammensein, in das doch ein Tropfen Bitterkeit fiel. Denn Anna Ramin sträubte sich, mit ihm hinauszugehen in die weite Welt, ihren Mann, ihre Frauenehre zurückzulassen, wie er seine Scholle, sein Vaterland, zurückließ. Erst frei sein – beide! Er sollte kämpfen, sich freizumachen aus wucherischer Umschlingung. Sie wollte sich freikämpfen aus den Ketten ihrer Ehe. Hindernisse, Verzögerungen! Und er hatte in stürmischem Jubel gemeint, das Glück mit Händen zu greifen und heimzutragen!
Im Zorn war er gegangen, einem langsam und wild anschwellenden Zorn auch auf die Geliebte. – Und dann kam eine dunkle Stunde, eine Stunde, deren er sich schämen würde, solange er lebte, eine Stunde, in der er vergaß, wer er war und was er durfte, in der alle im tiefsten Grund seiner leidenschaftlichen Seele lauernden Teufel sich aufreckten, ihn aufstachelten zu Unerhörtem. Gott des Erbarmens – was für eine Stunde war das gewesen! Nein, der hochgemute Wolf Ilefeld hatte das Recht verwirkt, auf irgendeinen armen 262 Sünder in Pharisäerstolz herabzusehen. Ihm ziemte vor dem Herrgott künftig nur das Gebet: »Herr, vergib mir meine Schuld!«
Die schwarze Stunde war vorüber, und die Schranke lag, und das Hindernis war weggeräumt. Und nun kam das Glück, das nur wenigen Auserwählten beschiedene Glück. . . .
Wolf stand auf, um den Brief Annas zu holen, den er in seiner Schlafkammer verwahrte. Er sehnte sich danach, seine Lippen auf die Buchstaben zu drücken, die ihn nach Seebergen gerufen hatten.
Als er in die dunkle Kammer, seines Vaters ehemaliges Schlafgemach, trat, stutzte er. Die breiten, niedrigen Fenster standen offen. Blaß lag der Mondschein auf dem Rasen des Gartens, dahinter stand schwarz die Tannenwand. Und im Zimmer rührte sich nichts. Ein wenig bewegten sich im Luftzug die weißen Mullgardinen, die neben den Fensterrahmen herabhingen. Jeder Gegenstand befand sich an seinem Platz, nichts verschoben, nichts verändert. Und doch war etwas Unfaßbares in dem Raum gegenwärtig, etwas, das Wolfs beweglichen Geist mit einem wunderlichen Schauder erfüllte. Er stürzte zum Fenster, sah hinaus. Niemand draußen. Er riß die Schranktür auf. Auch da war niemand. Er zündete die Kerze vor dem Bette an. Nicht Mensch noch Geist in dem vertrauten Gemach. Aber Wolf, der an einen Zusammenhang zwischen dieser und einer uns unergründlichen Welt glaubte, war überzeugt, daß etwas aus jener anderen Welt durch die Stube gegangen war, irgend ein Zeichen, eine Vorbedeutung. Sein lieber Alter war es sicher nicht, der ihn grüßte. Der wäre nicht in diesem kalten Schauer 263 seinem geliebten Sohn genaht. War es der andere, der in seiner Gruft nicht Ruhe fand, seinem Besieger, dem Begehrer seines Weibes, Unglück kündete? – Denn Unglück war's jedenfalls, das sich ansagte in diesem unerklärlichen Grausen, diesem sonderbaren Gefühl einer fremden Gegenwart – vielleicht Vergeltung für die schwarze Stunde. Ungesühnt bleibt keine Schuld.
Ilefeld nahm den Brief Annas nicht. Er, der, die Augen strahlend von Glückshoffnung, die Kammerschwelle überschritten hatte, kehrte mit tiefgesenktem Haupt zurück. »Der Tod läuft über das Grab. Gott sei mir Sünder gnädig!« . . .
Am Tage nach dem Verhör des Sedlinski teilte der Staatsanwalt Olten mit, daß er es für seine Pflicht halte, trotz der geleisteten Kaution die Verhaftung des Ravenhorsters zu befürworten. Die Volksstimme spreche zu laut, es gehe um Ehre und Ansehen des Gerichts.
Olten war nicht befriedigt von der Vernehmung des Schmiedes. Er meinte, daß durch geschickte Fragestellung mehr aus ihm herauszulocken gewesen sein müßte.
»Warten Sie noch bis übermorgen mit der Verhaftung«, bat er. »Ich lasse Ilefeld durch einen meiner geschicktesten Beamten bewachen, so daß eine Flucht unmöglich ist.«
»Und was hoffen Sie von diesem einen Tag, Olten?«
»Ich möchte mich noch einmal persönlich in Horste umschauen – ich möchte noch eine Unterredung mit der schönen Hete haben. Mein Instinkt steht vor diesem Mädchen wie ein Jagdhund vor einem verschlossenen Bau und ist durch kein Argument wegzuprügeln. Also gönnen Sie mir diese Frist.«
264 »Daß Ursache und Antrieb zu dieser Mordsache eine Frau ist,« erwiderte Brockmann, »bezweifle auch ich nicht. Nur sitzt diese Frau nicht in Horste, und ist kein kleines Landmädchen.«
Olten fuhr am nächsten Morgen wiederum nach Scharndorf und wanderte nach Horste zu Meiers. Er fand die Vorhänge am Kammerfenster herabgelassen. Vor der Tür schon kam ihm Frau Meier in großer Aufregung entgegen.
»Och, Herr Kommissar, Sie schickt wahrhaftig der liebe Gott! Unser Hete will ja woll vergehn vor Angst.«
»Ist Ihre Tochter krank?«
»Sie nimmt sich das slimm zu Herzen mit ihr Bräutigam. Nachdem die Gendarms den Sedlinski weggesleppt hatten, tat sie stundenlang dasitzen und die Wand ankucken. Un denn wieder kriegt sie ihr Zuständes. Un vorgestern is sie gar mit eins verswunden gewesen. Es wurd' all Nacht, un Meier sagt' zu mich: ›Gib acht,‹ sagt er, ›uns' Kind sehen wir nich wieder; das liegt in 'n Kanal.‹ Ich hab' mich ganz gräsig verjagt. An 'n Ende kam sie doch zur Tür hereinwanken un wußt' gar nix von sich. Un seitdem liegt sie im Bett un schreit immerlos, sie wär' schuld an den Sedlinski sein Unglück, un is mich von Morgen bis Abend an Sinn, daß ich mit ihr soll zu das Gericht gehen, damit, daß sie ihr Gewissen erleichtern kann. Was is es einmal für 'n Glück, daß Sie kommen, Herr Kommissar!«
»Führen Sie mich zu Ihrer Tochter.«
»Ja, ja, ich will das Kind man bloß Bescheid sagen. Un wenn der Herr Kommissar nich für ungut nehmen wollen, daß sie zu Bett liegt.« . . .
265 »Nein, Frau Meier, führen Sie mich nur schnell zu ihr.«
Hete lag zwischen buntgewürfelten Kissen, blaß, mit tiefen Schatten um den Augen. Aber ihre weiße Nachtjacke trug feine Stickerei, und das üppige Haar quoll unter einem koketten Häubchen hervor. Goldene Lichter flimmerten über seinem Braun.
»Nun, Fräulein Meier, ich höre, Sie haben dem Gericht wichtige Mitteilungen zu machen?«
Sie nickte, mit Tränen in den Augen.
Ihm aber kam plötzlich eine warme Hoffnung, die seine Stimme, seine Gebärde, sanft und freundlich machte.
»So sprechen Sie ohne Scheu, Fräulein Meier. Seien Sie gewiß, daß weder ich noch irgend jemand Sie für unverschuldetes Unglück verantwortlich machen wird, und daß wir auch dafür Verständnis haben, wenn Sie in Sorge um einen Ihnen teuren Menschen im Verhör vor dem Staatsanwalt mit einem Teil der Wahrheit zurückgehalten haben. Machen Sie es gut. Sagen Sie uns jetzt die ganze Wahrheit, die Wahrheit ohne Rückhalt.«
Sie rang die Hände. »Ja, ich wills sagen, alles sag' ich, was ich weiß; wenn der Herr Kommissar bloß Geduld haben möchte. Ich kümmere mich um nichts und keinen mehr. Gott straft mich zu swer dafür, daß ich hab' stillschweigen wollen!«
»Also Sie wissen etwas Entscheidendes über den Mord, etwas, das Sie noch nicht ausgesagt haben?«
»Ja, ja, ich weiß etwas, etwas ganz Wichtiges. Ich wollt' ja den Mund halten; aber wenn man uns hetzt wie Tiere – – Herr Kommissar, das war doch 266 an ein' Sonnabend, daß der Herr von Heesemann ermordet wurde! An dem Nachmittag ging ich zu Frau Martens in Kolbe, die wollt' mir helfen, ein' Bluse zusneiden. Un es hatt' all sechs geslagen, als wir damit zustande kamen. Un weil das in 'n Wald ganz duster war, bin ich ein Ende am Bahndamm längsgegangen.«
»Am Bahndamm?« fragte Olten. »Zur Zeit, als der Siebenuhrzug vorüberfuhr? Sie haben den Zug gesehen?«
»Ja. Un weil mir das Spaß macht', so 'n Zug in der Fahrt mit sein' Lichters, bin ich denn stehen geblieben un hab' scharf in die Wagens reingeguckt.«
»Konnten Sie denn etwas sehen?«
»Der Zug fuhr in den Augenblick man ganz langsam.«
»Und haben Sie da etwas Auffälliges gesehen?«
Hete zupfte mit den Fingern an der Bettdecke und sah starr auf die Wand gegenüber, als lese sie dort die Worte ab.
»Da hab' ich was gesehen – ja. Erst kam die Lokomotive und denn der Kohlenwagen, denn der Postwagen. Denn kam ein Wagen, der war ganz hell und ganz leer. Bloß vor dem ersten Fenster, da standen zwei.« –
»Zwei.«
»Die gingen gegeneinander an.«
»Das konnten Sie erkennen?«
Hete wandte die Augen nicht.
»Sie hielten die Armens in der Luft, und ein' hatte den andern gepackt.«
267 Oltens Herz schlug wie ein Hammer. »Wie sahen die beiden aus? Können Sie sie beschreiben?«
Hete schüttelte den Kopf. »Das waren man zwei swarze Schattens. Der ein' war ein mächtig großer un breiter, un der andere, der war was smächtiger, un ich mein', der Große hatte den andern bei sein' Schulter gepackt, und die ander Hand, die hatt' er hoch in der Luft, und da was in.« . . .
»Und dann – und dann? Was sahen Sie dann?«
»Ja, denn war der Wagen vorüber.«
»Sie haben nicht gesehen, daß der Große das Etwas, das er in der Hand hielt, dem Kleineren auf den Kopf schlug?«
»Der Wagen war vorüber.«
»Sie haben auch nicht gesehen, daß die Tür des Abteils geöffnet wurde? Sie haben den Leichnam nicht herauswerfen sehen?«
Hete starrte auf die Wand und sprach wieder, als lese sie die Worte dort: »Ich hab' nix mehr gesehen. Ich hatt' mich ganz srecklich verjagt. Da bin ich in mein' Angst, ohne mich umzusehen, weggelaufen, auf den Wald zu.«
»An welcher Stelle sind Sie vom Bahndamm weggelaufen?«
»Ganz genau weiß ich das nich. Bloß ich mußt' weit laufen. Die Wiesens waren da ganz breit.«
»Also wo die Wiesen breit werden, sind Sie in den Wald gelaufen?«
»In den Wald nich; da geht kein Weg, un ich konnt' nich hineinkommen, weil die Brombeerens am Rand dicht wie ein' Mauer stehen. Ich bin immer längs gelaufen, ein' langen, langen Ende.«
268 »Das muß bei dem nassen Wetter, im hohen Grase, recht beschwerlich gewesen sein. Wie lange dauerte denn das?«
»Ich weiß nich. Ich hatt' mein' Kleiders ganz hoch gerafft un lief, un mit ein', da war in den Brombeerens so was wie 'n Durchgang, das heißt ein', der da nich gewesen war, den ein' erst eben gerissen haben mußt', denn die frischen Rankens waren heruntergetreten und auseinandergezerrt, un da war ein smalen Gang mitten in den Wald hinein.«
»Wer soll den nach Ihrer Meinung gerissen haben?«
»Ich sag', was ich weiß. Weil ich aus das nasse Gras weg wollt', bin ich den Gang gegangen. Es war aber ein slechtes Gehen und ein Graben mitten in, un in der Dunkelheit bin ich ausgeglitten un in die Dornens hingeslagen, un da – da hab' ich was zu fassen gekriegt.«
»Was kriegten Sie denn zu fassen?«
Die Dirne fuhr mit der Hand unter die Decke, zog einen Schlüssel hervor. »Wenn der Herr Kommissar so gut sein will un den Auszug in der Kommode dort aufschließen – den obersten. Es steht da ein Kästchen in. Danke, ja. Das Kästchen mein' ich, da is es in. Ich hab' es immer gut verwahrt.«
Sie richtete sich halb auf, hob den Deckel des Kästchens und reichte dem Polizeileutnant ein Fetzchen Zeug.
»Das da hab' ich zu fassen gekriegt.«
Es war ein Stück dickes Wollgewebe, wie es zu Herrenmänteln verarbeitet wird, grüngrau, lodenartig, offenbar ein Zipfel, denn zwei Seiten des Dreiecks zeigten festgesteppten Saum, während die dritte Seite 269 zerfasert war, wie gewaltsam abgerissen. Ein kühles Frösteln lief dem Polizeileutnant über den Rücken. Er meinte, den Mantel schon gesehen zu haben, zu dem dies Stück gehörte. Und in aufsteigendem Zorn schaute er auf die Dirne, die sein Hoffen immer wieder täuschte, statt sein Herz zu entlasten, ihn weiterhetzte auf der Spur, auf der er nicht jagen wollte.
»Warum nahmen Sie den Fetzen denn mit?«
»Nu so. Das macht' mir Spaß. Ich dacht': ›Wer mag sich woll den abgerissen haben?‹ Da nahm ich ihn mit. Wie ich aber nachher von Herrn von Heesemann sein' Tod hört', un' daß ein den in der Bahn umgebracht hatt', da legt' ich mir bei kleinem den Fetzen zurecht mit dem andern, was ich gesehen hatt', un dacht' mir mein Teil.«
»Was dachten Sie sich?«
»Daß der Mörder von Herrn von Heesemann woll bei der Holzbrücke aus dem Zug gesprungen is, was für ein' behenden Menschen gar nich swer is, un is' in den Wald gelaufen, damit daß kein' ihn sehen tat.«
»Und wessen Kleiderschrank soll ich nach Ihrer Meinung nun durchsuchen nach dem Mantel, an dem dies Stück fehlt?«
Sie brach in Tränen aus. »Ich hab' dem Herr Kommissar gesagt, was ich weiß. Mehr kann ich nich – un mehr weiß ich nich.«
Scharf forschend sah Olten auf das Mädchen, das schluchzend in den Kissen lag. Nicht eine Spur von Teilnahme fühlte er für sie, nur Widerwillen, fast Haß. Und doch mußte er sich sagen: Wenn all diese bis ins kleinste ineinandergreifenden Einzelheiten 270 zusammengedacht und zusammengelogen sind, dann ist dies Mädchen ein Genie im Lügen.
»Ich kann Ihnen nicht verschweigen, Fräulein Meier, daß ich es richtiger gefunden hätte, wenn Sie diese Angaben schon beim Verhör dem Untersuchungsrichter gemacht hätten, und ich begreife auch wirklich nicht den Grund, weshalb Sie das unterlassen haben.«
Hete weinte stärker. »Ja, das is dann nicht zu begreifen, wenn ein' ansteht, Menschens unglücklich zu machen. Mich wird das einmal nich leicht. Ich hab' auch gemeint, vornehme Menschens würden sich für viel zu gut halten und zu stolz sein, als daß sie so 'n Untat auf ein' Unschuldigen sitzen ließen und einer armen Deern das Herz zerbrächen. Aber wenn denn kein' Barmherzigkeit mit mein' Konrad un mich hat, denn – schon' ich auch kein mehr.«
Olten ließ sich die Stelle beschreiben, wo Hete den Zipfel gefunden haben wollte und begab sich dorthin. Längs des schmalen Grabens, der den Horster Wald abschloß, zog sich eine Hecke von Brombeerbüschen, die in ihres Wachstums völliger Ungestörtheit sich fast mauerdicht ineinander verfilzt hatten. Bald kam Olten an eine schmale Lücke. Zum Teil hatte sie sich schon wieder geschlossen, aber noch hingen einzelne der Ranken mit winterrot gefärbten Blättern abgebrochen zur Erde, andere verschobene hatten sich noch nicht gerichtet. Eine Spalte klaffte. Offenbar hatte vor einiger Zeit sich ein Mensch hier gewaltsam einen Durchgang gebahnt. – Auch das stimmte . . . .
Mit dem nächsten Zug fuhr Olten weiter nach Föhrde und nahm auf der Station einen Wagen nach Ravenhorst.
271 Ilefeld war im Jagdanzug und gerade im Begriff, in den Forst zu gehen. Heiter begrüßte er den Besuch.
»Sie, Olten? Bringen Sie mir persönlich meine Loslassung aus Verdacht und Kautionsverpflichtung? Seien Sie herzlich willkommen.«
Einen Augenblick betrachtete Olten stumm die Hünengestalt, die Grandseigneurmiene des Mannes, wie er da auf der Diele seines alten Herrenhauses stand, die Büchse lässig in der Hand, den Kopf hoch, auf den Lippen und in den Augen das frohe Lächeln, das aus dem Herzen zu kommen schien, und ihm die Herzen der Menschen gewann. Und Empörung stieg in ihm auf, daß einer in die Welt sehen konnte wie dieser und vielleicht – vielleicht mit seiner hochfahrenden Sicherheit, seiner trotzigen Sorglosigkeit Recht und Richter verhöhnte und betrog und sich lustig machte über beide. Kurz und hart sagte er:
»Soweit sind wir leider nicht, Herr von Ilefeld. Vielmehr muß ich Sie ersuchen, mir Ihren Kleiderschrank zu öffnen.«
»Meinen Kleiderschrank?«
»Dienstlich. Ja.«
»Bitte!«
Ilefeld hängte die Büchse an den Haken und schritt Olten voran zu seinem Schlafgemach.
»Hier ist, was ich gewöhnlich zu tragen pflege. In dem Ankleidezimmer nebenan finden Sie mehr.«
»Ich suche einen grauen Mantel aus lodenartigem Stoff, eine Art Herbstmantel. Um es kurz zu sagen: ich suche den Mantel, den Sie an dem Abend getragen haben, als Sie mit Herrn von Heesemann in demselben Wagen von Scharndorf nach Altenhagen fuhren – 272 an dem Abend, als Herr von Heesemann ermordet wurde.«
Ilefeld hatte die Schranktür geöffnet und kramte zwischen seinen Anzügen.
»Ja, welchen Mantel habe ich denn gerade an dem Abend angehabt? Ich erinnere mich gar nicht. Im Herbst trug ich mit Vorliebe diesen. Der wird's wohl gewesen sein. Vielleicht war es auch dieser hier. Nein, der ist braun. Immerhin, wenn Sie ihn besehen wollen!« . . .
Er riß ein paar Mäntel aus dem Schrank, warf sie auf Tische und Stühle. Olten sah vor seinen Augen die Farbe aufschimmern, die ihm im Hirn gebrannt hatte, während der ganzen Fahrt. Er sah – und der Atem stand ihm still vor Schreck – im Faltengewirr des fahrig durch die Luft geschwungenen Havelocks ein Endchen zerfaserten Rand. Hastig griff er nach dem Mantel, und seine Stimme klang rauh vor Erregung.
»Der Mantel ist ja zerrissen!«
»Ist er zerrissen? Wahrhaftig, ja!«
»Sie scheinen das nicht gewußt zu haben?«
»Nein.«
»Und das wunderbarste ist: Sehen Sie, ich habe den Zipfel, der fehlt.«
Olten nahm aus seiner Brieftasche das Stückchen Stoff, das Hete ihm gegeben hatte. Es paßte in Beschaffenheit und Farbe genau zu dem Gewebe des Mantels; die beiden Rißflächen schlossen aneinander Faser für Faser.
»Wo mögen Sie den Fetzen wohl abgerissen haben, Herr von Ilefeld?«
»Keine Ahnung!«
273 »Haben Sie denn den Mantel nie mehr getragen seit jenem Abend? Bemerkten Sie denn nicht, daß er zerrissen war?«
»Ich habe ihn lange nicht getragen; aber seit jenem Abend doch – gewiß. Ich meine, daß ich wenige Tage nach Herrn von Heesemanns Tod in diesem Mantel nach Kiel zu meinem Rechtsanwalt gefahren bin. Da war er aber noch heil – wenigstens hab' ich nicht gesehen, daß ein Stück daran fehlte, und andere haben mich auch nicht darauf aufmerksam gemacht.«
»Dieser Fetzen ist aber nicht in Kiel gefunden worden, sondern in einer Brombeerhecke des Horster Waldes – genau dem Bahndamm gegenüber.«
»Wie soll er denn dahingekommen sein?«
»Er ist an dem Abend gefunden worden, an dem Herr von Heesemann ermordet wurde, gegen halb acht Uhr.«
Ilefeld zog die Augenbrauen in die Höhe und sah Olten gerade ins Gesicht.
»Wissen Sie – davon versteh' ich nichts.«
Und Olten erwiderte den Blick scharf und fest und dachte: »Ist es möglich, daß das begangene Verbrechen einen Menschen derart verwandelt? Als ich mit diesem Mann im Regiment stand, konnte er nicht die harmloseste Höflichkeitslüge hervorbringen, ohne daß ihm das Blut bis unter die Stirnhaare stieg.« – Er schwieg hartnäckig.
Nach kurzer Pause sagte Ilefeld langsam: »Das ist wohl sehr schlimm für mich, daß dieser Fetzen im Horster Walde gefunden worden ist?«
»Sehr schlimm.«
Ilefeld nickte. »Das also ist's. Ich hab's doch gewußt, daß mir etwas Unangenehmes bevorstand.«
274 »Wieso? Wie meinen Sie das?«
»Ach, Sie glauben ja nicht an Vorbedeutungen. Es ist aber doch Tatsache – vorgestern abend gegen sieben Uhr hat sich mir hier in dieser Kammer das Unheil angemeldet.«
Dieser Rede würdigte Olten keiner Antwort.
»Ich muß Beschlag auf diesen Mantel legen, Herr von Ilefeld.«
»Bitte, nach Belieben. Verfügen Sie über meinen ganzen Kleiderschrank.«
»Und – sonst haben Sie mir nichts zu sagen?«
»Was ich in bezug auf Herrn von Heesemanns Tod sagen konnte, habe ich beim Verhör gesagt.«
Olten verneigte sich ohne ein Wort.
In dumpfer Verblüffung, in einem höhnischen Zorn auf Ilefeld, sich selbst und seinen Glauben an ihn, kehrte er heim. Aber er entsann sich des Versprechens, das er einer Frau gegeben hatte, deren Glauben noch bitterer enttäuscht worden war als der seine. Und bevor er Mantel und Zipfel dem Gericht übergab, schrieb er an Frau Anna von Heesemann auf Brake:
»Gnädige Frau!
Ich habe keine Hoffnung mehr. v. O.« 275