Vineta
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Die Bewohner von Altenhof hatten eine Woche voll Angst und Sorge durchlebt. Als Herr Witold an jenem Abend zurückkam, fand er das ganze Haus in Aufruhr. Doktor Fabian lag blutend und noch immer bewußtlos in seinem Zimmer, während Waldemar, mit einem Gesicht, das den Pflegevater fast noch mehr erschreckte, als das Aussehen des Verwundeten, sich bemühte, das Blut zu stillen. Von ihm war nichts weiter herauszubringen, als daß er die Schuld an dem Unglück trage, und so blieb der Gutsherr größtenteils auf den Bericht der Dienstleute angewiesen. Von ihnen erfuhr er, daß der junge Herr mit einbrechender Dämmerung angelangt war, den Verletzten, den er die ganze Strecke getragen haben mußte, in den Armen, und sofort Boten nach dem zunächst wohnenden Arzte gejagt hatte. Eine Viertelstunde später war auch das Pferd eingetroffen, erschöpft und mit allen Spuren eines heftigen Rittes. Das Tier hatte den wohlbekannten Weg allein nach Hause zurückgelegt, als es sich von seinem Herrn verlassen sah; weiter wußten die Leute nichts. Der bald darauf eintreffende Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht bei der Untersuchung. Die Kopfwunde, die offenbar von einem Hufschlag herrührte, schien bedenklicher Art zu sein, und der starke Blutverlust und die schwächliche Konstitution des Verwundeten ließen eine Zeit lang das Schlimmste befürchten. Herr Witold, der bei seiner eigenen und Waldemars kerngesunden Natur bisher nie gewußt hatte, was Krankheit und Sorge eigentlich sei, schwor oft genug, daß er für alle Schätze der Welt diese Tage nicht noch einmal durchleben möchte. Heute zum erstenmal zeigte das Gesicht des Gutsherrn wieder seinen gewöhnlichen, derb gutmütigen und unbekümmerten Ausdruck, als er in dem Zimmer des Kranken an dessen Bett saß.

»Also das Schlimmste hätten wir glücklich überstanden,« sagte er. »Und nun, Doktor, thun Sie mir den Gefallen und setzen Sie dem Waldemar den Kopf zurecht!« Er zeigte auf seinen Pflegesohn, der am Fenster stand und, die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, auf den Hof hinausblickte. »Ich richte nichts mit ihm aus. Sie können jetzt alles bei ihm durchsetzen; also bringen Sie ihn zur Vernunft! Der Junge geht mir sonst noch zu Grunde an der unglückseligen Geschichte.«

Doktor Fabian, der eine breite weiße Binde um die Stirn trug, sah noch sehr angegriffen aus, aber er saß doch schon wieder aufrecht in die Kissen gelehnt, und seine Stimme klang, wenn auch noch etwas matt, doch vollkommen klar, als er fragte: »Was soll denn Waldemar?«

»Vernünftig sein!« erklärte Witold mit Nachdruck. »Und Gott danken, daß die Geschichte noch so abgelaufen ist; statt dessen plagt er sich damit herum, als hätte er wirklich einen Mord auf dem Gewissen. Ich habe wahrhaftig auch Angst genug ausgestanden während der ersten Tage, wo Ihr Leben an einem Haar hing, aber jetzt, wo der Arzt Sie außer Gefahr erklärt hat, kann man doch wieder aufatmen. Was zuviel ist, ist zuviel, und ich halte es nicht aus, wenn mir der Junge noch länger mit solchem Gesicht herumgeht und stundenlang kein Wort spricht.«

»Aber ich habe es Waldemar ja schon so oft versichert, daß ich allein die Schuld an dem Unfall trage,« sagte der Doktor. »Er war ja in vollem Kampf mit dem Pferde begriffen und konnte es nicht sehen, daß ich so nahe stand. Ich war so unvorsichtig, dem Tiere in die Zügel zu greifen, und da riß es mich nieder.«

»Sie sind dem ›Normann‹ in die Zügel gefallen?« rief der Gutsherr, starr vor Staunen. »Sie, der Sie jedem Pferde zehn Schritte aus dem Wege gehen und der wilden Bestie vollends niemals zu nahen wagten? Wie kamen Sie denn dazu?«

Fabian sah zu seinem Zögling hinüber. »Ich hatte Furcht vor einem Unglück,« entgegnete er sanft.

»Das auch ohne Frage erfolgt wäre,« ergänzte Witold. »Waldemar muß an dem Abend seine fünf Sinne nicht recht beisammen gehabt haben. An der Stelle über den Graben setzen zu wollen, noch dazu mit einem halbtot gejagten Pferde und bei einbrechender Dämmerung! Ich habe es ihm immer gesagt, er würde noch einmal ein Unglück anrichten mit seiner Wildheit; nun hat er eine Lehre bekommen – freilich, er nimmt sie sich doch etwas gar zu sehr zu Herzen. Also, Doktor, lesen Sie ihm ordentlich den Text – das Sprechen ist Ihnen ja jetzt wieder erlaubt –, und dann reden Sie ihm zu, vernünftig zu sein! Ihnen folgt er jetzt aufs Wort, das weiß ich.«

Damit stand der Gutsherr auf und verließ das Zimmer. Die beiden Zurückgebliebenen schwiegen eine Weile; endlich begann der Doktor: »Haben Sie gehört, Waldemar, was mir aufgetragen wurde?«

Der junge Mann, der bisher schweigend und teilnahmlos am Fenster gestanden hatte, als berühre ihn das Gespräch gar nicht, wendete sich sofort um und trat an das Bett. Auf den ersten Blick schien die Besorgnis Witolds übertrieben; eine Natur wie die Waldemars unterlag nicht so leicht seelischen Einflüssen. Er war nur etwas bleicher als sonst; wer ihn aber genauer ansah, der bemerkte doch die Veränderung. Es stand ein fremder Zug in seinem Gesicht, der etwas geradezu Beängstigendes hatte; eine eigentümliche Starrheit lag darin, in der jede andre Regung erstorben zu sein schien. Vielleicht war es auch nur der Panzer, mit dem eine furchtbar aufgereizte Empfindung sich gegen die Außenwelt abschloß, aber auch die Stimme hatte nicht mehr den vollen kräftigen Klang; sie war matt und tonlos, als er erwiderte:

»Hören Sie doch nicht auf den Onkel! Mir ist ja nichts.«

Doktor Fabian ergriff mit beiden Händen die Rechte seines Zöglings, was dieser widerstandslos geschehen ließ.

»Herr Witold meint, Sie machten sich immer noch Vorwürfe wegen des Unfalles, der mich betroffen. Das können Sie aber doch jetzt nicht mehr, wo jede Gefahr beseitigt ist und die Schmerzen nur noch äußerst gering sind. – Ich fürchte, es handelt sich um etwas andres.«

Die Hand des jungen Mannes zuckte in der seines Lehrers. Er wendete das Gesicht ab.

»Ich habe diesen Punkt noch nicht zu berühren gewagt,« fuhr Fabian zaghaft fort. »Ich sehe, daß es Ihnen auch jetzt noch Pein verursacht. Soll ich schweigen?«

Ein tiefer Atemzug rang sich aus Waldemars Brust empor.

»Nein! Ich muß Ihnen ohnedies noch dafür danken, daß Sie dem Onkel die Wahrheit verschwiegen. Er hätte mich zu Tode gemartert mit seinen Fragen, und ihm hätte ich doch nicht Rede gestanden. Ihnen hat meine Stimmung an jenem Abend beinahe das Leben gekostet; Ihnen kann und will ich nicht ableugnen, was Sie ja schon wissen.«

»Ich weiß nichts,« versetzte der Doktor mit bekümmerter Miene. »Ich hege nur Vermutungen nach der Scene, die ich mitansah. Waldemar, um Gottes willen, was ist damals vorgefallen?«

»Eine Kinderei,« sagte Waldemar bitter. »Eine bloße Thorheit, die es gar nicht verdient, daß man sie ernst nimmt – so schrieb mir meine Mutter wenigstens vorgestern. Ich habe es aber nun einmal ernst genommen, so furchtbar ernst, daß es mir ein Stück von meinem Leben gekostet hat, das beste vielleicht.«

»Sie lieben die Gräfin Morynska?« fragte der Doktor leise.

»Ich habe sie geliebt. Das ist vorbei. Ich weiß jetzt, daß sie nur ein erbärmliches Spiel mit mir getrieben hat – jetzt bin ich fertig mit ihr und mit meiner Liebe.«

Fabian schüttelte den Kopf, während sein Blick mit tiefer Besorgnis auf den Zügen des jungen Mannes haftete. »Fertig? Sie sind es noch lange nicht. Ich sehe es nur zu gut, wie schwer Sie noch in diesem Augenblick leiden.«

Waldemar fuhr mit der Hand über die Stirn. »Das wird vorübergehen. Habe ich es ertragen, so werde ich es auch überwinden, und überwinden will ich's um jeden Preis. Nur noch eine Bitte: schweigen Sie auch ferner gegen den Onkel und – gegen mich. Ich werde die Schwäche niederkämpfen, das weiß ich, aber sprechen kann ich nicht darüber, auch mit Ihnen nicht. Lassen Sie mich das mit mir allein ausmachen – um so eher ist es begraben.«

Seine zückenden Lippen verrieten, welche Qual ihm jede Berührung der Wunde schuf; der Doktor sah, daß er davon abstehen mußte.

»Ich schweige, wie Sie es wünschen,« versicherte er. »Sie sollen auch in Zukunft nie wieder ein Wort darüber hören.«

»In Zukunft?« wiederholte Waldemar. »Wollen Sie denn überhaupt noch bei mir bleiben? Ich habe angenommen, Sie würden uns gleich nach Ihrer Genesung verlassen. Ich kann Ihnen doch nicht zumuten, bei einem Zögling auszuhalten, der Ihre Angst und Sorge um ihn damit vergalt, daß er Sie niederritt.« Der Doktor faßte wieder beschwichtigend die Hände des jungen Mannes. »Als ob ich nicht wüßte, daß Sie an meinem Krankenbett weit mehr ausgestanden haben, als ich selber! Ein Gutes hat die Krankheit doch gehabt: sie hat mir eine Ueberzeugung gegeben, die ich – verzeihen Sie! – bisher nicht hegte. Ich weiß jetzt, daß Sie ein Herz haben.«

Waldemar schien die letzten Worte kaum zu hören; er blickte finster vor sich hin. »In einem hat der Onkel recht,« sagte er plötzlich. »Wie kamen Sie dazu, dem Normann in die Zügel zu fallen, gerade Sie?«

Fabian lächelte. »Sie meinen, weil meine Furchtsamkeit allbekannt ist? Die Angst um Sie war es, die mich auch einmal mutig sein ließ. Ich hatte Sie freilich schon öfter ähnliche Tollkühnheiten ausführen sehen und es doch nie gewagt, einzugreifen, aber ich wußte dann stets, daß Sie der Gefahr gewachsen waren, die Sie bezwingen wollten. An jenem Abend galt es nicht der Gefahr – Sie wollten den Sturz erzwingen, Waldemar. Ich sah, daß Sie ihn herbeiwünschten, sah, daß er Ihnen den Tod bringen würde, wenn ich Sie nicht mit Gewalt zurückhielt – und da vergaß ich selbst meine Furcht und griff in die Zügel.«

Waldemar richtete das Auge groß und erstaunt auf den Sprechenden. »Es war also nicht bloße Unvorsichtigkeit, nicht ein unglücklicher Zufall, daß Sie niedergerissen wurden? Sie kannten die Gefahr, der Sie sich aussetzten? Liegt Ihnen denn überhaupt etwas an meinem Leben? Ich glaubte, es frage niemand danach.«

»Niemand! Und Ihr Pflegevater?«

»Onkel Witold – ja, der vielleicht! Er ist aber auch der einzige.«

»Ich meine Ihnen doch bewiesen zu haben, daß er nicht der einzige ist,« sagte der Doktor mit leisem Vorwurf.

Der junge Mann beugte sich über ihn. »Und ich habe es doch gerade um Sie am wenigsten verdient. Aber glauben Sie mir, Herr Doktor, ich habe eine harte Lehre erhalten, so hart, daß ich sie mein Leben lang nicht wieder vergessen werde. Seit der Stunde, in der ich Sie blutend nach Hause trug, seit den beiden ersten Tagen, in welchen der Arzt Sie verloren gab, weiß ich, wie einem Mörder zu Mute ist. Wenn Sie wirklich bei mir bleiben wollen, jetzt können Sie es wagen. An Ihrem Schmerzenslager habe ich den wilden Jähzorn abgeschworen, der mich blind macht gegen alles, was mir in den Weg tritt. Sie sollen nicht mehr über mich klagen.« Die Worte hatten wohl wieder etwas von der alten Energie, aber Doktor Fabian schaute doch sorgenvoll in das Antlitz seines Zöglings, das sich über ihn neigte. »Ich wollte, Sie sagten mir das mit einem andern Gesicht,« erwiderte er. »Es ist ja keine Frage, daß ich bei Ihnen bleibe, aber ich ertrüge viel lieber Ihr früheres ungestümes Wesen, als diese dumpfe, unheimliche Ruhe. Ihr Auge gefällt mir gar nicht.«

Mit einer raschen Bewegung richtete sich Waldemar empor und entzog sich der Beobachtung. »Wir wollen nicht immer und ewig nur von mir sprechen. Der Arzt hat Ihnen ja die frische Luft wieder erlaubt – soll ich das Fenster öffnen?«

Der Doktor seufzte; er sah, daß hier nichts auszurichten war; überdies wurde das Gespräch jetzt durch Herrn Witold unterbrochen.

»Da bin ich schon wieder,« sagte er eintretend. »Waldemar, du wirst wohl herunterkommen müssen; der junge Fürst Baratowski ist da.«

»Leo?« fragte Waldemar in sichtlicher Ueberraschung.

»Jawohl, er verlangt dich zu sprechen, und dabei werde ich wohl überflüssig sein. Geh nur! Ich leiste inzwischen unserm Doktor Gesellschaft.«

Der junge Mann verließ das Zimmer, wahrend Witold seinen früheren Platz am Bette wieder einnahm.

»Die Baratowski haben gewaltige Eile, ihn wieder zu bekommen,« sprach er mit Bezug auf seinen Pflegesohn. »Schon vor drei Tagen kam ein Brief der gnädigen Frau Mama an, – Waldemar hat ihn meines Wissens nicht beantwortet; er war ja überhaupt nicht von Ihrem Krankenbette wegzubringen – und jetzt erscheint der Herr Bruder in eigener Person. Diese junge Polenpflanze ist übrigens ein recht nettes Gewächs. Ein bildhübscher Junge! Nur leider seiner Mutter wie aus den Augen geschnitten, und das setzt ihn bei mir von vornherein in Mißkredit. Dabei fällt mir ein, ich habe Sie noch gar nicht einmal gefragt, wie es eigentlich mit Ihren Entdeckungen in C. steht. In der Angst um Sie hatte ich die Sache ganz und gar vergessen.«

Doktor Fabian sah vor sich nieder und zupfte verlegen an der Decke. »Ich kann Ihnen darüber leider gar nichts berichten, Herr Witold,« erwiderte er. »Mein Aufenthalt in C. war doch zu kurz und flüchtig, und ich sagte es Ihnen ja vorher, daß ich« – er lächelte wehmütig – »weder Geschick noch Glück zum Diplomaten habe.«

»Sie meinen das Loch in Ihrem Kopfe?« fragte der Gutsherr. »Nun, das hing doch eigentlich mit der Geschichte gar nicht zusammen, aber ich will Sie künftig nicht mehr mit solchen Aufträgen plagen. Also Sie haben nichts herausbekommen, schade! Und wie steht es mit Waldemar? Haben Sie ihm einen tüchtigen Sermon gehalten?«

»Er hat mir versprochen, sich das Geschehene aus dem Sinne zu schlagen.«

»Gott sei Dank! Ich sage es ja, Sie können jetzt alles mit ihm ausrichten. Uebrigens, Doktor, haben wir dem Jungen beide unrecht gethan, wenn wir meinten, er hätte überhaupt kein Gefühl. Ich dachte nie, daß ihm die Geschichte so zu Herzen gehen würde.«

»Ich auch nicht,« sagte der Doktor mit einem Seufzer und mit einer Beziehung, die Herrn Witold natürlich entging. –

Waldemar fand beim Eintritt in das Eckzimmer den Bruder seiner harrend. Der junge Fürst, dem schon bei seiner Ankunft das altertümliche, etwas niedrige Wohnhaus und die entsprechenden Hofgebäude aufgefallen waren, musterte jetzt mit äußerstem Befremden die einfache Einrichtung des Gemaches, in das man ihn gewiesen. Er war seit frühester Jugend an vornehme und elegante Umgebungen gewöhnt und begriff nicht, wie sein Bruder, dessen Reichtum er ja kannte, hier überhaupt ausdauern konnte. Der Salon der Mietwohnung in C., der ihm und der Fürstin erbärmlich schien, war ja prachtvoll zu nennen gegen dieses Empfangszimmer von Altenhof. Doch all diese Erwägungen verschwanden beim Erscheinen Waldemars. Leo ging ihm entgegen und sagte hastig, als wolle er sich so rasch wie möglich einer unangenehmen Notwendigkeit entledigen: »Mein Kommen befremdet dich? Du hast aber seit acht Tagen unser Haus nicht betreten und nicht einmal den Brief der Mama beantwortet; da blieb mir wohl nichts andres übrig, als dich aufzusuchen.«

Es war nicht schwer, zu sehen, daß der junge Mann bei diesem Besuche nicht aus eigenem Antrieb handelte; sein Gruß und seine Haltung hatten etwas entschieden Gezwungenes; er schien dem Bruder die Hand reichen zu wollen, aber so weit konnte er sich offenbar nicht überwinden; es blieb bei dem bloßen Versuche dazu.

Waldemar bemerkte das nicht oder wollte es nicht bemerken. »Du kommst auf Befehl der Mutter?« fragte er.

Leo errötete. Er wußte am besten, welchen Kampf es der Fürstin gekostet hatte, ehe sie diesen Besuch erzwang, für den sie schließlich ihre ganze Autorität einsetzen mußte.

»Ja,« entgegnete er endlich.

»Es thut mir leid, Leo, daß du zu etwas veranlaßt worden bist, was du notwendig als eine Demütigung empfinden mußt. Ich hätte es dir unbedingt erspart, wenn ich davon gewußt hätte.«

Leo blickte überrascht auf; der Ton war ihm so neu wie die Rücksichtnahme auf seine Empfindungen von dieser Seite.

»Die Mama behauptet, du seist in unserm Hause beleidigt worden,« nahm er wieder das Wort. »Durch mich beleidigt, und deshalb müßte ich den ersten Schritt zur Versöhnung thun. Ich habe eingesehen, daß sie recht hat. Du glaubst mir doch, Waldemar,« – seine Stimme nahm einen erregten Ton an – »daß ich ohne diese Ueberzeugung den Schritt nie gethan hätte, niemals?«

»Ich glaube dir,« war die kurze aber bestimmte Antwort.

»Nun, so mache mir die Abbitte auch nicht so schwer!« rief Leo, indem er jetzt wirklich die Hand ausstreckte, doch der Bruder wies sie zurück.

»Ich kann deine Abbitte nicht annehmen. Weder die Mutter noch du bist schuld an der Beleidigung, die mir in eurem Hause widerfuhr. Sie ist übrigens bereits vergessen. Sprechen wir nicht mehr davon!«

Leos Erstaunen wuchs mit jeder Minute; er konnte sich in diese kühle Ruhe nicht finden, die er so gar nicht erwartet hatte. War er doch selbst Zeuge der furchtbaren Aufregung Waldemars gewesen, und jetzt lagen kaum acht Tage dazwischen.

»Ich glaubte nicht, daß du so schnell vergessen könntest,« erwiderte er mit unverstellter Betroffenheit.

»Wo ich verachten muß – allerdings!«

»Waldemar, das ist zu hart,« fuhr Leo auf, »Du thust Wanda unrecht; sie hat mir eigens aufgetragen, dir –«

»Willst du es mir nicht lieber ersparen, die Botschaft der Gräfin Morynska zu hören?« schnitt ihm der Bruder das Wort ab. »Es handelt sich hier doch wohl um meine Auffassung der Sache, und die weicht durchaus von der eurigen ab. Doch lassen wir das! – Die Mutter erwartet wohl nicht, daß ich ihr persönlich lebewohl sage. Sie wird es begreifen, daß ich für jetzt noch ihr Haus meide und auch in diesem Herbste nicht nach Wilicza komme, wie wir ausgemacht hatten. Vielleicht im nächsten Jahre.«

Der junge Fürst trat mit finsterer Miene einen Schritt zurück. »Du wirst doch nicht etwa meinen, daß wir nach diesem Zerwürfnisse, nach dieser eiskalten Abweisung, die ich von dir erfahren muß, noch deine Gäste sein können?« fragte er gereizt.

Waldemar kreuzte die Arme und lehnte sich an das Schreibpult. »Du irrst; von einem Zerwürfnisse zwischen uns ist keine Rede. Die Mutter hat jenen Vorfall in ihrem Briefe an mich auf das entschiedenste mißbilligt. Du hast es durch dein Einschreiten noch mehr gethan, und wenn mir noch eine formelle Genugthuung fehlte, so gibst du sie mir jetzt durch dein Kommen. Was hat denn überhaupt die ganze Sache mit eurem Aufenthalt auf meinen Gütern zu thun? Du hast freilich dem Plane von jeher widerstrebt – ich weiß es. Weshalb?«

»Weil er mich demütigt. Und was mir früher peinlich war, ist mir jetzt vollends unmöglich geworden. Mag die Mama beschließen, was sie für gut findet, ich setze keinen Fuß –«

Waldemar legte begütigend die Hand auf seinen Arm, »Sprich das nicht aus, Leo! Das übereilte Wort könnte dir später einen Zwang auferlegen. Um dich handelt es sich hier ganz und gar nicht. Ich habe meiner Mutter den Wohnsitz in Wilicza angeboten, und sie hat ihn angenommen. Es war das, wie die Verhältnisse nun einmal liegen, einfach meine Pflicht. Ich kann und darf ihren dauernden Aufenthalt bei Fremden nicht zugeben, ohne mich selbst zu beschämen; es bleibt also bei dem Plane. Du gehst ja übrigens zur Universität und kommst höchstens in den Ferien nach Wilicza, um die Mutter zu sehen, und was sie mit ihrem Stolze vereinbar findet, wirst du wohl auch ertragen können.«

»Aber ich weiß, daß es sich dabei um unsre ganze Existenz handelt,« brach Leo aus. »Ich habe dich beleidigt; ich sehe es jetzt ein, und da kannst du doch nicht verlangen, daß ich alles aus deiner Hand nehmen soll.«

»Du hast mich nicht beleidigt,« sagte Waldemar ernst. »Im Gegenteil, du allein bist wahr gegen mich gewesen, und wenn mich das im Augenblick auch kränkte, jetzt danke ich es dir. Du hättest nur früher sprechen sollen, aber freilich, ich konnte von dir nicht fordern, den Denunzianten zu machen, und begreife, daß nur die Leidenschaft des Augenblicks dich zu der Eröffnung fortreißen konnte. Dein Dazwischentreten hat ein Netz zerrissen, in welchem ich gefangen lag, und du glaubst doch nicht, daß ich Schwächling genug bin, das zu beklagen? – Zwischen uns beiden hat alle Feindschaft ein Ende.«

Leo kämpfte zwischen Trotz und Beschämung. Er wußte recht gut, daß nur seine eigene Eifersucht ihn angetrieben hatte, und fühlte seine Mitschuld um so tiefer, je mehr man ihn davon entlasten wollte. Er hatte sich auf eine heftige Scene mit dem Bruder gefaßt gemacht, dessen Ungestüm er hinlänglich kannte; jetzt stand er ihm völlig fassungslos gegenüber. Der junge Fürst war noch zu wenig Menschenkenner, um zu sehen oder auch nur zu ahnen, was sich hinter dieser unbegreiflichen Ruhe Waldemars barg und was sie diesem kostete; er nahm sie für Wahrheit. Was er aber klar empfand, war das Bemühen des Bruders, ihn und die Fürstin das Vorgefallene nicht büßen zu lassen, ihnen trotz alledem den Aufenthalt auf seinen Gütern zu ermöglichen. Leo wäre unter ähnlichen Umständen einer gleichen Großmut vielleicht nicht fähig gewesen, aber ebendeshalb fühlte er sie in ihrem ganzen Umfange.

»Waldemar, es thut mir leid, was geschehen ist,« sagte er, ihm freimütig die Hand hinstreckend, und diesmal hatte die Bewegung nichts Gezwungenes mehr; sie kam aus vollem Herzen – diesmal ergriff der Bruder auch die dargebotene Rechte.

»Versprich mir, die Mutter nach Wilicza zu begleiten! Ich bitte dich darum,« fuhr er ernster fort, als Leo widersprechen wollte, »und wenn du wirklich glaubst, mich beleidigt zu haben, so fordere ich von dir diesen Dienst als Preis der Versöhnung.«

Leo senkte das Haupt; er gab den Widerstand auf. »Du willst also der Mutter nicht selbst lebewohl sagen?« fragte er nach einer Pause. »Das wird sie schmerzen.«

Ein unendlich bitteres Lächeln schwebte um Waldemars Mund, als er erwiderte: »Sie wird es zu ertragen wissen. Leb wohl, Leo! Es freut mich, daß ich wenigstens dich noch einmal gesehen habe.«

Der junge Fürst blickte eine Sekunde lang in das Gesicht seines Bruders, dann legte er wie in plötzlicher Aufwallung die Arme um seinen Hals. Waldemar duldete die Umarmung schweigend, aber er erwiderte sie nicht, und doch war es die erste zwischen ihnen.

»Lebe wohl!« sagte Leo erkältet, indem er die Arme wieder sinken ließ.

Einige Minuten später rollte der Wagen, der den jungen Baratowski gebracht hatte, wieder aus dem Hofe und Waldemar kehrte in das Zimmer zurück. Wer ihn jetzt sah, mit diesen zuckenden Lippen, mit den qualvoll gespannten Zügen und dem starren, düsteren Blicke, der wußte, welche Bewandtnis es mit der Ruhe und Kälte hatte, die er während der ganzen Unterredung gezeigt. Sein tödlich verwundeter Stolz hatte sich aufgerafft; Leo durfte nicht sehen, daß er litt, durfte am allerwenigsten das in C. berichten, jetzt aber bedurfte es der Selbstbeherrschung nicht mehr; jetzt blutete die Wunde wieder. Stürmisch und gewaltsam, wie der ganze Charakter Waldemars, war auch seine Liebe gewesen, das erste Gefühl, das sich in dem vereinsamten, verwilderten Jüngling regte. Er hatte Wanda mit der vollen Glut der Leidenschaft geliebt, aber auch mit der ganzen Anbetung der ersten reinsten Neigung, und wenn er auch nicht zu Grunde ging an dem Bewußtsein, sich verhöhnt zu wissen, die Stunde, in der sein Jugendideal ihm zertrümmert wurde, kostete ihn doch manches andre – die Jugend selbst und das Vertrauen zu den Menschen.

Schloß Wilicza, das der ganzen zu ihm gehörigen Herrschaft seinen Namen lieh, bildete, wie schon erwähnt, den Mittelpunkt eines großen Güterkomplexes, der nicht weit von der Grenze des Landes lag. Wohl selten mochte sich ein so ausgedehntes Besitztum in den Händen eines einzelnen befinden, und noch seltener mochte es vorkommen, daß der Besitzer sich so wenig darum kümmerte, wie es hier der Fall war. Wilicza hatte von jeher der einheitlichen und einsichtsvollen Leitung entbehrt; der verstorbene Nordeck war eben nur Spekulant und hatte als solcher sein Vermögen erworben. Den Großgrundbesitzer zu spielen verstand er weder in gesellschaftlicher noch in praktischer Hinsicht; er war fast gänzlich von seinen Beamten abhängig. Der Sorge für die einzelnen Güter und Vorwerke wußte er sich durch Verpachtung derselben zu entledigen; sie befanden sich noch jetzt in den Händen verschiedener Pächter, nur Wilicza selbst, sein eigener Wohnsitz, wurde davon ausgenommen und der Verwaltung eines Administrators übergeben. Der Hauptreichtum der Güter aber bestand in den ausgedehnten Forsten, die fast zwei Drittel der ganzen Herrschaft einnahmen und ein ganzes Heer von Forstleuten zur Aufsicht nötig hatten. Sie bildeten einen eigenen Verwaltungszweig für sich, und aus ihnen hauptsächlich stammten die riesigen Einnahmen, die dem Besitzer zuflossen.

Der Vormund des minderjährigen Erben, der nach dem Tode Nordecks an dessen Stelle trat, hatte die sämtlichen früheren Einrichtungen bestehen lassen, teils aus Pietät für den Verstorbenen, teils weil er sie für durchaus zweckmäßig hielt. Herr Witold war ein ganz vortrefflicher Landwirt für das nicht sehr bedeutende Altenhof, das er selbst bewirtschaftete und wo alle Kleinigkeiten durch seine Hände gingen. Den großartigen Verhältnissen Wiliczas zeigte er sich in keiner Weise gewachsen; ihm fehlte jeder Ueberblick, jeder Maßstab dafür. Er glaubte seiner Pflicht im vollsten Maße nachzukommen, wenn er die vorgelegten Rechnungen und Belege, die er natürlich auf Treue und Glauben hinnehmen mußte, sorgfältig prüfte, die eingehenden Summen gewissenhaft im Interesse seines Mündels anlegte und im übrigen die Beamten schalten und walten ließ, wie es ihnen beliebte. Einen andern Besitzer hätte diese Art der Bewirtschaftung vielleicht ruiniert, dem Nordeckschen Vermögen konnte sie allzu großen Schaden nicht zufügen, denn wenn dabei auch Tausende zu Grunde gingen, so blieben immer noch Hunderttausende übrig, und die großen Einkünfte der Herrschaft, von denen der junge Erbe nur zum kleinsten Teile Gebrauch machen konnte, deckten nicht allein jeden etwaigen Ausfall, sondern ließen auch das Vermögen selbst immer mehr anschwellen. Daß die Güter unter solchen Verhältnissen nicht das werden konnten, was sie in tüchtigen Händen geworden wären, stand fest, aber danach fragte der Vormund wenig und der junge Nordeck that es noch weniger. Er war sogleich nach seiner Mündigkeitserklärung auf die Universität und später auf Reisen gegangen und hatte Wilicza, das er überhaupt nicht zu lieben schien, seit Jahren nicht betreten.

Das Schloß selbst stand im schärfsten Gegensatz zu den Edelsitzen der Nachbarschaft, die mit wenigen Ausnahmen kaum den Namen von Schlössern verdienten, und wo oft genug ein gewisser äußerer Glanz, den man um jeden Preis festhalten wollte, den Verfall und die Verkommenheit nicht zu decken vermochte. Wilicza verleugnete auch in seiner äußeren Erscheinung nicht den alten Fürsten- und Grafensitz, der fast zwei Jahrhunderte überdauert hatte. Es stammte noch aus der Glanzzeit des Landes, wo die Macht des Adels mit seinem Reichtum Hand in Hand ging und seine Wohnsitze die Schauplätze einer Pracht und Ueppigkeit waren, wie sie unsre Zeit kaum mehr kennt. Das Schloß konnte nicht eigentlich für schön gelten und hätte vor einem künstlerischen Auge schwerlich Gnade gefunden. Der Geschmack, der es schuf, war unleugbar ein roher gewesen, aber es imponierte doch durch die Massigkeit seiner Formen und die Großartigkeit der ganzen Anlage. Trotz all der Veränderungen, die es im Lauf der Jahre erfahren hatte, war ihm sein ursprünglicher Charakter erhalten geblieben, und der mächtige Bau mit seinen langen Fensterreihen, mit dem weiten rasenbedeckten Vorplatz und dem großen waldartigen Park hob sich, etwas düster zwar, aber doch imposant aus dem Kranz der prachtvollen Wälder, die ihn umgaben.

Nach dem Tode des früheren Besitzers hatte das Schloß lange Jahre hindurch einsam und verödet gestanden. Der junge Erbe kam nur äußerst selten in Begleitung seines Vormundes dorthin und blieb stets nur wenige Wochen da. Die Einsamkeit nahm erst ein Ende, als die ehemalige Herrin von Wilicza, die jetzige verwitwete Fürstin Baratowska, wieder dort einzog. Jetzt endlich wurden die so lange verschlossenen Räume geöffnet, und die äußerst kostbare Einrichtung, mit welcher Nordeck bei seiner Vermählung Zimmer und Säle ausgestattet hatte, wurde erneuert und in ihrem ganzen früheren Glanze wiederhergestellt. Der jetzige Besitzer hatte seiner Mutter die sämtlichen Einkünfte des Schloßgutes zugewiesen, für ihn nur ein unbedeutender Teil seines Einkommens und doch hinreichend, der Fürstin und ihrem jüngsten Sohne eine standesgemäße Existenz zu sichern, so weit sie auch den Begriff »standesgemäß« auffassen mochte. Sie machte denn auch vollständig Gebrauch von den Summen, die zu ihrer Verfügung standen, und ihre Umgebung und Lebensweise wurde auf einen ähnlichen Fuß eingerichtet, wie zu jener Zeit, wo die junge Gräfin Morynska als Gebieterin in Wilicza einzog und ihr Gemahl es noch liebte, vor ihr und ihren Verwandten seinen Reichtum zur Schau zu tragen.

Es war im Anfang des Oktober; der Herbstwind strich schon rauh über die Wälder hin, deren Laub sich allmählich zu färben begann, und die Sonne kämpfte sich oft mühsam durch die dichten Nebel, welche die Landschaft einhüllten. Auch heute war es erst gegen Mittag klar geworden, und jetzt schien die Sonne hell in den Salon, der unmittelbar an das Arbeitszimmer der Fürstin stieß und den sie gewöhnlich bewohnte. Es war ein großes Gemach, hoch und etwas düster, wie die sämtlichen Räume des Schlosses, mit tiefen Fensternischen und einem mächtigen Kamin, in dem bei der herbstlichen Kühle schon ein Feuer loderte. Die schweren, dunkelgrünen Vorhänge waren weit zurückgeschlagen, und das voll hereinbringende Tageslicht zeigte die gediegene Pracht der Einrichtung, in der gleichfalls das dunkle Grün vorherrschte. Augenblicklich befanden sich nur die Fürstin und Graf Morynski dort. Der Graf kam mit seiner Tochter sehr oft von Rakowicz herüber, um dann auf Tage und Wochen Gast der Schwester zu sein, auch heute war er zu einem längeren Besuch eingetroffen. Man sah es ihm an, daß er um mehrere Jahre älter geworden war; das Haar zeigte sich stärker ergraut, und in die Stirn gruben sich noch einige Linien mehr, sonst hatte das ernste charakteristische Gesicht seinen früheren Ausdruck behalten. An der Fürstin dagegen war kaum eine Veränderung zu bemerken; die Züge der immer noch schönen Frau waren genau so kalt und stolz, die Haltung ebenso unnahbar wie früher. Obgleich sie schon nach Jahresfrist die tiefe Trauer um den verstorbenen Gemahl abgelegt hatte, trug sie doch stets noch schwarze Kleidung, und der dunkle, aber äußerst reiche Anzug kleidete die hohe Gestalt sehr vorteilhaft. Sie war in lebhaftem Gespräch mit ihrem Bruder begriffen.

»Ich begreife nicht, wie dich diese Nachricht so überraschen kann,« sagte sie. »Wir mußten längst darauf gefaßt sein. Mich wenigstens hat es stets befremdet, daß Waldemar seinen Gütern so lange und so konsequent fern blieb.«

»Ebendeshalb!« fiel der Graf ein. »Er hat Wilicza bisher in auffallender Weise gemieden; weshalb kommt er jetzt auf einmal so plötzlich, ohne jede vorherige Andeutung? Was kann er hier wollen?«

»Was sollte er anders wollen, als jagen? Du weißt, die Jagdleidenschaft hat er von seinem Vater geerbt. Ich bin überzeugt, er wählte nur deshalb die Universität von J., weil der Ort in waldiger Umgebung liegt, und ist, anstatt die Vorlesungen zu besuchen, den ganzen Tag lang mit Flinte und Jagdtasche umhergestreift. Auf seinen Reisen wird es wohl ähnlich gegangen sein. Er kennt und liebt ja nun einmal nichts andres als die Jagd.«

»Er konnte aber zu keiner schlimmeren Zeit kommen,« rief Morynski. »Gerade jetzt hängt alles davon ab, daß du unumschränkte Herrin hier bleibst. Rakowicz liegt zu weit von der Grenze; wir sind dort überall beobachtet, überall von Rücksichten eingeengt. Wir müssen die Verfügung über Wilicza behalten.«

»Das weiß ich,« erklärte die Fürstin, »und ich werde dafür sorgen, daß sie uns bleibt. Du hast recht, der Besuch kommt äußerst ungelegen, aber ich kann es meinem Sohne doch nicht verwehren, seine eigenen Güter zu betreten, wenn es ihm beliebt. Wir müssen eben größere Vorsicht beobachten.«

Der Graf machte eine Bewegung der Ungeduld. »Mit der Vorsicht allein ist es nicht gethan. Es handelt sich einfach darum, alles aufzugeben, solange Waldemar im Schlosse ist, und das können wir nicht.«

»Es ist auch nicht nötig, denn er wird wenig genug im Schlosse sein, oder ich müßte den Reiz nicht kennen, den unsre Wälder auf solch eine Nimrodsnatur ausüben. Bei Nordeck wurde diese Jagdleidenschaft schließlich zur Manie, die ihn unempfänglich für alles andre machte, und sein Sohn gleicht ihm auch darin vollkommen. Wir werden ihn nur äußerst selten zu Gesicht bekommen; er steckt den ganzen Tag im Wald und hat sicher nicht die mindeste Aufmerksamkeit für das, was in Wilicza vorgeht. Das einzige, was ihn hier möglicherweise interessiert, ist die große Waffensammlung seines Vaters, und die wollen wir ihm gern überlassen.«

Es lag eine Art von mitleidigem Spott in diesen Worten, die Stimme des Grafen dagegen verriet einiges Bedenken, als er erwiderte: »Es sind vier Jahre her, daß du Waldemar nicht gesehen hast. Freilich, du wußtest ihn schon damals ganz nach deinem Willen zu leiten, woran ich zuerst entschieden zweifelte. Hoffentlich gelingt dir das auch jetzt.«

»Ich denke,« versetzte die Fürstin mit ruhiger Zuversicht. »Übrigens ist er durchaus nicht so schwer zu leiten, wie du glaubst. Gerade sein störriger Eigenwille bildet die beste Handhabe dazu. Man muß seinem rohen Ungestüm für den Augenblick nur unbedingt nachgeben und ihn in dem Glauben erhalten, daß sein Wille unter allen Umständen respektiert wird, dann hat man ihn vollständig in der Hand. Wenn wir ihm täglich sagen, daß er unumschränkter Herr von Wilicza ist, so wird es ihm gar nicht einfallen, das auch sein zu wollen. Ich traue ihm überhaupt nicht so viel Intelligenz zu, sich um die Verhältnisse auf seinen Gütern eingehend zu kümmern. Wir können unbesorgt sein.«

»Ich muß mich dann ganz auf dein Urteil verlassen,« sagte Morynski. »Ich selbst sah ihn ja nur zweimal – wann hast du den Brief erhalten?«

»Heute morgen, eine Stunde vor deiner Ankunft. Danach können wir Waldemar jeden Tag erwarten; er war bereits auf der Reise hieher. Im übrigen schreibt er mit seiner gewöhnlichen lakonischen Kürze. Du weißt, unser Briefwechsel zeichnet sich nie durch Ausführlichkeit aus; wir haben uns stets nur das Notwendige mitgeteilt.«

Der Graf sah nachdenkend vor sich nieder. »Kommt er allein?«

»Mit seinem ehemaligen Erzieher, der sein steter Begleiter ist. Ich glaubte anfangs, der Mann werde sich benutzen lassen, um Näheres über Waldemars Thun und Treiben auf der Universität zu erfahren, täuschte mich aber darin. Ich mußte natürlich die Studien meines Sohnes zum Vorwand der Erkundigungen nehmen und erhielt nun nichts als gelehrte Abhandlungen über diese Studien selbst, nicht ein Wort von dem, was ich zu wissen wünschte; meine Fragen in dieser Hinsicht schienen gar nicht verstanden zu werden, so daß ich schließlich den unfruchtbaren Briefwechsel abbrach. Sonst ist dieser Doktor Fabian einer der harmlosesten Menschen, die existieren. Von seiner Gegenwart ist gar nichts zu besorgen und von seinem Einfluß auch nichts, denn er besitzt keinen.«

»Es handelt sich für uns auch hauptsächlich um Waldemar,« erklärte der Graf. »Wenn du also meinst, daß von seiner Seite keine störende Beobachtung zu fürchten ist –«

»Jedenfalls keine schärfere, als wir sie nun schon seit Monaten Tag für Tag erdulden,« unterbrach ihn die Schwester. »Ich dächte, der Administrator hätte uns Vorsicht gelehrt.«

»Jawohl, dieser Frank und sein ganzes Haus legen sich förmlich aufs Spionieren,« rief Morynski heftig, »Ich begreife nicht, Jadwiga, daß es dir immer noch nicht möglich ist, uns von dieser unbequemen Persönlichkeit zu befreien.«

Die Fürstin lächelte mit vollster Ueberlegenheit. »Beruhige dich, Bronislaw! Der Administrator nimmt bereits in diesen Tagen seine Entlassung. Ich konnte nicht eher gegen ihn vorgehen; er ist seit zwanzig Jahren auf seinem Posten und hat ihn stets tadellos verwaltet; mir fehlte jeder Grund, die Entlassung zu erzwingen. Ich zog es vor, ihn dahin zu bringen, daß er selbst seinen Abschied nahm, und das hat er gestern gethan, vorläufig nur mündlich, mir gegenüber, aber die formelle Kündigung wird nicht auf sich warten lassen. Ich lege Wert darauf, daß sie von seiner Seite erfolgt, zumal jetzt, wo Waldemars Ankunft bevorsteht,«

Die Züge des Grafen, die während der ganzen Unterredung unverkennbare Besorgnis ausgedrückt hatten, glätteten sich allmählich wieder. »Es war auch die höchste Zeit,« sagte er mit sichtlicher Befriedigung. »Dieser Frank fing bereits an, eine Gefahr für uns zu werden; leider müssen wir ihn noch eine Weile dulden. Sein Kontrakt lautet ja wohl auf mehrmonatliche Kündigung?«

»Allerdings, aber die Frist wird nicht eingehalten werden. Der Administrator ist längst nicht mehr von seiner Stellung abhängig. Es heißt ja, er beabsichtige, sich selbst anzukaufen; außerdem besitzt er ein starkes Unabhängigkeitsgefühl. Man ruft irgend eine Scene hervor, die seinen Stolz verletzt, und er geht sofort – dafür bürge ich. Das ist nicht schwer zu erreichen, nachdem er sich überhaupt zum Gehen entschlossen hat. – Wie, Leo, schon zurück von dem Spaziergang?«

Die letzten Worte waren an den jungen Fürsten gerichtet, der soeben eintrat und sich den beiden näherte.

»Wanda wollte nicht länger im Park bleiben,« entgegnete er. »Ich kam – aber ich störe wohl eine Beratung?« Graf Morynski erhob sich, »Wir sind zu Ende. Ich erfuhr soeben die bevorstehende Ankunft deines Bruders, und wir erörterten die unvermeidlichen Folgen. Eine derselben wird es auch sein, daß wir den diesmaligen Besuch abkürzen; wir bleiben noch morgen zu der beabsichtigten Festlichkeit, kehren aber schon am nächsten Tag nach Rakowicz zurück, ehe Waldemar eintrifft. Er kann uns doch nicht gleich als Gäste seines Hauses finden!«

»Weshalb nicht?« fragte die Fürstin ruhig, »Etwa wegen der Kinderei von damals? Wer denkt noch daran! Wanda gewiß nicht, und Waldemar – er wird doch wohl in den vier Jahren Zeit gehabt haben, die vermeintliche Beleidigung zu verschmerzen! Daß sein Herz sehr wenig beteiligt war, wissen wir ja durch Leo, dem er bereits acht Tage darauf mit der vollkommensten Ruhe erklärte, er habe die ganze Geschichte bereits vergessen, und unser Aufenthalt in Wilicza beweist am besten, daß er ihr gar keine Wichtigkeit mehr beilegt. Ich halte es für das Taktvollste und Zweckmäßigste, die Sache vollständig zu ignorieren. Wenn Wanda ihm unbefangen als seine Cousine entgegentritt, wird er sich kaum noch erinnern, daß er einst eine Knabenschwärmerei für sie hegte.«

»Vielleicht wäre es das beste,« meinte der Graf, indem er sich zum Gehen wandte. »Jedenfalls werde ich mit Wanda darüber sprechen.«

Leo hatte sich, ganz gegen seine Gewohnheit, mit keinem Wort an dem Gespräch beteiligt, und als sein Oheim das Zimmer verließ, nahm er schweigend dessen Platz ein. Er sah schon beim Eintritt äußerst erregt aus, und auch jetzt noch lag in seinen Zügen ein Ausdruck von Verstimmung, den er sich vergebens zu verbergen bemühte, die Mutter wenigstens bemerkte ihn sofort.

»Euer beabsichtigter Spaziergang wurde ja sehr schnell abgebrochen,« warf sie hin. »Wo ist denn Wanda?«

»In ihrem Zimmer – so vermute ich wenigstens.«

»Vermutest du nur? Es hat wohl wieder einmal eine Scene zwischen euch gegeben? Versuche doch nicht, mir das abzuleugnen, Leo! Dein Gesicht spricht deutlich genug davon, und außerdem weiß ich, daß du sicher nicht von Wandas Seite gehst, wenn sie dich nicht selber vertreibt.«

»Jawohl, sie findet oft ein eigenes Vergnügen darin, mich zu vertreiben,« sagte Leo mit unverstellter Bitterkeit.

»Du quälst sie aber auch oft genug mit deiner ganz unbegründeten Eifersucht auf jeden, der in ihre Nähe kommt. Ich bin überzeugt, das hat auch heute wieder den Anlaß zu eurem Streite gegeben.«

Der junge Fürst schwieg und bestätigte dadurch die Voraussetzung seiner Mutter, die jetzt mit leisem Spott fortfuhr: »Es ist doch eine alte Erfahrung: wenn eine Liebe keine Leiden hat, so schafft sie sich solche. Ihr seid in dem seltenen glücklichen Falle, ohne jedes Hindernis, mit vollster Billigung der Eltern dem Zuge eurer Herzen folgen zu dürfen, und nun macht ihr euch auf diese Weise das Leben schwer. Ich will Wanda keineswegs von der Mitschuld freisprechen. Ich bin nicht blind gegen ihre Vorzüge, die sich immer glänzender entwickeln, seit sie das Kind mit seinen Thorheiten abgelegt hat, aber was ich vom ersten Tag an, wo ich sie ihrem Vater zurückgab, fürchtete, ist leider eingetroffen. Er hat mit seiner grenzenlosen Zärtlichkeit und der Vergötterung seiner Tochter dir und mir einen schweren Stand bereitet. Wanda kennt keinen Willen als den ihrigen; sie ist gewohnt ihn überall durchzusetzen, und du lehrst sie leider auch keinen andern kennen.«

»Ich versichere dir, Mama, daß ich heute nicht sehr nachgiebig gegen Wanda war,« versetzte Leo in einem Tone, dem man noch die Gereiztheit anhörte. Die Fürstin zuckte die Achseln. »Heute vielleicht! Und morgen liegst du doch wieder vor ihr auf den Knieen und bittest sie um Verzeihung. Sie hat dich bisher noch jedesmal dazu gebracht. Wie oft soll ich dir noch klar machen, daß das nicht der Weg ist, einem so stolzen und eigenwilligen Mädchen die Achtung einzuflößen, die der künftige Gemahl unter allen Umständen beanspruchen muß.«

»Ich bin aber solcher kühlen Berechnung nicht fähig,« rief Leo leidenschaftlich. »Wo ich liebe, wo ich anbete mit aller Glut meiner Seele, da kann ich nicht immer und ewig bedenken, ob mein Benehmen auch ja dem künftigen Gemahl nichts vergibt.«

»So beklage dich auch nicht, wenn deine Leidenschaft nicht in dem Maße erwidert wird, wie du es forderst!« sagte die Fürstin kalt. »Wie ich Wanda kenne, wird sie nie den Mann lieben, der sich unbedingt ihrer Herrschaft beugt, weit eher den, der ihr Widerstand entgegensetzt. Eine Natur, wie die ihrige, will zur Liebe gezwungen sein, und das hast du bisher noch nicht verstanden.«

Er wendete sich in grollendem Unmute ab. »Ich habe ja überhaupt noch gar kein Recht auf Wandas Liebe. Es wird mir ja noch immer versagt, sie öffentlich meine Braut nennen zu dürfen; die Zeit unsrer Verbindung wird in endlose Ferne hinausgeschoben – «

»Weil jetzt nicht Zeit ist an Verlobung und Hochzeit zu denken,« unterbrach ihn die Mutter mit vollster Entschiedenheit. »Weil du jetzt andre, ernstere Aufgaben hast als die, eine junge Gemahlin anzubeten, die bei dir alles andre in den Hintergrund drängen würde. Endlose Ferne! Wo es sich um einen Aufschub von höchstens einem Jahr handelt! Verdiene dir die Braut – die Gelegenheit dazu wird nicht ausbleiben, und Wanda selbst würde sich nie entschließen, dir eher die Hand zu reichen. Aber da kommen wir auf einen andern Punkt, den ich dir nicht ersparen kann. – Leo, dein Oheim ist nicht zufrieden mit dir.«

»Hat er mich bei dir verklagt?« fragte der junge Mann mit einem finsteren Aufblicke.

»Er mußte es leider. Soll ich dich erst daran erinnern, daß du dem älteren Verwandten, dem Führer, unter allen Umständen Gehorsam schuldig bist? Statt dessen bereitest du ihm unnötige Schwierigkeiten, trittst an der Spitze von mehreren deiner Altersgenossen in offene Opposition gegen ihn – was soll das heißen?«

Auf dem Gesichte Leos lag ein Ausdruck von starrem Trotz, als er antwortete: »Wir sind keine Kinder mehr, die sich willenlos leiten lassen. Wenn wir auch die Jüngeren sind, das Recht einer eigenen Meinung wird uns doch wohl zugestanden werden, und wir ertragen nun einmal nicht dieses ewige Zögern und Bedenken, mit dem man uns zurückhält.«

»Denkst du, mein Bruder werde sich von euch jugendlichen Heißspornen auf Bahnen fortreißen lassen, die er für verderblich erkennt?« fragte die Fürstin mit vollster Schärfe. »Da irrt ihr sehr. Es wird ihm schon schwer genug, alle die widerstrebenden Elemente im Zügel zu halten, und nun muß er es erleben, daß sein eigener Neffe das Beispiel des Ungehorsams gibt.«

»Ich habe nur widersprochen, nichts weiter,« verteidigte sich der junge Fürst. »Ich ehre und liebe Morynski gewiß als deinen Bruder und mehr noch als den Vater Wandas, aber es kränkt mich, daß er mir so gar keine Selbständigkeit zugestehen will. Du selbst wiederholst mir oft genug, daß mein Name, meine Abkunft mich zu der ersten Stelle berechtigen, und der Onkel verlangt von mir, mich mit einer untergeordneten zu begnügen.«

»Weil er es noch nicht wagen darf, einem einundzwanzigjährigen Feuerkopfe Entscheidendes anzuvertrauen. Du verkennst deinen Oheim vollständig. Ihm ist der eigene Erbe versagt geblieben, und wie sehr auch Wanda sein Abgott sein mag, die Hoffnungen, die ihm nur ein Sohn verwirklichen kann, sie ruhen doch einzig in dir, der ja auch seinem Blute entstammt und in kurzem sein Sohn heißen wird. Wenn er es für den Augenblick noch für notwendig hält, dich zu zügeln, für die Zukunft rechnet er doch ganz auf deine junge, frische Kraft, wo die seinige schon zu ermatten beginnt. Ich habe sein Wort, daß wenn es zur Entscheidung kommt, Fürst Leo Baratowski die ihm gebührende Stellung einnehmen wird – wir hoffen beide, du werdest dich dessen würdig zeigen.«

»Zweifelt ihr daran?« rief Leo aufspringend mit flammenden Augen,

Die Mutter legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm. »An deinem Mute gewiß nicht. Was dir fehlt ist die Besonnenheit, und ich fürchte, du wirst sie nie lernen, denn du hast das Temperament deines Vaters. Auch Baratowski flammte stets so leidenschaftlich auf, ohne nach Schranken und Möglichkeiten zu fragen, und das brachte ihm und mir oft genug Unheil, Aber du bist doch auch mein Sohn, Leo, und ich denke, etwas wirst du auch von deiner Mutter geerbt haben. Ich habe mich bei meinem Bruder dafür verbürgt – an dir ist es, die Bürgschaft einzulösen.«

Es lag in den Worten, trotz ihres tiefen Ernstes, ein solcher Mutterstolz, daß Leo in aufwallender Empfindung sich an ihre Brust warf. Die Fürstin lächelte; sie war nur selten weichen Regungen zugänglich, in diesem Augenblicke aber sprach doch die ganze Zärtlichkeit der Mutter aus ihrem Blick und ihrem Ton, als sie, die Umarmung des Sohnes erwidernd, sagte: »Was ich für Hoffnungen auf deine Zukunft setze, mein Leo, das brauche ich dir nicht erst zu wiederholen, du hast es oft von mir gehört, bist du doch von jeher mein einziger, mein alles gewesen.«

»Dein einziger?« mahnte der junge Fürst mit leisem Vorwurfe. »Und mein Bruder?«

»Waldemar!« Die Fürstin richtete sich empor; bei dem Namen schwand auf einmal alle Weichheit aus ihren Zügen, alle Zärtlichkeit aus ihrer Stimme. Ihr Antlitz wurde wieder streng und ernst wie vorhin, und ihr Ton klang eisig kalt, als sie fortfuhr: »Ja, freilich, ihn hatte ich vergessen. Das Schicksal hat ihn nun einmal zum Herrn von Wilicza gemacht – wir werden ihn ertragen müssen.«


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