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Inzwischen verhörte Staatsanwalt Brockmann den Schmied Sedlinski. Breitspurig stand der Angeklagte ihm gegenüber. Um seine dicken Lippen spielte versteckter Spott.
»Sind Sie der Schmiedegeselle Konrad Sedlinski, geboren 18.. in Hamburg?«
»Jawohl, der bin ich.«
»Katholischer Konfession?«
»Jawohl.«
»Ihr Vater war aus Ostrowo, Ihre Mutter aus Ottensen?«
»Jawohl.«
Brockmann warf einen Blick in die Papiere des Angeklagten.
»Sie sind weit herumgekommen. In Stuttgart haben Sie gearbeitet, in München, Straßburg, Frankfurt a. M. – um nur einige Städte zu nennen.«
»Ich wollt' ein Stück Welt kennen lernen.«
»Lag Ihnen nicht daran, jedesmal eine bedeutende Entfernung zwischen sich und Ihren letzten Aufenthaltsort zu legen?«
»Weshalb hätt' mir denn daran liegen sollen?«
»Sind Sie nicht vorbestraft?«
161 Der Schmied schwieg.
»In Straßburg haben Sie fünf Monate gesessen wegen Straßenraubes, begangen an einem mit Ihnen reisenden Handwerksburschen.«
»Das verhielt sich anders, Herr Staatsanwalt.«
»Wie – sind Sie nicht verurteilt worden?«
»Zu Unrecht, Herr Staatsanwalt. Wie das vorkommt auf der Wanderschaft, der Draht war mir ausgegangen. Und wie ich das dem Kunden so beiläufig erzähle, drängt das dumme Luder mir seine ganze Barschaft auf – und hernach in Straßburg läuft es zur Polizei und winselt, ich hätt' sie ihm abgefordert.«
»Weil Sie während Ihrer Rede ihm mit einem dicken Knotenstock beständig über dem Kopf herumgefuchtelt haben.«
»Er hätt' sein Portemonnaie in der Tasche stecken lassen sollen. Ich hätt' ihm kein Haar gekrümmt.«
»Er scheint das nicht geglaubt zu haben, und die Richter in Straßburg auch nicht.«
»Dafür kann ich nichts.«
Brockmann winkte einem Polizisten, der aus einem Korb das von Olten beschlagnahmte Hemd und den blutigen Hammer nahm.
»Gehört dies Hemd Ihnen?«
»Jawohl, das ist mein Hemd.«
»Und dieser Hammer auch?«
»Nein, das ist dem Meister seiner.«
»Wollen Sie behaupten, daß das Blut in Schmied Carstens Haus an diesen Hammer gekommen ist?«
Sedlinski überlegte einen Augenblick. »Ich will's kurz machen, Herr Staatsanwalt. Nee, das Blut ist durch mich an den Hammer gekommen zur selben 162 Zeit wie an das Hemd, und das war am vorigen Sonnabend und nich in Carsten sein Haus.«
»Somit gestehen Sie ein, dem Gutsbesitzer von Heesemann mit diesem Hammer den Schädel eingeschlagen zu haben?«
»Herr Staatsanwalt, ich sag', was ist. Was nicht ist, kann ich nicht eingestehen. Den Herrn von Heesemann hab' ich nicht erschlagen. Gott bewahr mich!«
»Wie erklären Sie denn die Flecke an Stiel und Eisen?«
»Ich hab's doch gleich gesagt: ich hab' ein Tier geschlachtet.«
»Wo? bei wem haben Sie das Tier geschlachtet?«
»Ich hatte nich die Absicht, mich darüber auszulassen. Aber ich sehe, ich habe mich festgefahren. Nu muß es schon heraus. Der Verdienst bei ein' Schmied auf dem Lande is nich übermäßig hoch. Und wenn ein' ein Mädchen hat, denn mag er nich immer mit leeren Händen kommen. Mein Braut hatte in Eckernförde einen Schmuck gesehen, wie ihn die Frauensleute sich gern um den Hals hängen. Den wollt' ich ihr kaufen. Da hab' ich ein paar Rehschlingen gelegt.«
»Wildschlingen wollen Sie gelegt haben? In Brake?«
»Nich in Brake. Jäger Lorensen paßt zu scharf auf. Das war im Horster Bruch. Wenn sich ein Tier da in gefangen hätte, wollt' ich ihm den Schädel einschlagen. Zu dem Zweck nahm ich den Hammer mit. Es war ein alter Hammer mit kurzem Stiel. Ich konnt' ihn bequem in die Rocktasche stecken.«
»An welchem Tag haben Sie diese Wildschlinge so weit weg von Brake gelegt?«
163 »Ich hab' sie nich gelegt. Mein Spezial hat's getan.«
»Ihr Spezial? Wer ist das?«
»Es ist mir nicht recht, daß ich ihn reinlegen muß. Aber Not kennt kein Gebot. Ede Lüders in Scharndorf, der hat in der Nacht von Freitag auf Sonnabend die Schlingen gelegt. Sonnabend abend, wenn's dunkel war, wollten wir das Reh holen.«
»Also gingen Sie nach der Schlinge, als Sie um 5 Uhr abends Schmied Carstens Werkstatt verließen?«
»Ich bin zuerst nach Horste gegangen und hab' bei Meiers durchs Fenster geschaut. Es waren aber nur die Alten zu Haus. Da bin ich weiter gegangen.«
»Wohin?«
»Ich bin im Wald hin und her gegangen, bis Ede kam.«
»Und bei diesem Hin- und Hergehen sind Sie Herrn von Heesemann begegnet?«
»Nee.«
»Sie haben ihn auch nicht gehen sehen – vielleicht zusammen mit Ihrer Braut?«
»Nein.«
»Als nun Ede Lüders kam – was taten Sie?«
»Da sind wir nach der Schlinge gegangen. Richtig zappelt ein Reh drin. Dem hab' ich den Schädel eingeschlagen. Dann haben wir's vorsichtig durchs Holz geschleppt nach Scharndorf in Ede Lüders sein Keller, und haben's da zerlegt. Um neune sind wir zusammen in Karl Ehlers sein Wirtschaft gewesen.«
»Wohin gingen Sie von dort?«
»Von dort bin ich nach Haus gegangen.«
»Allein?«
164 »Ja.«
»Welchen Weg haben Sie eingeschlagen?«
»Den nächsten. Am Wald lang.«
»Also längs der Bahn.«
»Zwischen Wald und Bahn.«
»Sind Sie nicht ein Stück weit wenigstens zwischen den Schienen gegangen? Es sind dort Fußstapfen gefunden worden, in die Ihre Schuhe genau passen.«
Sedlinski zuckte die Achseln. »Schuhe wie ich trägt hier jeder Arbeiter. Und auf dem Bahndamm sind an dem Abend viele Leute gelaufen.«
»So beharren Sie dabei, daß Sie Herrn von Heesemann am Abend des dritten November nicht begegnet sind?«
»Ich bin ihm nicht begegnet.«
»Er ist auch nicht auf Sie zugekommen? Sie sind ihm nicht nachgeschlichen? Sie haben ihn nicht gehen sehen?«
»Er ist nicht auf mich zugekommen, ich bin ihm nicht nachgeschlichen. Ich hab' ihn zum letztenmal gehen sehen am Freitag nachmittag auf dem Hof in Brake. Das kann ich beschwören auf Ehr' und Seligkeit.«
Der Staatsanwalt ließ den Gefangenen vorerst zurückführen in seine Zelle und übergab die Beweisstücke dem Gerichtschemiker, damit er die Art der Blutflecke untersuche.
Dann schickte er nach Scharndorf und ließ Ede Lüders holen.
Das war ein dürres Männlein ohne Bart und Augenbrauen, von Gesicht so fahl wie von Haar. Und aus diesem farblosen und sozusagen bleichsüchtigen 165 Gesicht schauten ein paar kleine, helle Augen dummschlau in die Welt, und die schmalen Lippen waren beständig ein wenig gespitzt, als pfiffe Ede Lüders heimlich den Menschen eins.
Er war in der Provinz geboren und aufgewachsen, ein Gelegenheitsarbeiter, der selten arbeitete, ein Sünder niederen Schlages, hie und da verurteilt wegen unbedeutender Betrügereien, Diebereien von Groschenswerten. Augenblicklich hatte er sich in Scharndorf eingemietet und betrieb einen kleinen Hausierhandel mit Holzlöffeln, Mollen, Sieben und Hakenbrettern.
Seine Personalien waren rasch festgestellt, er leugnete auch keines der ihm zur Last gelegten Delikte.
»Herr Staatsanwalt, das Leben is man swer für einen armen Menschen.«
»Sind Sie am Sonnabend den dritten November mit dem Schmiedegesellen Konrad Sedlinski zusammen gewesen?«
»Tja – da muß ich mir erst besinnen. Mein Gedächtnis is man swach. Ich bin öfters mal mit dem Sedlinski zusammen. Aber ob das nu grade am vorigen Sonnabend war« –
»Sedlinski sagt aus, Sie wären miteinander nach Horste gegangen, um ein Reh zu holen, das in einer Schlinge saß, die Sie in der Nacht vorher gelegt hatten.«
Ede Lüders schüttelte entrüstet den Kopf. »Was soll ein nu zu so was sagen?«
»Wie meinen Sie?«
»Man kann sein eigen Bruder ja nich mehr trauen?«
»Leugnen Sie den gemeinschaftlichen Wilddiebstahl?«
»Nee. Wenn er nich dicht halten kann – warum soll denn ich?«
166 »Hat Sedlinski Sie in Ihrer Wohnung in Scharndorf abgeholt – oder wie war das?«
»Wir haben uns im Horster Holze getroffen.«
»Wann?«
»Das mag wohl Glock sieben gewesen sein. Es war all stockduster.«
»Wo lag denn die Schlinge?«
»Das war auf Gut Horste in so'n lütjen Bruch.«
»Sie behaupten also, Sonnabend gegen sieben Uhr abends mit dem Sedlinski im Horster Walde zusammen gewesen zu sein?«
»Soweit ich bei mein swaches Gedächtnis ein Ding behaupten kann, jawohl, Herr Staatsanwalt.«
»Saß denn ein Reh in der Schlinge?«
»Das wird der Sedlinski Sie wohl all gesagt haben, daß sich da ein kümmerlichen Spießer in gefangen hatt'.«
»Wollen Sie mir sagen, auf welche Weise Sie das Tier getötet haben?«
»Der Sedlinski hatte dazu ja sein Hammer mitgebracht. Er sagt, wenn man ein Stück Wild den Schädel einschlägt, das macht kein Radau, un denn kann man auch für das Fleisch ein besseren Preis verlangend sein, wenn da kein Kugel in stecken tut.«
»Nachdem Sie das Tier getötet hatten, was taten Sie da?«
»Wir brachten's nach mein Keller und zerteilten es und packten es in mein Kiepe. Denn nahmen wir noch ein Sluck bei Karl Ehlers, un denn ging Sedlinski weg.«
»Um wieviel Uhr?«
167 »Das mag leicht viertel zehn gewesen sein, kann sein auch etwas früher.«
»An wen haben Sie nun das gestohlene Reh verkauft?«
Lüders zögerte. »Herr Staatsanwalt, wenn ich ihn nennen tu, denn verlier' ich sein Kundschaft.«
»Nennen Sie ihn nur. Mit Ihren Wilddiebereien wird es nun ohnehin fürs erste ein Ende haben.«
»Un ein raffigen Kerl is er auch man,« erwog Ede, »der unserein' an sein sauer verdientes Geld abbricht, wo er man kann. Also – ich hab' das Reh dem Kaufmann Richter in Eckernförde gebracht.«
»Nehmen Sie das zu Protokoll,« wandte Brockmann sich an den Schreiber, »Kaufmann Richter in Eckernförde.« Und wieder zu Lüders gewandt: »Haben Sie an dem Sedlinski an dem Abend etwas Besonderes bemerkt? Ich meine, schien er Ihnen aufgeregt?«
»Es is doch 'n halben Polacken, Herr Staatsanwalt.«
»Was heißt das?«
»Die Sorte is doch immer aus'n Häuschen.«
»Also war Sedlinski das an dem Abend?«
»Ich mein', wenn ich mich besinn', ein büschen mag er das wohl gewesen sein. Es schien ihm was gegen sein Absichtens gegangen zu sein. Er pocht', er hätt' noch immer sein Willen gekriegt und wer ihm in die Quer käme, der möcht' sich in acht nehmen. – I, warum soll ich das nich sagen? Der Kunde hat sich auch nicht geniert, mich in Ungelegenheiten zu bringen.«
»Haben Sie eine Vermutung über die Ursache seiner Aufregung?«
168 »Er hatte so'n Bändelei mit ein Mächen. Die hatte der Braker Herr vom Gute weggebracht. Da war der Sedlinski fuchtig über.«
»Hm. Aber um sieben Uhr behaupten Sie, sich mit dem Sedlinski im Horster Wald herumgetrieben zu haben. Denken Sie nach. War das wirklich sieben Uhr? Könnte es nicht auch acht gewesen sein?«
»Tja – auf die Minute will ich das nich beswören, Herr Staatsanwalt. Mein Gedächtnis is man swach. Aber Glock achte kann das sicher nich gewesen sein. Der Kieler Zug fährt doch um sieben Uhr fünfzehn Minuten aus'n Scharndorfer Bahnhof. Und als wir still lagen im Holze, weil da grad ein vorüberging, hörten wir das Poltern von den Zug un sahen sein Lichters durch die Bäume plinkern, un Sedlinski puffte mir un sagte: ›Nu mach mal ein büschen Fahrt. Es is all viertel achte.‹«
Der Staatsanwalt entließ Ede Lüders unzufrieden. Die Spur, auf die Olten ihn gewiesen hatte, führte nicht vorwärts. Auffallend genau deckten sich die Angaben des Hausierers mit denen Sedlinskis. Wenn die beiden Kumpane sich nicht ihre Aussagen aufs genaueste verabredet hatten – und wie wäre das wohl möglich gewesen? – so hatte der Hammer wirklich zu einem Wilddiebstahl gedient und nicht zum Mord an einem Menschen. Er konnte zu beiden gedient haben. Aufgeregt sollte der Schmiedegesell sich an dem verhängnisvollen Abend ja gezeigt haben. Nur wenn er um sieben Uhr oder ein Viertel nach sieben Uhr neben Lüders im Walde von Horste lag, konnte er nicht zwischen sieben Uhr fünfzehn und sieben Uhr dreißig im 169 Zug sitzen, Max von Heesemann ermorden und aus dem Wagen werfen.
Am nächsten Tag vernahm der Staatsanwalt den Kaufmann Richter aus Eckernförde. Der Mann bestritt, gewußt zu haben, daß das von Eduard Lüders aus Scharndorf ihm gelegentlich zum Kauf angebotene Wild auf unrechtliche Weise erworben sei. Lüders habe ihn glauben machen, daß die Jagdherren solche Stücke ihres Wildstandes, die wegen gebrochener Läufe oder anderer äußerer Verletzungen abgeschossen werden müßten, und die sie ihrer Minderwertigkeit halber nicht den Wildhandlungen anbieten wollten, durch seine Vermittlung für ein Billiges an Privatleute abzugeben pflegten. Daß er am Sonntag in der ersten Morgenfrühe von Ede Lüders ein schon zerlegtes Reh gekauft habe, bestritt der Zeuge nicht.
Wieder verging ein Tag. Der Ermordete war zur letzten Ruhe bestattet worden.
Brockmann saß in seiner Stube und sah verdrossen in das erste spärliche Schneegeriesel, das an den Scheiben vorüber zu Boden sank. Es war früh am Morgen. Eben hatte der Gerichtschemiker ihm sein Gutachten über die Flecke an Hemd und Hammer abgegeben. Es waren an beiden Gegenständen zweifellos Blutflecken, wahrscheinlich von Blut aus demselben Körper stammend. Es mochte das Blut eines Rehes sein – Menschenblut war es bestimmt nicht. Nicht am Hammer und nicht am Hemd fand sich ein Spritzchen gleicher Art mit den Flecken am Fenstervorhang des Abteils erster Klasse und in der Türfuge. Diese Flecken waren unverkennbar Menschenblut.
Mit diesem Gutachten fiel die ganze Anklage 170 zusammen, die Olten aufgebaut hatte. Brockmann überlegte verstimmt die nächsten Maßnahmen, als nach kurzem Anklopfen der Polizeileutnant in die Stube stürmte, finsteren Ernst auf dem jovialen Gesicht und aufgeregt ein Morgenblatt in der Hand zerknüllend.
»Haben Sie gelesen, Brockmann? Haben Sie gelesen? – Das ist infam!«
Brockmann hatte noch nicht Zeit gehabt, einen Blick in irgendeine Zeitung zu werfen. Er las jetzt den Artikel, auf den Olten mit dem Zeigefinger deutete.
»Mordaffäre Heesemann.
Wir sind in der Lage, über diese Bluttat, die die ganze Provinz in Aufregung versetzt, Einzelheiten mitzuteilen, die der Untersuchung zweifellos eine ganz neue und überraschende Wendung geben werden, eine Wendung, die in weiten Kreisen die größte Sensation hervorrufen dürfte.«
Und dann folgte, verbrämt mit moralischen Betrachtungen und Ausbrüchen biedermännischer Entrüstung, verblümt und vorsichtig, und trotzdem greifbar deutlich die Geschichte von der Frau, die sich in der Ehe unbefriedigt fühlt und in rachsüchtigem Haß den Geliebten anstiftet, ihren Ehemann aus dem Wege zu räumen – den Geliebten, der vielleicht sich sträubt, zu widerstehen sucht, aber, unterjocht von seiner Leidenschaft, durch Drohungen und Verheißungen, durch alle Verführungskünste des Weibes zu der Freveltat gestachelt wird. Es war kein Name genannt. Jeder im Land konnte die Namen setzen. Es war nur eine Zusammenreihung von Tatsachen, aus Jahre alter Vergangenheit und neuester Gegenwart. Die Schlußfolgerung blieb unausgesprochen, aber die Zusammenstellung ließ nur 171 eine Schlußfolgerung zu. Meserich hatte ein stilistisches Meisterstück vollbracht. Wenn er mit dem Finger auf die beiden Personen gewiesen hätte, er würde sie der Welt nicht deutlicher haben bezeichnen können. Dennoch blieben er und sein Blatt für den Staatsanwalt unangreifbar.
In schwerem Ernst las der Staatsanwalt die Sätze, die mit marktschreierischer Plumpheit auf den Mann deuteten, um den sein Verdacht schon lange heimlich kreiste.
»Lieber Olten,« sagte er, »ich fürchte, dies ist mehr als infam, es ist die Wahrheit.«
Der Polizeileutnant antwortete nicht. Er rannte aufgeregt im Zimmer auf und nieder.
»Denken Sie an die Aussage des Bahnhofsvorstehers über den Auftritt vor dem Abgang des Zuges – den Handschuh, den wir auf der Schwelle zur ersten Klasse gefunden haben. Denken Sie an die Dokumente in Heesemanns Brieftasche, die sämtlich auf diesen einen Mann sich bezogen, diesem einen Mann Verderben drohten. Der Artikel weist auf ein neues Motiv, ein sehr glaubhaftes. Erinnern Sie sich der großen Aufregung der Witwe bei der Todesnachricht und ihrer unnatürlichen Ruhe später. Auf der anderen Seite bringt die Untersuchung gegen den Schmiedegesellen absolut nichts Belastendes zutage. Was er uns über seinen Aufenthalt am Abend des Mordtages erzählt, wird ihm bis in die kleinste Einzelheit von Zeugen bestätigt. Er hat in der Tat ein Reh totgeschlagen. Das Blut am Hammer und Hemd ist wirklich, genau wie er's behauptet hat, kein Menschenblut. Ich werde ihn noch heute aus der Haft entlassen müssen. Außer Wilddiebstahl liegt nichts gegen ihn vor.«
172 Olten schwieg noch immer und lief wie ein gefangenes Tier im Käfig hin und her.
Brockmann legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Lieber Olten, ich weiß, Sie sind Ilefelds Freund. Seine Verfolgung fällt Ihnen schwer. Auch mich, ich bekenn's ehrlich, faßt der Menschheit ganzer Jammer an, wenn ich mir vorstelle, daß ein Mann wie er zu solcher Tat herabsinken konnte. Aber für uns beide, das sehen Sie ein, gibt's hier nur eines: unsere Pflicht tun.«
Olten fuhr herum. »Staatsanwalt, daran brauchen Sie mich nicht zu mahnen. Wenn ich's glauben könnte, daß Ilefeld der Mörder ist – Freund hin, Freund her – der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht mit beiden Händen zupackte, längst zugepackt hätte! Das können Sie wohl denken, daß ich all meinen Ehrgeiz darein setze, das Vertrauen zu rechtfertigen, das der Chef mir geschenkt hat, indem er mir vor all seinen andern Beamten die Aufklärung dieses Mordes anvertraute, der das ganze Land in Aufregung versetzt. Ich habe nur den einen Gedanken: Den Mörder finden. Und – Sie haben ja hundertmal recht. Es spricht jeder einzelne Umstand gegen Ilefeld. Und gegen all diese ihn verdammenden Indizien hab' ich nichts in die Wagschale zu werfen als mein Gefühl von ihm, meinen Instinkt, den Sie manchmal gelobt haben. – Ja, ja, selbstverständlich! Ich werde die Spur verfolgen – muß das ja, sobald der Verdacht gegen den Sedlinski in nichts zerrinnt. Ich werde sie verfolgen bis in ihre äußersten Verzweigungen, verlassen Sie sich darauf. Nur glauben, glauben, daß es die Spur des wirklichen Mörders sei – das kann ich nicht.«
173 Der Staatsanwalt zuckte die Achseln. »Kein Mensch weiß auch nur von sich selbst, was für ein Teufel in ihm schläft und zur unglücklichen Stunde aufwachen kann.«
»Gewiß nicht! Nein. Da stimme ich Ihnen zu. Die Umstände können jeden von uns zum Mörder machen. Und der Mann hat kein Lammblut in den Adern. Zu einem Totschlag kommt der leicht – auch zu einem Mord – warum nicht? Aber dann von Mann zu Mann und Aug' in Auge. Von hinten sein Opfer beschleichen, nein! Das paßt nicht zu ihm.«
Es klopfte. Der Amtsdiener meldete den Pastor Roßmüller, der kam, um den Gesetzeshütern seine Geschichte zu erzählen, die Geschichte, die wider sein Wollen und Vermuten nun schon vor ihm die Zeitung der ganzen Provinz erzählt hatte. Aber er brachte Einzelheiten, all die kleinen Züge, die er von Hete erfahren und sorglich vor Eduard Meserichs Neugier behütet hatte. Seine Bekundungen wurden zu Protokoll genommen.
Eine Viertelstunde später saß Olten im Hamburger Zug. Er wollte, was zwischen dem Ermordeten und Ilefeld gespielt haben mochte, aufrollen bis zum letzten Zipfel, die geschäftlichen Konflikte, die persönlichen und den Liebeskonflikt. Irgendwie mochte ihm dabei der richtige Faden in die Hand geraten.
Das ehemalige Strauß'sche Geschäft war seit dem Bankrott und der Flucht seines Inhabers geschlossen. Aber der Buchhalter Moritz Mandelbaum wohnte nicht weit entfernt. Olten fand ihn in seiner Stube, die fast wie ein Kontor aussah, über dicken Büchern sitzen. 174 Denn Mandelbaum machte auch Geschäfte auf eigene Rechnung.
Olten legitimierte sich und breitete Ilefelds Wechsel, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch.
»Sie haben für den flüchtigen Jonathan Strauß die Geschäfte geführt, Herr Mandelbaum, nicht wahr?«
»Ich habe einige Geschäfte geführt für den Strauß, nicht alle.«
»Sehen Sie sich diese Wechsel an. Hat Herr von Ilefeld sie Ihrem früheren Chef gegen empfangene Darlehen ausgestellt?«
Mandelbaum, ein junger Mann mit den Bewegungen eines alten, prüfte die einzelnen Blätter. Er hatte ein blasses, melancholisches Gesicht, über dem ein dichter, glanzlos schwarzer Haarwulst senkrecht emporstand. Seine Adlernase sprang weit vor, während das Kinn scheu zurückfloh. Seine schmalen Lippen waren steif vom Schweigen. Langsam hob er seine klugen, schwarzen Augen zu dem Kriminalisten, während er zwei Wechsel aufnahm.
»Die da.«
»Aber in den letzten Tagen des Oktober hat Strauß doch diese sämtlichen Wechsel aufgekauft?«
Mandelbaum zuckte die Achseln. »Das war für 'nen andern.«
»Im Auftrage von Herrn von Heesemann auf Brake, ganz recht. Sie sind nach seiner Ermordung alle zusammen in seiner Brieftasche gefunden worden. Und auch die dritte Hypothek auf Ravenhorst. Wissen Sie von der was?«
»Ich hab' sie doch für den Heesemann kaufen 175 müssen. Der Herr von Heesemann hat telephonisch gegeben die Order. Er hat sie mir gegeben. Der Chef war schon fort.«
»Wann hat er Ihnen die Order gegeben?«
Mandelbaum stand auf, langte ein Notizbuch aus einer Schieblade, blätterte darin.
»Das war am achtundzwanzigsten Oktober.«
»Und am dritten November hat Heesemann die Papiere erst bei Ihnen abgeholt?«
»Ich sollt' erst das mit der Hypothek im Grundbuch in Ordnung bringen, die Umschreibung, verstehen Sie?«
»Der Eigentümer hat die Hypothek mit 25 000 Mark Schaden verkauft. Wie kam das? Wollte er sie gern los sein?«
»Sie war nicht mehr wert. Es war kein Geschäft mehr mit dem Ilefeld.«
»Soll das heißen, daß keine Aussicht war, Geld von ihm zurückzubekommen?«
»Kann einer holen einen Kern aus einer tauben Nuß? Nu also! Der Mann war ausgehöhlt.«
»Ja, warum mag dann Heesemann Hypothek und Wechsel gekauft haben?«
Mandelbaum zuckte wieder die Achseln. »Hat er vielleicht dem Ilefeld die Hüfte rühren wollen. Hat er ihn herunter haben wollen von Ravenhorst, selbst wenn es sein Geld kostet.«
»So meinen Sie, daß Heesemann Wechsel und Hypothek mehr aus Haß in seine Hände gebracht hat als in der Hoffnung, sich zu bereichern?«
»Ich kann nur sagen, es war kein Geschäft.«
»Auch dann nicht, wenn der Kanal durch Ravenhorst geführt wurde?«
176 »Auch dann nicht. Der Heesemann warf sonst nicht sein Geld zum Fenster hinaus. Er muß schon gehabt haben einen großen Haß auf den Ilefeld.«
»Wissen Sie etwas über den Grund dieses Hasses?«
»Braucht's einen Grund? Wenn der Herr Kommissär ansehen den Heesemann und ansehen den Ilefeld – nu? Warum hassen sich Katz' und Hund? – Er mag auch einen Grund gehabt haben. Ich weiß nix.«
»Vor vier Jahren ist Margaretenhof sehr rasch verkauft worden. Ihr Chef machte das Geschäft. Ein Bremer sollte der Käufer sein. Der hat aber überhaupt nicht dort gewohnt. Der Hof ging nach einem Jahr an Heesemann über, der ihn zu Brake schlug. Hatte Heesemann auch diese Subhastation veranlaßt?«
»Er hatte aufgekauft alle Schuldpapiere vom Baron Krastel, wie er hat aufgekauft die vom Ilefeld. Warum soll ich's nicht sagen? – Sind die feinen Herren nicht hergefallen wie die Wölfe über meinen armen Chef in der Stunde seiner Not? Nicht drei Monat' Frist haben sie ihm wollen gönnen, wo er für sie gearbeitet hat sein Leben lang! Un nu – nu sie ihn in den Konkurs gehetzt haben und wahrscheinlich in den Tod – nu is es ihnen zu gering, zu nennen ihre Namen, um zu heben ihren Anteil aus der Masse. Warum soll ich nich sagen, was ich weiß?«
»Sonach müßte Heesemann doch seinen Vorteil in derartigen Geschäften gefunden haben?«
»Margaretenhof stieß an Brake. Es war in hoher Kultur. Es hat gute Ziegelerde. Der Heesemann hat gebaut eine Ziegelei dort. Margaretenhof war ein Geschäft. Ravenhorst war – nu, sagen wir, 177 es war eine Passion. Er durfte sich schon erlauben Passionen, der Heesemann.«
»Auf welche Weise meinen Sie denn, daß Heesemann gegen Herrn von Ilefeld vorgegangen sein würde, um ihn von Ravenhorst zu vertreiben? Erklären Sie mir das.«
»Nu, er würde ihm gekündigt haben die dritte Hypothek am ersten November auf Mai. Er würde dann haben präsentiert seine Wechsel zu den Zeiten, wie sie fällig waren, zum fünfzehnten November, zum ersten Dezember, zum zwölften und da, den letzten über 30 000 Mark, zu Weihnachten.«
»Glauben Sie nicht, daß Ilefeld die Summen von Geldleuten bekommen haben würde, sobald es bekannt wurde, daß der Kanal durch Ravenhorst geführt wird? – Er selbst rechnete mit Bestimmtheit darauf.«
Mandelbaum lächelte. »Der Herr von Ilefeld rechnet immer auf das, was er sich wünscht. Ist er ein Geschäftsmann? Wenn er schreit mit seiner groben Stimme: So soll's sein! Dann meint er, es wird auch sein. Aber macht man ein Geschäft mit Schreien? – Der Heesemann hatte alle Geldleute der Provinz am Bande. Sie können glauben, der Ilefeld würde nicht gefunden haben für einen Groschen Kredit.«
»Sind Sie der Ansicht, daß Heesemann die Hypothek schon gekündigt hatte, als er ermordet wurde? Daß Ilefeld im Besitz der Kündigung war?«
»Wenn die Kündigung sollte Gültigkeit haben, mußte er sie machen am ersten November bis Mittag. Ich meine, daß am dritten der Herr von Ilefeld muß drum gewußt haben.«
178 Olten verabschiedete sich von Mandelbaum. Um keinen Umstand unberücksichtigt zu lassen, begab er sich zum Polizeigebäude in Hamburg und bat in der Abteilung der Sittenpolizei den Chef um Auskunft, ob ihre Listen eine »Dame« führten, die sich den Kosenamen »Häschen« zulege?
Rascher und ausführlicher, als er gehofft hatte, ward ihm Bescheid. Ja, eine hübsche Balletteuse war unter dieser Bezeichnung in den Kreisen reicher Lebemänner bekannt. Sehr möglich, daß der ermordete Heesemann in einem näheren Verhältnis zu ihr gestanden hatte, sie empfing häufig den Besuch von Herren vom Lande. Aber ganz unwahrscheinlich, daß sie in irgendeiner Beziehung zu seiner Ermordung stand. Um ihren Besitz wurde mit Banknoten gekämpft, nicht mit Mordwaffen.
Wieder eine Spur, die im Sande verlief. Nur eine einzige stand fest, tief eingeprägt, und die lief schnurgerade ohne Abweichung und ohne Verwischung auf den einen Mann zu. Also weiter auf dieser Spur.
Olten reiste mit dem nächsten Zuge nach Kiel zurück und suchte Ilefelds Rechtsanwalt, Doktor Sievers, auf.
»Ich bitte um eine Auskunft, Herr Doktor. Unter den Papieren, die Herr von Heesemann bei seiner Ermordung bei sich trug, befand sich die dritte Hypothek aus Ravenhorst, die der bisherige Besitzer, Jonas Meyer in Hamburg, am achtundzwanzigsten Oktober an Herrn von Heesemann zediert hatte. Wissen Sie etwas von dieser Sache?«
»Ja. Herr von Heesemann hatte meinem Klienten die Hypothek zum ersten Mai gekündigt.«
179 »War die Kündigung am dritten November in Herrn von Ilefelds Händen?«
»Sie traf früh am ersten November bei mir ein. Ich habe sofort Herrn von Ilefeld telephonisch zu mir gebeten und sie ihm vorgelegt.«
»Wann war Herr von Ilefeld bei Ihnen?«
»Um elf Uhr vormittags am ersten November.«
»Und wie nahm er die Kündigung auf?«
»Es war ein harter Schlag für ihn. Am selben Morgen hatte er die Nachricht bekommen, daß der Kanal durch Ravenhorst geführt würde. Er hatte gehofft, dadurch aus all seinen Schwierigkeiten zu kommen.«
»War er sehr überrascht über die Zedierung, und daß ihm von seiten Heesemanns die Kündigung kam?«
»Nein. Überrascht war er garnicht. Er schien einen Streich von dieser Seite erwartet zu haben. Er sagte geradezu: ›Also so sieht seine Rache aus!‹«
»Rache? – Sagte er Rache? Nahm er die Kündigung nicht einfach als eine geschäftliche Maßnahme?«
»Ich entsinne mich deutlich, er sagte Rache.«
»War er nun sehr niedergedrückt durch die Zerstörung seiner Hoffnung, Ravenhorst halten zu können?«
»Es ist nicht leicht, Herrn von Ilefeld eine Hoffnung zu zerstören. Er ist ein Stehaufmann, wie ich keinen zweiten kenne. Ich merkte aber doch, daß der Schlag ihn schwer getroffen hatte, schwerer, als er mir zeigen mochte.«
Olten dankte dem Rechtsanwalt. Er fuhr jetzt nach Scharndorf zu Meiers in Horste.
Dort hatte sich die Sachlage verändert. Durch 180 die Mahnungen Pastor Roßmüllers und die Andeutungen des Zeitungsartikels, die sich wie ein Lauffeuer in die entlegensten Katen verbreitet hatten, war Hete für die Ihrigen zu einer Respektsperson geworden, einer unschuldig Duldenden. Vater Meier behandelte sie mit Hochachtung, Mutter Meier hatte sie in die Sofaecke der guten Stube gesetzt und tröstete sie mit guten Bissen.
Als Olten ankam, mahnte Wilm Meier ihn geradezu: »Wenn Sie mit mein Tochter was reden wollen, Herr Kommissar, denn muß ich Ihnen schon bitten, ihr nich hart anzufassen. Mein Hete is krank, sagt der Sanitätsrat, von all die Schlechtigkeiten, wo ihr doch gar nix angehn.«
Die Mahnung war nicht unnötig, denn Olten hegte einen Grimm auf das Mädchen.
»Ich habe Ihnen Vorwürfe zu machen, Fräulein Meier,« begann er, »warum haben Sie all die interessanten Einzelheiten über die Mordsache, die Sie Herrn Pastor Roßmüller so reichlich mitgeteilt haben, mir, dem berufenen Verfolger des Mörders, vorenthalten?«
Hete schlug die Lider auf, betrachtete den Polizeileutnant. Seine Augen sahen nicht wie die des Pastors Roßmüller in ferne schöne Welten, sondern blickten recht scharf in diese Welt. Da senkte sie den Blick auf ihre auf dem Schoß verschlungenen Hände und murmelte: »Ich hab' mich nicht getraut.«
»Warum denn nicht?«
Hete fing an zu weinen. »Es is mich schon gereut, daß ich dem Herrn Pastor das gesagt hab'. Die ganze Nacht hab' ich da um nich schlafen können. 181 Herr von Heesemann is tot. Dem kann nix auf der Welt mehr nützen. Un es is mich ein ganz schrecklichen Gedanken, Menschens unglücklich zu machen. Nee, man bloß kein' unglücklich machen! Aber meinen Konrad unschuldig verurteilen lassen, das konnt' ich doch auch nicht!«
Sie fing wieder an zu weinen. »Wenn sie mein Konrad nich ins Gefängnis gesleppt hätten, denn hätt' ich wohl immer stillgeswiegen.«
»Nun haben Sie aber einmal geredet. Nun antworten Sie mir wahrheitsgemäß.«
Olten fragte scharf und ohne Schonung, immer bemüht, die Zeugin in Widersprüche zu verwickeln. Doch Hete widersprach sich nicht. Zögernd, mit leiser, müder Stimme gab sie ihre Antworten, mit Widerstreben und so knapp wie möglich. Aber es fügte sich Glied an Glied. Ja, auf Brake hatte jedes Kind gewußt, daß die Gnädige, ehe sie Frau von Heesemann wurde, den Herrn von Ilefeld heiraten wollte. Und auf der Jagd auf Hohorst, beim Bauer Martens, da hatten die beiden sich nach Jahren wiedergesehen und waren sehr erschrocken gewesen. Frau Martens war's auch aufgefallen. Nach dem Treiben war dann Frau von Heesemann allein auf der Koppel hingelaufen, ganz verbiestert und verstört. Und der Herr von Ilefeld hatte nichts geschossen. Am folgenden Tag, an dem Tag, als Herr von Heesemann Hetes Eltern Knall und Fall von Brake wegschickte, da hatte sie im Schummern die Gnädige wieder getroffen. Da steckte die einen Brief in den Postkasten beim Schulmeister. – Ob das üblich war? – Nein, gewiß nicht: Der Postbote holte zweimal täglich alle Briefschaften der 182 Herrschaft aus des Herrn Stube ab. Und an wen der Brief war, das wußte Hete nicht. Sie wußte auch nicht, ob Ilefeld jemals an Frau von Heesemann geschrieben hatte. Aber ja, das war wahr, sie konnte es nicht anders sagen: Im Seeberger Holz hatte sie die beiden zusammen gesehen, am Sonnabend zwischen halb fünf und halb sechs Uhr. Frau von Heesemann hatte gerufen: »Frei will ich werden! Frei!« Und Herr von Ilefeld hatte geantwortet: »Gut.« Und weiter hatte sie nichts gehört, nicht ein einziges Wort. Und einen Groll auf Frau von Heesemann, nein, den hatte sie nicht. Warum denn? Auch Herr von Ilefeld hatte ihr nie etwas zuleide getan. Sie wollt auch gewiß nicht behaupten, daß er die Schlechtigkeit begangen hätte. Es mochte ganz wer anders den armen Herrn von Heesemann umgebracht haben. Nur der Konrad, der Konrad Sedlinski – der war es gewiß nicht gewesen.
Olten reiste mit dem nächsten Zug nach Kiel zurück, nahm ein Auto und fuhr nach Annenhof hinaus, der Besitzung des jüngeren Seekamp. Botho von Seekamp und Karlchen Tielen saßen im Zimmer des Hausherrn zusammen. Sie begrüßten freudig Olten, der wie in seiner Leutnantszeit als gern gesehener Gast auf den Gütern verkehrte.
»Nett, daß Sie mal herauskommen, Olten. Sie bleiben zum Abendbrot. Aber natürlich. Wissen Sie was, bleiben Sie die Nacht über. Wir spielen nachher einen feinen Skat.«
Olten hängte Hut und Mantel an den Kleiderständer in der Halle.
»Danke. Ich komme im Dienst. Es ist mir 183 lieb, daß ich auch Sie hier treffe, Herr von Tielen. Es spart mir einen Weg und Zeit – die kostbar ist.«
»Also, bitte. Aber ein Glas Wein trinken Sie auf die Fahrt.« Seekamp gab dem Diener einen Auftrag und nötigte Olten mit in sein Zimmer. »Meiner Frau wird es leid sein, daß sie nichts von Ihrem Besuch abbekommen soll.«
Olten setzte sich in den tiefen Polstersessel. Stumm und hastig trank er das Glas Rotwein, das Seekamp ihm einschenkte. Es ging auf acht. Er hatte seit mittag nichts genossen. Die Zigarre lehnte er ab.
Als der Diener hinausgegangen war, begann er geradezu:
»Herr von Seekamp und Herr von Tielen, Sie waren am Sonnabend, dem dritten November, auf dem Bahnhof von Scharndorf, als Herr von Heesemann in den Zug stieg, den er lebendig nicht mehr verlassen hat. Sie waren mit Herrn von Ilefeld zusammen. Erzählen Sie mir, bitte, genau und ausführlich, was sich auf dem Bahnhof zugetragen hat.«
Botho von Seekamps Miene wurde ernst. Tielen lachte nervös.
»Zivilisation! Zivilisation, Botho! Alle Zöpfe geraten ins Wackeln, weil ein Schuft endlich nach Verdienst traktiert worden ist. Und paß auf: ein ehrlicher Kerl wird noch als Sündenbock geschlachtet!«
»Ich bitt' dich, sei still«, mahnte Seekamp ungeduldig.
Olten aber sah aufmerksam auf den blassen Menschen mit dem leidenschaftlichen, von den Mißerfolgen seines Leben gezeichneten Zügen. Der hatte den Ermordeten tödlich gehaßt, der kam aus einem Land, in 184 dem der Haß des Herzens die Hand leicht bewehrt zur Tat. Hatte er in der Freiheit der Wildnis verlernt, den Zügeln zu gehorchen, die in der alten Welt der Menschen Leidenschaften bändigen? Fand ein Drama aus dem dunkelsten Afrika hier seinen fünften Akt?
Seekamp antwortete inzwischen: »Die Wahrheit zu sagen, Herr von Olten, es ist mir einfach scheußlich, daß ich von der Geschichte am Bahnhof sprechen soll. Wenn die Behörden Verdacht gegen Ilefeld hegen, so wird jedes Wort, das ich sprechen muß, diesen Verdacht verstärken.«
»Sie haben den Artikel im Morgenblatt gelesen?«
»Heute mittag, ja. Ein Schandgeschreibsel! Grete ist gleich hinausgefahren nach Brake. Sie traf Mama schon dort.«
»Wie benahm sich Frau von Heesemann?«
»Weder Mama noch Grete haben sie gesehen. Sie nahm keinen Besuch an. Ihre Jungfer sagte, sie liege krank. Zum Verwundern ist's nicht.«
»Also, meine Herren, die Sache am Bahnhof. Sie waren dort, Herr von Seekamp, als Heesemann kam. Sprachen Sie mit ihm?«
»Nein. Er setzte sich in die erste Laube vor der Tür. Wir saßen in der dritten. Wir hatten einander kaum begrüßt. Oder, um ganz korrekt zu sein – er hatte gegrüßt, und wir hatten nicht gedankt.«
»Warum nicht?«
»Weil er ›gekniffen‹ hatte,« knurrte Karlchen Tielen.
»Wir waren einige Tage vorher als Kartellträger bei ihm gewesen, und er hatte die Forderung abgelehnt,« erklärte Seekamp.
185 »Kartellträger? – Für wen? Für Ilefeld?«
»Ja. Bei dem Jagddiener auf Hohorst war es zu Differenzen zwischen den beiden gekommen.«
»Auch das noch! – Was für Differenzen denn?«
»Ein paar ungehörige Redensarten. Heesemann war doch im Grunde ein brutaler Kerl mit nur einem dünnen Lack Wohlerzogenheit drüber.«
»Frau von Heesemann war nicht der Grund der Forderung?«
»Davon ist mir nichts bekannt.«
»Also gut, Heesemann lehnte die Forderung ab, und am Sonnabend, dem 3. November, sah Ilefeld auf dem Scharndorfer Bahnhof seinen Gegner zum erstenmal wieder?«
»Ja. Ilefeld kam ahnungslos auf den Perron.«
»Ahnungslos? Suchte er nicht vielleicht Heesemann? – Von wo kam er denn?«
»Ich denke, aus Scharndorf.«
»Sagte er das?«
»Er sagte nichts darüber. Er hatte gar keine Zeit. Der Zug fuhr schon ein. Und Heesemann war im Begriff, einzusteigen. Der Wagen der ersten Klasse hielt außerhalb des Bahnhofs. Indem er darauf zuging, mußte Heesemann uns den Rücken kehren. Als Ilefeld diesen Rücken sieht und den Mann erkennt, bricht er mitten im Satz ab, reißt den ersten besten Stock aus des Bahnmeisters Georginenbeet und stürzt auf den Braker zu. Wir hängten uns rechts und links an seine Arme, Tielen und ich, und hielten ihn.«
»Sagte er etwas dabei?«
Seekamp hielt zurück: »Was einer in der Wut sagt.«
186 »Warum willst Du's nicht wiederholen?« höhnte Karlchen Tielen. »Hast dem armen Kerl ja ohnehin schon sein Grab geschaufelt.«
»Herr von Tielen,« sagte Olten, »ich hege noch den altmodischen Glauben, daß die Wahrheit einem Unschuldigen niemals schaden kann. Bitte, Herr von Seekamp, was waren Herr von Ilefelds Worte?«
»Er sagte: ›Laß mich los. Ich muß den Hund kalt machen‹.«
»Was geschah weiter?«
»Wir redeten auf Ilefeld ein, daß er einen Zug überschlagen sollte, daß es unmöglich für ihn sei, mit dem Kerl im selben Abteil zu fahren.«
»Und er?«
»Nach seiner Art. Erst störrisch wie ein Bock und auf vernünftiges Zureden lenksam wie ein artiges Kind. Er stieg schließlich in das letzte Abteil zweiter Klasse. Zwei waren zwischen ihm und Heesemann.«
»Waren die Abteile besetzt?«
»Ich meine, sie wären leer gewesen.«
»Und von Ihnen ist keiner mitgefahren?«
»Wir fuhren in der anderen Richtung, nach Annenhof.«
»Beide Herren?« – Olten sah Tielen scharf an.
Der lachte kurz auf. »Nein, Herr von Olten, ich hab' dem Heesemann nicht das Lebenslicht ausgeblasen – obgleich ich's ihm zugeschworen hatte. Mir schmeckt Rache nur warm.«
»Ich möchte Sie jedenfalls bitten, falls Sie in das Land Ihrer Wahl zurückkehren wollen – ich höre, es besteht der Plan bei Ihnen – mit der Ausführung bis zur Beendigung dieses Prozesses zu warten.«
187 »Ich hab' Zeit,« antwortete Karlchen Tielen melancholisch.
»Noch eine Frage: Erinnern sich die Herren, ob Ilefeld auf dem Bahnhof in Scharndorf Handschuhe trug und von welcher Art?«
»Er trug dunkelrote Lederhandschuhe.«
»Ich danke Ihnen.«
Olten stand auf, ging schwerfällig durch die Stube, öffnete den Fensterflügel und sog die frische Luft ein.
»Wollen Sie nicht jetzt noch eine Erfrischung nehmen, Herr von Olten – wenigstens eine Zigarre?« nötigte Botho.
Olten dankte nur durch eine Handbewegung. »Ich habe Eile. Guten Abend, meine Herren.«
Das Auto fauchte und rasselte. Es war dunkle Nacht. Durch die Risse schwarzer Wolken funkelten große Sterne. Von der See her blies ein kalter Wind. Olten saß, in seine Ecke gedrückt, in unfrohen Gedanken. Wie alle Indizien ineinandergriffen, vorwärts drängten, unerbittlich dem unerwünschten Ziel entgegen. Am 27. Oktober sah Ilefeld auf der Jagd in Hohorst die geliebte Frau zum ersten Male seit ihrer Verheiratung wieder, sprach sie in Nebel und Einsamkeit während des Treibens hinter dem Knick. Der Wortwechsel folgte, die Forderung. Heesemann lehnt sie am 28. ab. Und am selben Tage schon gibt er Order – telephonisch, er nimmt sich nicht Zeit, nach Hamburg zu reisen! – die Schuldverschreibungen seines Gegners aufzukaufen, die Schuldverschreibungen, die nach dem Urteil des Geschäftsmannes Mandelbaum ihm keinen Gewinn bringen können, nur den anderen zugrunde richten. Am 1. November erhält Ilefeld durch 188 seinen Rechtsanwalt Kunde von dem gegen ihn geführten Streich. Am Nachmittag des 3. spricht er die Geliebte im Seeberger Holz, schreit sie ihm ihr wildes: »Ich will frei sein!« ins Ohr. Und unmittelbar darauf, das Herz ganz erfüllt von den mächtigsten Leidenschaften, dem Haß und der Liebe, trifft er auf dem Scharndorfer Bahnhof den Todfeind. Er will sich auf ihn stürzen. Gewaltsam beruhigt, steigt er in den gleichen Wagen. Und 15 Minuten später liegt Heesemann erschlagen, und ein dunkelroter Handschuh auf der Türschwelle erzählt, daß der in die zweite Klasse Eingestiegene jedenfalls bis zur Verbindungstür zur ersten gelangt ist. Immerhin vielleicht kein Mord, ein Totschlag, der das Aufeinanderprallen der beiden in der Siedehitze ihres Zornes abgeschlossen hat. – Ein Totschlag? – Von rückwärts ist der Streich gefallen, nicht gegen einen Angreifer, nicht gegen einen, der sich verteidigte. Es ist Mord. Und kein Ausweg und keine Wahl für einen pflichttreuen Beamten, als die Verhaftung Wolf Ilefelds auf Ravenhorst zu veranlassen. –
Am Tag darauf wurde Ilefeld von dem Staatsanwalt vernommen. Er gehörte zu denen, die, wenn sie allein in einem Raum sind, ihn auszufüllen scheinen durch die Wucht ihrer Persönlichkeit. Wie eine Gestalt aus der Renaissance mutete er an in seinem trotzigen Herrentum. »Aber,« dachte Brockmann, »unsere Zeit hat keinen Platz für schöne Menschentiger. Wir würden Cesare Borgia in jungen Jahren gehängt haben.«
»Herr von Ilefeld,« begann er, »eine schwere Anklage wird gegen Sie erhoben«.
Ilefeld nickte. »Nach dem Schandartikel im 189 gestrigen Morgenblatt hab' ich's erwartet. Ich war schon auf der Redaktion, um ein Wort mit dem Verfasser zu sprechen. Er war aber nicht zu finden.«
»Es steht Ihnen frei, die Beleidigungsklage gegen ihn zu erheben.«
»Danke.«
»Sie verzichten darauf, ihn gerichtlich zur Rechenschaft zu ziehen?«
»Mit Seinesgleichen rede ich mit der Reitpeitsche oder überhaupt nicht.«
»Herr von Ilefeld, bekennen Sie sich schuldig, am 3. November Max Heesemann auf Brake im Eisenbahnzug ermordet zu haben?«
Ilefeld stand breit und wuchtig vor dem Staatsanwalt. Ein Sonnenstrahl spielte auf seinem dichten, rotbraunen Haar. Seine Augen schauten mit abwesendem Ausdruck über Brockmann weg, so verträumt, als höre er dessen Frage gar nicht. Erst nach einer halben Minute antwortete er leise und ohne Überzeugungskraft:
»Nein.«
»Ich gebe Ihnen zu bedenken, daß alle Indizien mit geradezu erdrückender Wucht auf Sie als den Täter hinweisen. Bei dem Ermordeten sind fünf von Ihnen ausgestellte Wechsel gefunden worden und die dritte Hypothek auf Ravenhorst. Die Hypothek war Ihnen zum ersten Mai gekündigt?«
»Jawohl.«
»Die Wechsel würden Ihnen wahrscheinlich einer nach dem andern vorgelegt und jede Prolongation abgelehnt worden sein.«
Ilefeld warf eine Haarlocke, die ihm in die Stirn fiel, zurück.
190 »Ja, vermutlich.«
»Sie geben zu, ein solches Vorgehen von seiten Heesemanns erwartet zu haben?«
»Nachdem er Geld ausgegeben hatte, um eine Hypothek an sich zu bringen, die bei der Subhastation ausfallen mußte, konnte ich mir wohl sagen, daß er auch die Wechsel kaufen würde. Der Mann tat nichts halb. Von seinem Standpunkt aus hatte er sogar recht: er oder ich, einer von uns mußte fort.«
»Sie hatten ihn am 28. Oktober zum Zweikampf fordern lassen? Und er hatte abgelehnt?«
»Ja.«
»War Frau von Heesemann der Grund der Forderung?«
»Frau von Heesemann hat keinesfalls mit dem Mord etwas zu schaffen. Ich bitte dringend, nicht ohne zwingende Notwendigkeit ihren Namen in diese Verhandlungen zu ziehen.«
»Ob eine Notwendigkeit vorliegt, darüber zu entscheiden, ist meine Sache. Antworten Sie: War Frau von Heesemann der Grund Ihrer Forderung?«
Ilefeld sah dem Staatsanwalt fest in die Augen.
»Nein!«
»Aber während eines Treibens bei der Jagd auf Hohorst am 27. Oktober haben Sie eine Unterredung unter vier Augen mit ihr gehabt?«
»Nein!«
»Sie haben Frau von Heesemann dann abermals getroffen am Nachmittag des 3. November zwischen ½5 und ½6 Uhr im Wald von Seebergen. Ist dem so?«
Zum dritten Male sagte Ilefeld sein trotziges »Nein!«
191 »Sie täten besser, nicht Dinge zu leugnen, die klar erwiesen sind. Eine einwandfreie Zeugin hat Sie am Sonnabend nachmittag mit Frau von Heesemann im Wald von Seebergen beobachtet. Sie hat auch gehört, wie Frau von Heesemann von Ihnen verlangte, daß Sie sie von Ihrem Mann befreien sollten.«
Ilefeld unterbrach zum ersten Male lebhaft. »Ihre einwandfreie Zeugin lügt! Zu keiner Zeit, in keiner Form hat Frau von Heesemann das von mir verlangt.«
»Sagen wir also: gewünscht, die Hoffnung ausgesprochen« –
»Nicht in die Gedanken ist es ihr gekommen, geschweige denn auf die Lippen!«
»Sie geben aber zu, am Nachmittag des 3. November im Seeberger Wald mit Frau von Heesemann gesprochen zu haben?«
»Ich gebe gar nichts zu.«
»Sie sind an jenem Tage um 4 Uhr in Neudorf aus dem Zug gestiegen. Um 7 Uhr 15 stiegen Sie in Scharndorf wieder ein. Wo sind Sie zwischen 4 und 7 Uhr 15 Minuten gewesen?«
»Ich bin spazierengegangen.«
»Sie verweigern somit, Auskunft darüber zu geben, wo Sie sich in jenen drei Stunden aufgehalten, was Sie darin getan haben?«
»Ja.«
»Ich brauche Sie nicht darauf aufmerksam zu machen, daß Sie durch solche Weigerung Ihre Lage Ihren Richtern gegenüber verschlechtern.«
Ilefeld verneigte sich.
»Sie trafen auf dem Bahnhof von Scharndorf Herrn von Heesemann. Als Sie ihn erblickten, rissen 192 Sie einen Stock aus dem nächsten Beet und wollten sich auf ihn stürzen.«
»Das leugne ich nicht.«
»Herr Botho von Seekamp und Herr von Tielen hielten Sie gewaltsam zurück. Sie stiegen dann in denselben Wagen, in dem Herr von Heesemann fuhr, nur in ein Abteil zweiter Klasse.«
»Ja.«
»Sämtliche Abteile waren im übrigen leer. In dem ganzen Wagen waren die einzigen Reisenden Sie und Herr von Heesemann, den Sie schon auf dem Bahnhof niederschlagen wollten.«
»Ja.«
Der Staatsanwalt öffnete einen kleinen Kasten, legte einen dunkelroten Handschuh auf den Tisch.
»Kennen Sie den?«
»Es ist mein Handschuh.«
»Sie stiegen in das Abteil zweiter Klasse am einen Ende des Wagens. Dieser Handschuh lag auf der Schwelle des Abteils erster Klasse am anderen Ende.«
»Mag sein.«
»Sie sind also, während der Zug fuhr, von dem Abteil, in dem Sie saßen, durch die zwei leeren mittleren Abteile bis zur ersten Klasse gegangen, in der Heesemann saß.«
»Wahrscheinlich.«
»Sie gestehen das ein?«
»Ja.«
»Und dann haben Sie die Coupétür geöffnet und Herrn von Heesemann erschlagen?«
»Nein.«
193 »Nein?! – Wie soll er denn ums Leben gekommen sein?«
»Weiß ich nicht.«
»Sie behaupten, nicht zu wissen, wie er gestorben ist? War denn außer Ihnen und Heesemann noch ein Reisender im Wagen?«
»Nein.«
»Oder haben Sie vielleicht irgend etwas Verdächtiges bemerkt?«
»Einen Schatten.«
»Einen Schatten? Wo?«
»Er glitt am Fenster vorüber.«
»Ein Schatten glitt am Fenster vorüber? Während der Fahrt?«
»Ja.«
»Und da nehmen Sie an, dieser Schatten habe die Tür des Coupés erster Klasse von außen geöffnet, sei eingestiegen, habe den im Coupé sitzenden Heesemann erschlagen, hinausgeworfen und sei dann wieder vom Zug abgesprungen?«
Ilefeld schwieg hochmütig.
»Haben Sie denn das Öffnen einer Tür gehört?«
»Nein.«
»Einen Schrei? – Kampfeslärm?«
»Nein.«
»Und wie sah der wunderbare Schatten aus, den Sie bemerkt haben wollen?«
»Wie ein Schatten.«
Brockmann wurde heftig. »Sie haben eine sehr merkwürdige Weise, meine Fragen zu beantworten.«
»Ich bin gewohnt, daß man mir glaubt. Ich sehe, Sie tun es nicht.«
194 »Herr von Ilefeld, wollen Sie angesichts all der Tatsachen, die für Ihre Schuld sprechen und die Sie selbst zugeben, noch immer leugnen, Herrn von Heesemann getötet zu haben?«
»Ja.«
Der Staatsanwalt betrachtete Ilefeld mit einem dunklen Blick.
»Sonst haben Sie mir nichts zu sagen?«
»Nein.«
Ilefeld wurde in das Untersuchungsgefängnis zurückgeführt. Aber schon am Nachmittag kam Botho von Seekamp von Annenhof, um im Auftrage einiger Standesgenossen – wie er sagte – eine Kaution von 200 000 Mark für den Ravenhorster Herrn zu hinterlegen.
Unter Zustimmung der Staatsanwaltschaft wurde also Wolf Ilefeld gegen Stellung dieser Kaution vorläufig wieder aus der Haft entlassen. Der Polizeidirektor hatte die Behörden aller Dörfer und Flecken zur Nachforschung nach dem Mörder des Herrn von Heesemann aufgerufen. Die Gendarmerie des ganzen Landes war in Bewegung gesetzt worden. Aber keine neue Spur wurde gefunden. 195