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Das Boot, in welchem sich Waldemar und die junge Gräfin Morynska befanden, flog mit vollem Segel dahin. Die See war heute ziemlich bewegt; die Wellen, die das Schiffchen durchfurchte, brachen sich schäumend am Kiele und spritzten auch wohl über Bord, was die beiden Insassen aber wenig kümmerte. Waldemar saß am Steuer, mit einer Ruhe, die bewies, daß er der Führung unter allen Umständen Herr war, und Wanda, die ihm gegenüber im Schatten des Segels Platz genommen hatte, schien an der schwebend schnellen Fahrt große Freude zu haben.
»Leo wird uns bei der Tante verklagen,« sagte sie, nach dem Lande zurückblickend, von dem sie schon eine Strecke entfernt waren. »Er ging in vollem Zorne fort. Sie waren aber auch sehr unfreundlich gegen ihn, Waldemar,«
»Ich leide nicht, daß ein andrer das Steuer in Händen hat, wenn ich im Boote bin,« antwortete er kurz und herrisch.
»Und wenn ich es nun haben wollte?« fragte Wanda neckend.
Er gab keine Antwort, aber er stand sofort auf und bot ihr schweigend das Steuer. Die junge Gräfin lachte.
»O, nicht doch. Es war nur eine Frage. Ich habe kein Vergnügen an der Fahrt, wenn ich fortwährend auf das Lenken achten muß.«
Ohne ein Wort zu sagen, nahm Waldemar das Steuer wieder zur Hand, das allerdings den ersten Anlaß zum Streit zwischen ihm und Leo gegeben hatte, wenn der eigentliche Grund auch anderswo lag.
»Wohin segeln wir denn eigentlich?« nahm Wanda nach einem kurzen Schweigen wieder das Wort,
»Ich denke, nach dem Buchenholm. Es war ja verabredet.«
»Wird das für heute nicht zu weit sein?« fragte die junge Dame ein wenig bedenklich.
»Bei dem günstigen Wind sind wir in einer halben Stunde dort,« sagte Waldemar, »und wenn ich später die Ruder tüchtig einlege, brauchen wir kaum mehr Zeit zur Rückkehr, Sie wollten ja den Sonnenuntergang einmal vom Buchenholm aus sehen.« Wanda widersprach nicht länger, obgleich sie ein unbestimmtes Gefühl von Bangigkeit überkam. Sonst war Leo der stete Begleiter der beiden auf allen Spaziergängen und Ausflügen; zum erstenmal befanden sie sich allein miteinander. So jung Wanda auch noch war, sie hätte keine Frau sein müssen, um nicht schon bei dem zweiten Besuch Waldemars zu entdecken, was ihn bei dem ersten so seltsam scheu und verlegen gemacht hatte. Er war nicht fähig, sich zu verstellen, und seine Augen redeten eine nur allzu deutliche Sprache, obgleich er sich noch mit keinem Wort verraten hatte. Er war gegen Wanda noch einsilbiger und zurückhaltender als gegen andre, aber trotzdem kannte sie ihre Macht über ihn hinreichend und wußte sie zu brauchen, mißbrauchte sie wohl auch gelegentlich einmal, denn ihr war die Sache in der That nur ein Spiel, nichts weiter. Es machte ihr Vergnügen, daß sie diese starre unbändige Natur mit einem Wort, ja mit einem einzigen Blick lenken konnte; es schmeichelte ihr, Gegenstand einer zwar meist stummen und seltsamen, aber doch leidenschaftlichen Huldigung zu sein, und vor allem machte es ihr Spaß, daß sich Leo darüber ärgerte. Seinem älteren Bruder den Vorzug zu geben, fiel ihr in Wirklichkeit gar nicht ein, denn Waldemars ganzes Wesen war ihr im höchsten Grad zuwider. Sie fand sein Aeußeres abstoßend, seine Formlosigkeit entsetzlich und seine Unterhaltung langweilig. Auch hatte die Liebe den jungen Nordeck nicht liebenswürdiger gemacht. Er zeigte nie jene ritterliche Artigkeit, in der Leo, trotz seiner Jugend, schon Meister war. Er schien sich im Gegenteil nur widerwillig dem Zauber zu beugen, dem er doch nicht mehr entfliehen konnte, und gleichwohl gab sein ganzes Wesen Zeugnis davon, mit welcher unwiderstehlichen Gewalt ihn die erste Leidenschaft gefangen genommen hatte.
Der Buchenholm mochte früher wirklich eine kleine Insel gewesen sein; der Name deutete noch darauf hin, jetzt war er nur noch eine dichtbewaldete Anhöhe, die durch einen schmalen Landstreifen, eine Art Dünenzug, mit dem Ufer zusammenhing, von wo aus man ihn zu Fuß erreichen konnte. Der Ort wurde trotz seiner Schönheit nur wenig besucht; er war zu einsam und abgelegen für die glänzende und zerstreuungssüchtige Badegesellschaft von C., die ihre Ausflüge meist nach den benachbarten Stranddörfern richtete. Auch heute befand sich niemand auf dem Holm, als das Boot landete. Waldemar stieg aus, während seine junge Begleiterin, ohne seine Hilfe abzuwarten, leichtfüßig auf den weißen Sand des Ufers sprang und dann die Anhöhe hinaufeilte.
Der Buchenholm führte seinen Namen mit Recht. Der ganze Wald, der sich fast eine Meile lang am Strand hinzog, zeigte nicht so viele und prachtvolle Bäume dieser Art, wie sie hier auf diesem Fleckchen Erde vereint standen. Es waren mächtige, uralte Buchen, die ihre riesigen Aeste weithin über den grünen Rasen ausbreiteten und über die grauen verwitterten Steintrümmer, die hier und da zerstreut lagen – der Sage nach die Ueberreste einer alten heidnischen Opferstätte. An der Landungsstelle traten die Bäume zu beiden Seiten zurück, und wie in einem Rahmen lag das weite Meer da. Tiefblau dehnte sich die unabsehbare Fläche aus, kein Ufer, keine Insel begrenzte den Blick, kein Segel tauchte am Horizont auf, nichts als das Meer in seiner ganzen Schönheit, und der Buchenholm lag so einsam und weltverloren da, als sei er wirklich ein kleines Eiland mitten im Ozean.
Wanda hatte ihren Strohhut abgenommen, um den sich nur ein einfaches schwarzes Band schlang, und ließ sich jetzt auf einem der moosbewachsenen Steine nieder. Sie trug noch teilweise die Trauer um den verstorbenen Fürsten Baratowski; das weiße Kleid zeigte als einzigen Schmuck einige schwarze Schleifen, und die schweren Enden der gleichfalls schwarzen Schärpe fielen an der Seite nieder. Diese Totenfarbe auf dem weißen Gewand gab der Erscheinung des jungen Mädchens etwas Ernstes, Schwermütiges, das ihr sonst gar nicht eigen war; sie sah unendlich reizend aus, als sie so, mit leicht verschlungenen Händen, dasaß und auf das Meer hinausblickte.
Waldemar, der an ihrer Seite auf den riesigen Wurzeln einer Buche Platz genommen hatte, schien das auch zu finden, denn er unterhielt sich ausschließlich damit, sie anzusehen. Die ganze übrige Umgebung existierte für ihn nicht, und er schreckte wie aus einem Traum empor, als Wanda auf ihren Steinsitz deutete und dabei scherzend fragte:
»Ist das vielleicht einer von Ihren alten Runensteinen?«
Waldemar zuckte die Achseln. »Da müssen Sie meinen Lehrer, den Doktor Fabian, fragen,« entgegnete er. »Der ist in den ersten Jahrhunderten unsrer Zeitrechnung besser zu Hause als in den jetzigen. Er würde Ihnen einen sehr gelehrten und ausführlichen Vortrag über Runensteine, Hünengräber und dergleichen halten; es wäre sein höchster Genuß, das zu thun,«
»Um Gottes willen nicht!« lachte Wanda. »Aber wenn Doktor Fabian solche Begeisterung für die Vorzeit hegt, dann wundert es mich, daß er nicht auch Ihnen den Geschmack daran beigebracht hat. Mir scheint, Sie sind sehr gleichgültig dagegen,«
Der junge Mann machte eine verächtliche Miene. »Was kümmern mich diese Altertumsgeschichten! Mich interessieren Wald und Felder nur wegen der Jagd, die sie mir bieten,«
»Wie prosaisch!« rief Wand« entrüstet, »Also nur Ihre Jagdgeschichten haben Sie im Kopf? Und hier auf dem Buchenholm denken Sie wohl auch an die Rehe und Hasen, die er möglicherweise bergen könnte?«
»Nein,« sagte Waldemar langsam, »hier nicht.«
»Es wäre auch unverzeihlich in dieser Umgebung, Sehen Sie nur diese Abendbeleuchtung! Dort drüben scheint die Flut förmlich zu strahlen.«
Waldemar folgte gleichgültig der Richtung ihrer Hand. »Jawohl – dort soll ja auch Vineta versunken sein,«
»Was ist dort versunken?« fragte die junge Dame, sich lebhaft umwendend.
»Haben Sie noch nichts davon gehört? Es ist eine unsrer Meeressagen; ich glaubte, Sie kennten sie bereits,«
»Nein. Erzählen Sie!«
»Ich bin ein schlechter Märchenerzähler,« sagte Waldemar abwehrend. »Fragen Sie unser Strandvolk danach! Jeder alte Schiffer weiß Ihnen das besser und ausführlicher zu berichten als ich.«
»Ich will es aber aus Ihrem Mund hören,« beharrte Wanda. »Also erzählen Sie!«
Auf der Stirn Waldemars zeigte sich eine Falte – der Befehl klang auch gar zu gebieterisch.
»Sie wollen?« wiederholte er mit einiger Schärfe,
Wanda sah recht gut, daß er verletzt war, aber sie pochte auf eine Macht, die sie während der letzten Wochen oft genug erprobt hatte. »Jawohl, ich will,« erklärte sie mit der gleichen Bestimmtheit wie vorher.
Die Falte auf der Stirn des jungen Mannes vertiefte sich. Es war wieder einer jener Momente, wo er sich trotzig gegen den Zauber aufbäumte, der ihn in Fesseln gelegt hatte, aber jetzt begegnete er den dunkeln Augen, die den Befehl in eine Bitte umzuwandeln schienen, und vorbei war es mit Trotz und Widerstand – seine Stirn glättete sich; er lächelte.
»Nun denn also, wie ich es geben kann, kurz und – prosaisch,« sagte er, das letzte Wort betonend. »Vineta soll, der Sage nach, eine alte Meeresfeste gewesen sein, die Hauptstadt der damaligen Bevölkerung, die das Meer und die Küsten ringsum beherrschte und an Glanz und Pracht ihresgleichen suchte, während ihr aus allen Ländern unermeßliche Schätze zuströmten. Aber Hochmut und Sünden ihrer Bewohner riefen das Strafgericht des Himmels auf sie herab, und sie ward von den Fluten verschlungen. Unsre Schiffer schwören noch heute darauf, daß dort drüben, wo das Ufer so weit zurücktritt, die Feste Vineta unversehrt auf dem Meeresgrunde ruht. Sie wollen unter dem Wasser oft die Türme und Kuppeln erblicken, die Glocken läuten hören, und bisweilen, in gewissen Zauberstunden, soll die ganze Wunderstadt wieder heraufsteigen aus der Tiefe und sich dem besonders Begnadeten zeigen – es gibt ja Luftspiegelungen genug auf dem Meer, und wir haben hier im Norden auch eine Art von Fata Morgana, wenn auch freilich äußerst selten –«
»So erlassen Sie mir doch die nüchterne Erklärung!« unterbrach ihn Wanda ungeduldig. »Wer fragt danach, wenn die Sage nur schön ist, und wunderschön ist sie. Finden Sie das nicht auch?«
»Ich weiß nicht,« versetzte Waldemar in einiger Verlegenheit. »Ich habe eigentlich noch nie darüber nachgedacht.«
»Aber haben Sie denn ganz und gar keine Empfindung für Poesie?« rief die junge Gräfin verzweiflungsvoll. »Das ist ja entsetzlich.«
Er schaute sie betreten an. »Finden Sie das wirklich so entsetzlich?«
»Gewiß!«
»Mich hat aber nie jemand gelehrt, die Poesie zu verstehen,« sagte der junge Mann, wie im Tone der Entschuldigung. »Im Hause meines Onkels weiß man nichts davon, und meine Lehrer haben mir nur immer trockene Unterrichtsstunden gegeben – ich fange erst jetzt an zu begreifen, daß es überhaupt eine Poesie gibt.«
Die letzten Worte hatten einen beinahe träumerischen Ausdruck, den Waldemar sonst niemals zeigte. Er warf das Haar zurück, das ihm wie gewöhnlich tief in die Stirn herabfiel, und lehnte den Kopf an den Stamm der Buche. Wanda machte zum erstenmal die Entdeckung, daß es eine merkwürdig hohe und schön gewölbte Stirn war, die sich da unter dem blonden Haargewirr barg. Jetzt, wo sie sich frei und unbedeckt zeigte, schien sie das unschöne und unregelmäßige Gesicht förmlich zu adeln. An den linken Schläfen lief eine eigentümlich gezeichnete blaue Ader hin, die selbst im Moment der Ruhe scharf und deutlich hervortrat; die junge Gräfin hatte sie noch niemals bemerkt unter der »ungeheuren gelben Löwenmähne«, die ihr stets ein Gegenstand des Spottes war.
»Wissen Sie, Waldemar, daß ich soeben etwas entdeckt habe?« fragte sie neckend.
»Nun?« fragte er zurück, ohne seine Stellung zu verändern.
»Die seltsame blaue Ader da an Ihrer Stirn – die Tante trägt sie gleichfalls an den Schläfen, genau an derselben Stelle und genau ebenso gezeichnet, nur schwächer.«
»Wirklich? Nun, das ist wohl auch das einzige, was ich von meiner Mutter habe.«
»Ja, es ist wahr, Sie ähneln ihr nicht im mindesten,« meinte Wanda unbefangen. »Und Leo gleicht ihr doch zum Sprechen.«
»Leo!« wiederholte Waldemar mit eigentümlicher Betonung. »Ja freilich Leo! Das ist auch etwas andres.«
Wanda lachte. »Weshalb? Soll der jüngere Bruder darin etwas vor dem älteren voraus haben?«
»Warum nicht? Hat er doch die Liebe der Mutter vor ihm voraus – ich dächte, das wäre genug.«
»Aber Waldemar!« warf die junge Gräfin ein.
»Ist Ihnen das neu?« fragte er mit einem finsteren Aufblick. »Ich dächte, es könnte für keinen dritten ein Geheimnis mehr sein, wie ich mit meiner Mutter stehe. Sie zwingt sich, freundlich gegen mich zu sein, o ja! und das mag ihr oft Mühe genug kosten, aber sie kann die innere Abneigung nun einmal nicht überwinden, und ich kann´s auch nicht – also haben wir uns beide nichts vorzuwerfen.«
Wanda schwieg betreten. Die Wendung, die das Gespräch nahm, befremdete sie im höchsten Grad. Waldemar schien das nicht zu bemerken; er fuhr in herbem Ton fort:
»Die Fürstin Baratowska ist und bleibt mir fremd. Ich gehöre nicht zu ihr und ihrem Sohne, das fühle ich bei jeder neuen Begegnung. Sie ahnen nicht, Wanda, was es mich kostet, immer wieder diese Schwelle zu betreten, immer wieder dieses Zusammensein zu ertragen. Es ist eine wahre Folter, die ich mir auferlege, und ich habe nie geglaubt, daß ich sie so geduldig aushalten würde.«
»Aber weshalb thun Sie es denn?« rief Wanda unvorsichtig. »Es zwingt Sie ja niemand dazu!«
Er sah sie an. Die Antwort lag in seinen Augen, lag so deutlich darin, daß das junge Mädchen bis an die Stirn errötete. Der heiße, vorwurfsvolle Blick sprach auch gar zu deutlich.
»Sie thun der Tante unrecht,« versetzte sie rasch, wie um ihre Verwirrung zu verbergen. »Sie muß und wird doch ihren eigenen Sohn lieben.«
»O gewiß!« Die Bitterkeit Waldemars ließ sich jetzt nicht länger bewältigen. »Ich bin überzeugt, daß sie Leo sehr liebt, trotz ihrer Strenge gegen ihn, aber weshalb sollte sie mich lieben, oder ich sie? Ich hatte kaum die ersten Lebensjahre hinter mir, da verlor ich Vater und Mutter zugleich. Da wurde ich fortgerissen aus der Heimat, um im fremden Hause aufzuwachsen. Als ich später denken und fragen lernte, da vernahm ich, daß die Ehe meiner Eltern ein Unglück gewesen war, ein Unglück für beide, daß sie sich im bittersten Haß voneinander losgerissen hatten, und ich habe es erfahren, wie dieser Haß über Tod und Grab hinaus noch in mein Leben eingriff. Man sagte mir, die Mutter sei an allem schuld gewesen, und doch hörte ich so manche Aeußerung, so manche Andeutung über den Vater, die mich auch an ihm irre machte. Wo andre Kinder lieben und verehren dürfen, da wurden mir Argwohn und Mißtrauen eingeflößt – ich kann sie jetzt nicht wieder los werden. Der Onkel ist gut gegen mich gewesen; er hat mich auch lieb in seiner Weise, aber er konnte mir doch auch nichts andres bieten, als das Leben, das er selbst führt. Sie werden es ja wohl zur Genüge kennen; ich glaube, man ist bei meiner Mutter sehr genau darüber unterrichtet – und da verlangen Sie von mir, Wanda, ich soll die Poesie kennen?«
Die letzten Worte klangen wie ein grollender Vorwurf, und doch barg sich tief dahinter etwas wie eine dumpfe Klage. Wanda blickte mit großen erstaunten Augen auf ihren Begleiter, den sie heute gar nicht wiedererkannte. Es war freilich das erste Mal, daß sie in ein ernstes Gespräch mit ihm geriet, daß er seine einsilbige Zurückhaltung ihr gegenüber aufgab. Auch ihr war das eigentümlich kalte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nicht entgangen, aber sie hatte nicht geglaubt, daß dieser überhaupt eine Empfindung dafür habe; hatte er doch bisher mit keiner Silbe darauf hingedeutet, und nun auf einmal verriet er eine fast leidenschaftliche Kränkung darüber. Dem jungen Mädchen kam erst in dieser Stunde eine Ahnung davon, wie einsam, wie grenzenlos leer und öde die Jugend Waldemars gewesen sein mußte, und wie verlassen und freundlos der junge Erbe, dessen Reichtum sie so oft hatte preisen hören.
»Sie wollten ja den Sonnenuntergang sehen,« sagte Waldemar plötzlich abbrechend, in ganz verändertem Ton, indem er sich erhob und an ihre Seite trat. »Ich glaube, wir haben ihn heute in seltener Pracht.«
Das Gewölk, das den Horizont umsäumte, war in der That schon von roter Glut umflossen, und die Sonne selbst sank in voller Klarheit dem Meere zu, das seltsam aufleuchtete, als es den Abschiedsgruß des scheidenden Gestirns empfing. Eine Flut von Glanz und Licht schien darüber hinzuströmen und sich weithin zu verbreiten. Dort drüben aber, wo Vineta auf dem Meeresgrund ruhte, brannten die Wellen in dunklem Purpurscheine; in ihren Furchen glänzte es wie flüssiges Gold und Tausende von strahlenden Funken tanzten darüber hin. Es liegt doch etwas in den alten Sagen, was sie weit hinaushebt über den Aberglauben, und man kann ein Kind der neuen Zeit sein und doch voll und ganz die Märchenstunde erleben, in der das alles wieder lebendig wird. Es waren ja Menschen, welche die Sagen schufen, und ihre ewigen Rätsel, wie ihre ewigen Wahrheiten ruhen noch heute tief in der Menschenbrust. Freilich nicht jedem öffnet sich das jetzt so streng verschlossene Märchenreich, aber die beiden auf dem Buchenholm mußten wohl zu den besonders Begünstigten gehören, denn sie fühlten deutlich den Zauber, der sie leise, aber unwiderstehlich in seine Kreise zog, und keines hatte den Mut oder den Willen, sich ihm zu entreißen.
Ueber ihren Häuptern rauschten die Buchenwipfel im Winde, und noch lauter rauschte das Meer zu ihren Füßen. Woge auf Woge kam an das Ufer gerollt; die weißen Schaumkronen auf den Häuptern, bäumten sie sich einen Moment lang empor, um dann zischend am Strande zu zerschellen. Es war die alte mächtige Melodie des Meeres, jene aus Windesrauschen und Wellenbrausen gewobene Melodie, die mit ihrer urewigen Frische jedes Herz gefangen nimmt. Sie singt von träumender, sonnenbeglänzter Meeresstille, von Sturmestoben mit all seinem Schrecken und Verderben, von rastlosem, endlosem Wogen und Leben, und jede Welle bringt einen Ton davon ans Ufer, und jeder Windhauch bringt den Accord dazu.
Waldemar und seine jugendliche Gefährtin mußten diese Sprache wohl verstehen, denn sie lauschten ihr in atemlosem Schweigen, und für sie klang auch noch etwas andres mit hindurch. Aus der Tiefe der Flut schwebten die Glockenklänge zu ihnen empor, und es legte sich ihnen um das Herz, wie Schmerz und Sehnsucht, und doch wieder wie die Ahnung eines unendlichen Glückes. Den purpurnen Wellen aber entstieg ein schimmerndes Luftgebild. Es schwebte auf dem Meer; es zerstoß im Sonnengold und stand doch klar und leuchtend da, eine ganze Welt voll unermessener, nie gekannter Schätze, von ihrem Zauberglanz umwoben, die alte Wunderstadt – Vineta. Der glühende Sonnenball schien jetzt mit seinem strahlenden Rande die Flut zu berühren; tief und tiefer sinkend, entschwand er langsam den Blicken; noch einmal flammte es am Horizont auf, wie mit feuriger Lohe – dann war das Licht verschwunden, und auch das dunkle Rot, das noch auf dem Wasser lagerte, begann allmählich zu verblassen.
Wanda atmete tief auf und fuhr mit der Hand über die Stirn. »Die Sonne ist nieder,« sagte sie leise, »wir werden an die Rückkehr denken müssen.«
»An die Rückkehr!« wiederholte Waldemar wie im Traum. »Schon jetzt?«
Das junge Mädchen erhob sich rasch, als gelte es irgend einer beängstigenden Empfindung zu entfliehen. »Das Tageslicht bleibt nicht mehr allzulange, und wir müssen jedenfalls bei anbrechender Dämmerung in C. sein, sonst verzeiht uns die Tante nie diese eigenmächtige Fahrt.«
»Das werde ich bei meiner Mutter vertreten,« sagte Waldemar, auch er schien sich zu den gleichgültigen Worten förmlich zwingen zu müssen, »wenn Sie aber die Rückkehr wünschen –«
»Ich bitte darum.«
Der junge Mann machte eine Wendung nach dem Boote hin, auf einmal hielt er inne.
»Sie wollen ja wohl fort, Wanda? Schon in wenigen Tagen? Nicht wahr?«
Die Frage klang seltsam erregt, und auch in der Stimme der jungen Gräfin lag nicht die gewöhnliche Unbefangenheit, als sie antwortete:
»Ich muß zu meinem Vater; er entbehrt mich schon so lange.«
»Meine Mutter und Leo gehen nach Wilicza –« Waldemar stockte bei den Worten, als ob ihm irgend etwas den Atem benehme. »Es ist die Rede davon, daß ich sie begleite – darf ich das?«
»Weshalb fragen Sie mich danach?« fragte Wanda mit einer ihr sonst ganz fremden Befangenheit. »Es hängt doch einzig von Ihnen ab, ob Sie Ihre Güter besuchen wollen.«
Der junge Mann beachtete den Einwurf nicht; er beugte sich zu ihr nieder; seine Stimme bebte in leidenschaftlicher Unruhe.
»Ich frage aber Sie, Wanda, Sie allein – darf ich nach Wilicza kommen?«
»Ja!« fiel es unwillkürlich von Wandas Lippen, aber in demselben Augenblick erschrak sie auch darüber, denn Waldemar hatte mit einer stürmischen Bewegung ihre Hand ergriffen und hielt sie so fest, als sei es für die Ewigkeit. Die junge Gräfin fühlte, was er in dieses »Ja« hineinlegte, und das machte sie bestürzt. Es überkam sie auf einmal eine heiße Angst. Waldemar bemerkte ihr Zurückweichen.
»Bin ich Ihnen wieder zu ungestüm?« fragte er leise. »Sie dürfen mir darüber nicht böse sein, Wanda, heute nicht. Ich konnte nur den Gedanken an Ihre Entfernung nicht ertragen. Jetzt weiß ich's ja, daß ich Sie wiedersehen darf – jetzt will ich geduldig warten, bis wir in Wilicza sind.«
Sie gab keine Antwort. Schweigend gingen beide nach dem Boote hinunter. Waldemar richtete die Segel und legte die Ruder ein, und einige mächtige Stöße trieben das kleine Fahrzeug weit hinaus in die See. Noch lag ein leiser Rosenschimmer auf den Wellen, als das Boot darüber hinglitt. Niemand sprach auf der Fahrt, nur das Meer rauschte eintönig, während das letzte flüchtige Rot am Himmel verblaßte und die ersten Schatten der Dämmerung sich über den Buchenholm legten, der weit und weiter zurückwich. Der Traum beim Sonnenuntergang war zu Ende, aber die alte Sage, die ihn gesponnen, erzählt auch, daß, wer einmal das versunkene Vineta geschaut, einmal seinen Glockenklängen gelauscht habe, den lasse die Sehnsucht danach nicht ruhen sein Leben lang, bis die alte Wunderstadt wieder zu ihm emporsteigt – oder bis sie ihn hinabzieht in die Tiefe.